Queeste. Tijdschrift over middeleeuwse letterkunde in de Nederlanden. Jaargang 2006
(2006)– [tijdschrift] Queeste– Auteursrechtelijk beschermd
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Deutsch-niederländische Anregungen
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sicherlich dem größeren Umfang der alt- und mittelhochdeutschen Literatur geschuldet, meist auf mehrere, von unterschiedlichen Autoren verfasste Bände angelegt sind (eine Ausnahme bilden lediglich Wehrlis Literaturgeschichte sowie der kurze Abriss von Brunner), umfasst Van Oostroms Überblick nur einen einzigen, dazu noch von einem Autor geschriebenen Band. Das kommt der thematischen Geschlossenheit und der Stringenz des Unternehmens sehr zugute. So kann Van Oostrom beispielsweise in sämtlichen Kapiteln seiner Literaturgeschichte auf sein - bereits im Titel Stemmen op Schrift anklingendes - zentrales Anliegen des langsam voranschreitenden, aber gleichwohl komplizierten Medienwandels von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zu sprechen kommen. Stemmen op Schrift lässt sich von daher auch als Geschichte dieses Medienwandels lesen und präsentiert sich so als ein Überblickswerk, das nicht einfach nur chronologisch die wichtigsten Texte und Autoren abschreitet, sondern gleichzeitig eines der wichtigen neueren Forschungsparadigmen anschaulich thematisiert. Wie alle volkssprachigen Literaturen des europäischen Mittelalters beginnt ebenfalls die niederländische mühsam und zu Anfang eher zufällig, oft als Hilfskonstruktion für das Verstehen der alles überragenden lateinischen Literatur. Selten dürfte diese erste und besonders komplizierte Phase entstehender Schriftlichkeit in der Volkssprache so interessant geschildert worden sein wie hier am Beispiel der niederländischen Literatur. Vergleicht man die althochdeutschen und die altniederländischen Literaturdenkmäler aus jener frühen Zeit, so fällt auf, dass die deutschen zum einen älter sind und zum anderen, insbesondere bei den Glossen, die niederländischen Zeugnisse bei weitem überwiegen. Van Oostrom vermerkt dies sehr genau (S. 54f.), weiß aber keine überzeugende Erklärung dafür zu nennen. Die Germanistik kennt seit langem ein analoges Problem, da ebenfalls die im hochdeutschen Sprachraum entstandenen althochdeutschen und mittelhochdeutschen Textzeugnisse die im niederdeutschen Gebiet entstandenen altsächsischen und mittelniederdeutschen Literaturdenkmäler quantitativ bei weitem übertreffen. Auch hier mangelt es an einer gänzlich überzeugenden These für jene Diskrepanz. Eine Teilerklärung scheint immerhin in den zahlreichen Klosterauflösungen und den damit einhergehenden Zerstreuungen alter Bibliotheksbestände zu liegen, die die niederdeutschen und die heutigen niederländischen Gebiete sehr viel stärker betrafen als die hochdeutschen und die heutigen belgischen. Die gewaltigen Unterschiede im Bestand der erhaltenen Textdenkmäler vermag jedoch auch diese Überlegung nicht restlos zu deuten. Angesichts einer vergleichbaren Überlieferungssituation im Bereich der niederländischen und der niederdeutschen Literatur des Mittelalters, die sich von der Überlieferungslage im hochdeutschen Sprachraum signifikant unterscheidet, ergibt sich hier eines der zahlreichen Berührungsfelder, die von der Germanistik und der Niederlandistik gemeinsam bearbeitet werden sollten. Dies gilt ähnlich für die Diskussion der Erzählmuster in der Heldenepik, mit der man zum Zentrum des für Van Oostrom so wichtigen medialen Wandels vorstößt. Aus germanistischem Blickwinkel besonders interessant sind dabei die niederländische Fassung des Nibelungenliedes und der altsächsische Heliand. Dabei verdankt sich die auf den ersten Blick vielleicht etwas überraschende Aufnahme des einigermaßen sicher auf nie- | ||||||||||||||||||||||||
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derdeutschem, genauer auf altsächsischem Sprachgebiet entstandenen Heliand in eine Geschichte der niederländischen Literatur dem Umstand, dass einige Überlieferungszeugnisse dieses ‘oral epos’, wie Van Oostrom es bezeichnet (S. 79), mit niederfränkischen Sprachelementen durchsetzt sind und die heute vollständigste Handschrift (Hs. C) in Südwestengland, möglicherweise auch in Brabant geschrieben worden sein könnte. Eine daraus ableitbare Rezeption im niederfränkischen oder im angelsächsischen Raum lässt die postulierte Primärfunktion jenes altsächsischen Christuslebens, das durch seine stabreimenden Langzeilen wie durch seine Bildsprache älteren, für uns verlorenen Heldenliedern verpflichtet ist, allerdings zweifelhaft erscheinen. Denn der vor allem in der älteren Forschung meist erwähnte missionarische Impetus eines im 9. Jahrhundert in sächsischer Sprache verfassten Werks, das die gerade erst gewaltsam zum Christentum bekehrten Sachsen in mündlichenVorträgen nach Art der ihnen bekannten Heldenlieder mit den Fundamenten des neuen Glaubens habe vertraut machen wollen, gilt für das schon länger christianisierte niederfränkische und angelsächsische Gebiet sicherlich nicht. Zur Vorstellung eines genuin und ausschließlich mündlichen Vortragscharakters des Heliand, der in dieser Vortragsform quasi zur Schrift geronnen sei, passt im Übrigen auch schlecht das avanciert buchepische Layout der Heliand-Handschriften, deren einzelne Abschnitte (die sogenannten Fitten) nicht nur jeweils durch farbig ausgezeichnete Initialen markiert sind, sondern, wie dies die in anderen Zusammenhängen überlieferte lateinische (!) praefatio auch verzeichnet, die Fitten (in der Hs. C) durchnummeriert und so zu einem perikopenartigen Gliederungssystem werden lässt. Auch die ausgezeichnete theologische Bildung, über die der Heliand-Autor offenbar verfügte und die er in sein Werk einfließen ließ, verweist darauf, dass dieser Text kaum ausschließlich zu Missionszwecken gedient haben dürfte. Das Publikum des Heliand wird man sich dann auch ebenso gut im Umfeld des sächsischen Adels vorzustellen haben wie im Umkreis von Klöstern, wo der Heliand zweifelsfrei entstanden ist und für die ‘illitterati’ unter den Brüdern (und Schwestern) in ‘lectiones’ vorgetragen worden sein könnte. Ganz auszuschließen ist freilich auch eine Lektüre des Heliand durch schriftkundige ‘litterati’ nicht, spricht doch die praefatio explizit vom studiosus lector, den sie dem Buchepos als Rezipient wünscht. Die Gleichung: frühe volkssprachige Literatur=mündlich und späte volkssprachige Literatur=schriftlich geht demnach nicht immer ganz glatt auf, das Verhältnis von ‘stemmen’ und ‘schrift’ ist kompliziert und bedarf in jedem Fall genauer Einzeluntersuchungen.Ga naar voetnoot2 Kompliziert ist es auch im Fall des wohl bekanntesten mittelalterlichen deutschen Textes, des Nibelungenliedes und seiner mittelniederländischen Fassung, dem Nevelingenlied, das wir allein durch ein um 1300 entstandenes Fragment kennen (Fragment T). Die deutschen Handschriften und Fragmente repräsentieren unterschiedliche Fassungen des Stoffes, die alle um 1200, vielleicht sogar in unmittelbarer Nachbarschaft entstanden sind, gleichwohl jedoch in ihren Bearbeitungstendenzen differieren, was sich etwa in Auslassungen, Zufügungen und anderen Änderungen im Textbestand be- | ||||||||||||||||||||||||
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merkbar macht. Relativ unstrittig ist, dass alle diese Fassungen ambitionierte buchepische Umsetzungen des Stoffes sind, also nicht etwa mündliche Vorträge abbilden. Sie wurden vielmehr von versierten Autoren konzipiert und niedergeschrieben unter Verwendung des heldenepischen Stils und dessen typischen Kennzeichen wie Anonymität, Strophik und Formelhaftigkeit. Nicht ganz klar ist, ob und wie mündlich kursierende Ausprägungen des Nibelungenstoffes auf die spätere Rezeptionsgeschichte jener buchepischen Fassungen Einfluss genommen haben. Genau diese Frage stellt sich auch für das Nevelingenlied. Der erhaltene niederländische Text basiert deutlich auf einer der buchepischen Fassungen des Nibelungenliedes (es lässt sich sogar wahrscheinlich machen, dass die A/B-Fassung, also die so genannte ‘Not’-Fassung oder die, auf dem B-Typus basierende, Mischfassung J, die Vorlage für den niederländischen Text gebildet haben muss), allerdings mit Änderungen durch Plus- und Minusverse und weiteren Umformungen. Der niederländische Text bietet demnach eine völlig eigenständige Fassung. Eine solche tiefgreifende Adaptation im Rahmen einer Übertragung in eine andere Sprache kennen wir nicht nur aus konzeptiv schriftlicher Literatur wie etwa den Übersetzungen französischer Artusromane ins Mittelhochdeutsche. Eher noch stärker sind entsprechende Eingriffe bei der Übertragung französischer Heldenepen, den Chansons de geste, ins Deutsche. Die Eingriffe erklären sich hier oft dadurch, dass das kollektive Sagengedächtnis der Romania, an das Anspielungen auf besondere Waffen, Figuren oder Situationen appellieren, im anderen Kulturraum nicht existierte und also auch nicht funktionierte. Aus dem gleichen Grund wird die auf Mündlichkeit verweisende Laissenstruktur der Chansons de geste in schriftliterarische Reimpaare transformiert und die für Heldenepik kennzeichnende Anonymität durch textverantwortende Autorschaft ersetzt. Bis auf das letzte Faktum, das sich auf Grund des fragmentarischen Status des Nevelingenliedes nicht verifizieren lässt, sind das - mit dem Verzicht auf die epischen Langzeilenstrophen, auf die Beschreibung des sagenhaften Schwertes Balmung und der Verstärkung ‘normaler’, da allgemein verständlicheireligiöser Elemente - exakt die Kennzeichen, die ebenfalls die niederländische Adaptation von den Fassungen des deutschen Nibelungenliedes unterscheiden. Die Diskussion darüber, ob die Differenzen zwischen deutscher und niederländischer Fassung des Nibelungenliedes sich dadurch erklären lassen, dass Heldenepik in einen Kulturkreis transferiert wurde, in dem das entsprechende Sagengedächtnis fehlte oder zumindest nicht stark ausgeprägt war, oder ob der niederländische Autor, wie Van Oostrom erwägt, auf eine andere ‘primitievere’ (S. 82), mündlich umlaufende Version zurückgriff, die zudem nur einen Teilausschnitt des Stoffes umfasste, sollte alsbald von Germanisten und Niederlandisten neu geführt werden. Beide Seiten würden davon profitieren.Ga naar voetnoot3 Das gilt ebenso für die weitere Erforschung der so genannten Spielmannsepik. In der Germanistik ist dies mittlerweile ein anachronistischer Begriff, der kaum noch Verwendung findet, da die Vorstellung von einfachen Spielleuten (Jongleurs) als Urheber von Texten wie Herzog Ernst mit seinen antiken Traditionen folgenden Be- | ||||||||||||||||||||||||
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schreibungen von Wundervölkern oder als Autoren theologisch gelehrter Texte wie dem Münchener Oswald zunehmend unwahrscheinlicher geworden ist.Ga naar voetnoot4 Weitaus zutreffender ist dann auch die von Van Oostrom vorgeschlagene Einordnung des spielmännischen Wisselau in das Genre der Brautwerbungsepik (S. 85). Nur ansatzweise ist allerdings in die germanistische Diskussion um Brautwerbungsepen der Wisselau bisher einbezogen worden. Neben bestehenden Motivähnlichkeiten zum König Rother, die für die Interpretation des deutschen Textes freilich noch kaum fruchtbar gemacht wurden, scheint mir insbesondere der ganz ungewöhnliche Überlieferungsbefund einer vierspaltigen Wisselau-Handschrift weiteres Diskussionspotenzial zu bieten. Lässt sich daraus wirklich auf ein sehr kurzes Werk schließen, das der Schreiber durch maximale Ausnutzung des zur Verfügung stehenden Platzes auf zwei Folio-Seiten unterbringen wollte, wie Van Oostrom vermutet (S. 86)? Oder deutet das vielspaltige Layout, das sonst meist für längere Werke verwendet wurde, nicht im Gegenteil eher auf einen umfangreicheren Text hin? Deutsche Orient- und Brautwerbungsepen wie Herzog Ernst oder König Rother, zu denen der Wisselau strukturelle, thematische und motivische Analogien aufweist, sind jedenfalls wesentlich länger als Karel ende Elegast, den Van Oostrom wegen dessen ‘spielmännischen’ Charakters als Vergleichsmaßstab für den Umfang des Wisselau anführt. Das zweite Kapitel von Stemmen op Schrift, mit ‘Veldekes Umwelt’ überschrieben, ist aus der Perspektive der Germanistik vielleicht am anregendsten, weil dort mit dem Oeuvre Heinrichs von Veldeke und mit der frühen Epik des Maas-Rhein-Gebietes derjenige Autor und dasjenige Textcorpus behandelt werden, die in der Germanistik am bekanntesten sind - bekannter wohl als in den Niederlanden selbst. Denn die Literatur des Maaslandes hat auf die mittelniederländische Literatur, wie Van Oostrom aufzeigt (S. 194), weniger eingewirkt als auf die deutsche Literatur des Mittelalters, für die sie, insbesondere durch die Figur Veldekes, als eine Art Katalysator wirkte. Mit Blick auf Van Oostroms eindrucksvolle Darstellung des Maas-Rhein-Gebietes als eines Zentrums besonders früher Übertragungen französischer Großerzählungen (Trierer Floyris-Roman, Aiol, niederfränkischer Tristan) und vor dem Hintergrund der gerade neu aufgefundenen mittelhochdeutschen Zwettler Erec-Fragmente, die zumindest partiell eine von Hartmanns Bearbeitung abweichende, näher an Chrétiens Fassung stehende Version des Erec bieten und die überdies einige aus dem Mittelniederländischen entlehnte Worte zu kennen scheinen,Ga naar voetnoot5 müsste eventuell die alte, zuletzt verworfene These einer verlorenen Artusepik dieses Raumes mit aktuellen Forschungsmethoden, vor allem aber frei von ideologischen Vorannahmen noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden. Heinrich von Veldeke, die zentrale Autorgestalt des Maas-Rhein-Gebietes, rückt Van Oostrom zu Recht in den Mittelpunkt seines Überblicks über die Literatur die- | ||||||||||||||||||||||||
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ses Raumes. Neben dem Eneasroman und Veldekes Lyrik, die in der Germanistik seit jeher im Blickpunkt standen, wird erfreulicherweise auch Veldekes Servatiuslegende, die schon allein aus sprachlichen Gründen in der germanistischen Literaturwissenschaft ein Schattendasein führt, ausführlich behandelt. Erst dadurch wird die, zumindest für diese Zeit, ungewöhnliche Breite von Veldekes literarischem Oeuvre richtig deutlich. Diskussionspotenzial birgt dabei vor allem Van Oostroms These, dass Veldeke in der engeren Umgebung Kaiser Friedrich Barbarossas und dessen Anhangs verkehrt habe (S. 141).Wichtigster Anhaltspunkt dieser Annahme sind jene Verse aus dem Eneasroman, in denen der Erzähler das prächtige Hochzeitsfest von Lavinia und Eneas mit Barbarossas Feier anlässlich der Schwertleite seiner Söhne im Jahr 1184 in Mainz vergleicht, die wir selbe sâgen (die wir selbst gesehen haben). Ob man aber aus diesen Worten, insbesondere aus der Verwendung des verallgemeinernden Personalpronomens wir schließen kann, dass ‘Veldeke vrijwel zeker zelf aanwezig was geweest’ (S. 147), wird in der Germanistik sehr viel zurückhaltender beurteilt.Ga naar voetnoot6 Man würde auf der schmalen Basis allein dieser Passage aus dem Eneasroman dann wohl auch kaum weitreichende Thesen darüber aufstellen, die Veldekes gesamtes Oeuvre, angefangen von der Lyrik über den Eneasroman bis zum Servatius, mit dem Kaiser und dessen kulturellen und politischen Interessen verbinden. Ob Veldeke den staufischen Kaiser jemals, sei es in Maastricht, sei es in Mainz oder anderswo, gesehen hat, und ob man am Kaiserhof, der im Übrigen eher lateinisch orientiert war, den gebildeten Autor yolkssprachiger Texte überhaupt wahrgenommen hat, wissen wir nicht. Ebenso wenig sind wir über Veldekes gesellschaftlichen Stand und über seine Lebensumstände informiert. Aus seinem Werk geht eindeutig hervor, dass er eine ausgezeichnete klerikale und literarische Ausbildung genossen haben muss und sowohl des Lateinischen wie des Französischen mächtig gewesen sein dürfte. Aus der stilisierten Illustration, die seinen Liedern in der Manesse-Handschrift vorangestellt ist, sind hingegen keine biographischen Informationen abzuleiten. Es handelt sich hierbei nicht um ein ‘portretje’ Veldekes, vielmehr um die bildliche Umsetzung des Liedes, mit dem die Veldeke-Sammlung in der Manesse-Handschrift eröffnet wird. Ganz sicher ist Veldeke nicht mit Tonsur dargestellt, er trägt einen Blumenkranz im Haar, und auch sein Gewand ist nicht etwa das eines Klerikers (so Van Oostrom, S. 157f.), sondern das typisch höfische Kapuzengewand (man vergleiche z.B. die in der Handschrift unmittelbar vorangehende Darstellung des Markgrafen von Hohenburg und seines Knappen). | ||||||||||||||||||||||||
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Van Oostroms drittes Kapitel gilt den großepischen Erzählungen, vor allem der Karlsepik und dem Artusroman, die in der niederländischen Literatur genauso wie in der französischen und in der deutschen jeweils etwa zeitgleich auftreten, allerdings unterschiedlichen Poetiken gehorchen, die den Roman im Vergleich zur Epik für neuzeitliche Rezipienten oft als ‘moderner’ und ‘innovativer’ erscheinen lassen. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit scheint eine solche Kategorisierung nicht gegriffen zu haben; so ist es beispielsweise in allen drei Literaturen die ‘archaische’ Karlsepik und nicht der ‘moderne’ Artusroman, die die Hürde des Buchdrucks ohne größere Probleme überwindet. Allerdings sind die verschiedenen Typen großepischer Erzählungen in den einzelnen Literaturen unterschiedlich intensiv rezipiert worden. Während die Karlsepik in Frankreich und in den Niederlanden auf großes Interesse stieß, existieren in der deutschen, genauer in der mittelhochdeutschen Literatur längst nicht so viele Texte aus jenem Genre. Mit seiner Vermutung, dass dafür eine in den Niederlanden vorhandene, in Deutschland jedoch weniger ausgeprägte Faszination und Verehrung für Karl den Großen verantwortlich sein könnte, liegt Van Oostrom wahrscheinlich richtig. Allerdings muss man zwischen der mittelhochdeutschen und der mittelniederdeutschen Literatur unterscheiden, denn im letztgenannten Sprachund Kulturraum, der dank der Hanse mit den ‘Nideren Landen’ durch wirtschaftliche und kulturelle Kontakte eng verflochten war, in dem Karl der Große von der Kirche zudem als eine Art Missionar gefeiert wurde, der die dort siedelnden heidnischen Sachsen besiegt und zu Christen gemacht hatte, in diesem Gebiet also lässt sich eine vergleichbare Karlsfaszination konstatieren wie in den Niederlanden. Und ebenso wie dort lässt sich auch im mittelniederdeutschen und ripuarischen Raum um Köln und Aachen ein im Vergleich zum oberdeutschen Raum stärkeres Interesse an Karlsepik feststellen, das sich in Werken wie Karl und Galie, dem im westfälischen Raum entstandenen Günser Reinolt (der Dortmunder Lokalheilige), Gerart van Rossiliun und der Karlmeinet-Kompilation äußert, die unter anderem die einzige vollständig erhaltene handschriftliche Fassung von Karel ende Elegast überliefert.Ga naar voetnoot7 Wie im Bereich der Karlsepik existieren auch auf dem Gebiet des Artusromans Unterschiede zwischen der deutschen und der niederländischen Literatur. So ist es aus deutscher Sicht erstaunlich, dass von Chrétiens klassischen, die Gattung konstituierenden Artusromanen lediglich der Perceval im Mittelniederländischen fragmentarisch erhalten ist; auch vom Tristan existieren dort keine schriftlichen Zeugnisse. Soweit wir aus der Überlieferung schließen können, beginnt die mittelniederländische Artusliteratur also etwa zu jener Zeit und mit jenem, nicht mehr direkt auf französischen Quellen beruhenden Typus, den man in Deutschland als ‘nachklassisch’ zu bezeichnen pflegt. Die Einschätzung und Bewertung dieser stark intertextuell geprägten nachklassischen Artusromane, die man früher meist als epigonal abqualifizierte, hat sich innerhalb der Germanistik in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren sehr geändert und hat nach einer intensiven Auseinandersetzung zu innovativen Erkenntnissen geführt.Ga naar voetnoot8 In diese Diskussion um den nachklassischen Artusroman nun auch das | ||||||||||||||||||||||||
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strukturell verwandte, den meisten Germanisten aber unbekannte mittelniederländische Textcorpus Bowie die an diesem Textmaterial gewonnenen Erkenntnisse der Niederlandistik mit einzubeziehen, würde sich ebenso lohnen wie die umgekehrte Berücksichtigung der deutschen nachklassischen Artusromane in der niederlandistischen Diskussion. Dass dies sinnvoll sein kann, zeigen Van Oostroms luzide und informative Ausführungen zur mittelniederländischen Lancelot-Tradition, als deren Höhepunkt wohl die Lancelot-compilatie betrachtet werden kann, die in den Stoffkreis der Lancelot/Gral-Erzählung noch weitere, ehemals unabhängige Artusromane integriert. Van Oostrom bezeichnet die im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts geschriebene Lancelot-compilatie als gewagteste (‘gedurfd’) und umfassendste Zusammenstellung von Artusromanen in der europäischen Literatur des Mittelalters. Für diese Ansicht spricht Vieles, doch ohne die herausragenden Qualitäten der Lancelot-compilatie schmälern zu wollen: In der deutschen Literatur des Mittelalters gibt es mit Ulrich Fuetrers Buch der Abenteuer (1480/90) ein ganz ähnlich strukturiertes Werk, das auf der Basis des Prosa-Lancelot und unter Einschaltung weiterer, ehemals selbstständiger deutscher Artusromane, die Fuetrer gekürzt und für die Aufnahme in seine Erzählsumme zugeschnitten hat, die Geschichte des Artusreiches von den sagenhaften Anfängen bis zum endgültigen Untergang in über 80000 Versen erzählt.Ga naar voetnoot9 Von B. Besamusca sind die beiden riesigen Lancelot-Gral-Kompilationen bereits unter zyklischen Gesichtspunkten miteinander verglichen worden.Ga naar voetnoot10 Möglicherweise ergeben sich aber auch noch andere Anknüpfungspunkte, wenn man bedenkt, dass Ulrich Fuetrer im Auftrag Herzog Albrechts iv. von Bayern schrieb, der der Dynastie der Wittelsbacher angehörte, demjenigen Geschlecht also, das einige Jahrzehnte zuvor die Grafen von Holland gestellt hatte. Völlig ausgeschlossen erscheint es daher nicht, dass Fuetrer einen die Lancelot-compilatie enthaltenden Codex gesehen hat oder zumindest von jenem spektakulären Projekt wusste. Im vierten Kapitel seiner Literaturgeschichte entwirft Van Oostrom ein großartiges Panorama der umfangreichen geistlichen Literaturtradition der ‘Nideren Lande’, angefangen von den Viten und Bibelepen über Bibelübersetzungen bis zur vom brabantisch-Lütticher Raum ausgehenden frauenmystischen Literatur, die in Hadewijchs Texten einen Höhepunkt findet. Die lebendigen, geradezu spannenden Ausführungen über den auf den ersten Blick eher als trocken erscheinenden Stoff der Bibelübersetzungen zählen zu den Glanzstücken von Stemmen op Schrift. Spannend geschrieben sind ebenfalls die Passagen über die von oder über mulieres religiosae verfassten Texte. Ihre Attraktivität beziehen sie nicht zuletzt aus der Annahme, dass es sich dabei um hochbrisante Texte handele, die nach Van Oostrom auch deshalb in der Volkssprache geschrieben worden seien, weil deren Autorinnen, die als Beginen unter Häresieverdacht gestanden hätten, in der Volkssprache eine Chance sahen, den lateinisch gebildeten, oftmals aus der Romania stammenden und daher des ‘Diets’ kaum mächtigen Inquisitoren zu entgehen (S. 460). Ob die Autorinnen, allen voran Hadewijch, allerdings tatsächlich als Beginen lebten, lässt sich kaum klären. Ebenso unklar | ||||||||||||||||||||||||
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ist, wie und ob die Autorinnen überhaupt von offizieller Seite als Häretikerinnen galten und dementsprechende Verfolgungen zu fürchten hatten. Der spektakuläre, aber auch ziemlich singuläre Fall der Marguerite Porete, die aufgrund von Behauptungen aus ihrem Buch Miroir des simples âmes, aber nicht etwa deshalb, weil sie Begine gewesen wäre, auf dem Scheiterhaufen endete, scheint eher die Ausnahme als die Regel gewesen zu sein. Die in den Texten der Mystikerinnen wiederholt begegnende Atmosphäre von Anfeindungen und Verfolgungen durch meist ungenannte Gegner werden in der jüngeren germanistischen Forschung dann auch eher als literarische Inszenierungen im Sinne einer imitatio Christi gelesen denn als Wiedergabe realer historischer Gefährdungen durch Inquisitoren.Ga naar voetnoot11 Einen weiteren Höhepunkt seiner Literaturgeschichte hat Van Oostrom sich bis zum Schluss aufgespart, wenn er zu jener Epoche gelangt, in der große Autorengestalten, und sei es auch nur durch ihr literarisches Werk, erstmals schärfere Konturen gewinnen. Wie perfekt er es versteht, aus literarischen Informationen eine längst vergangene Welt neu erstehen zu lassen, hat Van Oostrom eindrucksvoll durch Maerlants wereld bewiesen.Ga naar voetnoot12 An diese Ergebnisse kann er im Maerlant-Teil seiner Literaturgeschichte anknüpfen und solcherart souverän die Leistung eines Autors beschreiben, der im deutschsprachigen Bereich kaum ein Pendant findet. Am ehesten wäre mit Jacob van Maerlant noch Rudolf von Ems (Mitte 13. Jahrhundert) zu vergleichen, von dem neben einer nach ca. 33000 Versen abbrechenden, gleichwohl ungeheuer erfolgreichen Weltchronik (über 100 Handschriften) eine legendarische Barlaam und Josaphat) und eine erbauliche Erzählung (Der guote Gerhart), ein (fragmentarischer) Alexanderroman sowie ein Minneroman (Willehalm von Orlens) erhalten sind.Ga naar voetnoot13 Das literarische Werk der etwa gleichzeitig lebenden und schreibenden, ähnlich vielseitigen Autoren Rudolf von Ems und Jacob van Maerlant in einem Parallelprojekt auf übergreifende Gemeinsamkeiten und möglicherweise signifikante Differenzen hin zu analysieren, wäre eine höchst reizvolle Aufgabe, die aber nur von Niederlandisten und Germanisten gemeinsam geleistet werden kann. Wie gewinnbringend eine parallele Betrachtung der mittelhochdeutschen und der mittelniederländischen Literatur sein kann, zeigt ein Blick auf eine weitere große Autorgestalt der mittelniederländischen Literatur, von der wir allerdings nur den Vornamen und lediglich ein einziges Werk kennen: Willem, Autor von Van den vos Reynaerde. Dieser einflussreiche Text der europäischen Fuchs-Tradition besitzt, insbesondere über seine Neubearbeitung und Fortsetzung Reinarts historie, große Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte. Niemand geringerer als Goethe hat davon profitiert, denn dessen 1794 erschienener Reineke Fuchs lasst sich über den mittelniederdeutschen Reinke de vos direkt auf die mittelniederländischen Texte zurückführen. Die mittelniederdeutsche Fassung und nicht etwa ‘een Middelhoogduits prototype’ (S. 466) hat also Goethe als Vorbild gedient. Eine mittelhochdeutsche Fassung des Fuchs- | ||||||||||||||||||||||||
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Stoffes existiert gleichwohl. Es handelt sich dabei um den von einem Heinrich um 1200 wohl im elsässischen Raum verfassten Reinhard Fuchs.Ga naar voetnoot14 Diese bis heute wenig bekannte Fassung ist auch im Mittelalter kein großer Erfolg gewesen und bildet in den europäischen Ausprägungen dieses Stoffes so etwas wie einen toten Ast; Goethe hat sie sicker nicht gekannt. Trotzdem ist Reinhard Fuchs - und das ist mir erst durch Van Oostroms farbige Schilderung von Van den vos Reynaerde richtig deutlich geworden - sowohl für die niederländische Literaturgeschichte von einer gewissen Bedeutung wie umgekehrt auch Van den vos Reynaerde für das Verständnis von Heinrichs Fassung fruchtbar gemacht werden kann. Denn wenn Willem, wie Van Oostrom demonstriert, die offene, immer neue Fortsetzungen ermöglichende Struktur seiner französischen Vorlage zu einer finalen umgestaltet hat (S. 470f.), dann gilt dies für den noch früher schreibenden mittelhochdeutschen Autor genauso. Ja, es gilt für die mittelhochdeutsche Fassung sogar noch stärker, denn das, wovor Willem Van Oostrom zufolge zurückschreckte, nämlich Reynaerds Antagonist König Nobel endgültig auszuschalten, indem dessen Tod dargestellt würde (S. 487), genau dies unternimmt Heinrich. Endet doch seine Version des Fuchs-Stoffes damit, dass Reinhart den König, der bei ihm bezeichnenderweise nicht Nobel, sondern Vrevel heißt, vergiftet, nachdem er zuvor bereits alle anderen Tiere am Hof in brutaler Weise geschändet hatte. Gipfelpunkt des Zynismus ist es allerdings, wenn der Fuchs vom Erzähler gegen Ende des Textes - möglicherweise nach dem Muster legendarischer Literatur - als guter Reinhart tituliert wird. Man kann trefflich darüber spekulieren, ob der geringe Erfolg der mittelhochdeutschen Fassung und die im Gegensatz dazu überwältigende, bis heute andauernde Resonanz der mittelniederländischen mit der konsequent finalen Struktur von Heinrichs Text zusammenhängen könnte, die eine Fortsetzung nach dem Tod des Königs schlechterdings unmöglich macht. Wie für Reinhart Fuchs und Van den vos Reynaerde, wie für Jacob van Maerlant und Rudolf von Ems oder wie für die nachklassischen deutschen und niederländischen Artusromane und für weitere Texte sind solche Fragen und Probleme jedoch nur unter simultaner Berücksichtigung der mittelhochdeutschen und der mittelniederländischen Literaturtradition und -geschichte zu stellen und zu beantworten. Die Germanisten schauen meistens aber eher auf die französische oder die lateinische, allenfalls auf die mittelniederdeutsche Literatur des Mittelalters, wenn sie nach Vergleichsobjekten für ihre Texte suchen. Die reiche und interessante literarische Tradition der ‘Nideren Lande’ ist ihnen in der Regel nicht bekannt. Die Textkenntnis wird sich demnächst hoffentlich verbessern, wenn im Rahmen der Reihe ‘Bibliothek der Mittelniederländischen Literatur’ (bimili) wichtige mittelniederländische Texte in deutscher Übersetzung zugänglich sein werden. Doch solche Werkübersetzungen, so unverzichtbar sie auch sind, können immer nur einen punktuellen Einblick in die literarische Tradition des Nachbarlandes verschaffen. Urn diese Ausschnitte auch in größere Kontexte einordnen zu können, ist es notwendig, einen Überblick über die gesamte literarische Tradition zu besitzen. Mit anderen Worten: Es ist für Germanisten lohnend, die Geschichte der mittelniederländischen Literatur des Mittelalters zu ken- | ||||||||||||||||||||||||
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nen. Und auf welche Weise könnte man sie besser kennen lernen, als durch Van Oostroms ebenso fundierte wie anregende Literaturgeschichte? Es wäre daher wünschenswert, wenn Stemmen op Schrift möglichst bald auch auf Deutsch erscheinen würde. Nicht nur Literaturwissenschaftler könnten davon profitieren, sondern, wie es der Intention des Buches entspricht, alle an Literatur und Geschichte des Mittelalters Interessierten.
Adresse des Vefassers: Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 150 d-44801 Bochum bernd.bastert@rub.de | ||||||||||||||||||||||||
Literatur
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