Nederlandse historische bronnen 1
(1979)–Anoniem Nederlandse historische bronnen– Auteursrechtelijk beschermd
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Teil I
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Hinblick auf den weiteren Verlauf des Krieges bemerkbar. Diese Entwicklung verstärkte sich noch, als mit dem beginnenden Frühjahr die Meldungen der Feindpropaganda über grössere Erfolge der Russen an der Ostfront verstummten, andererseits das schnelle Vordringen Rommels in Afrika in Richtung auf den Suezkanal sowie die grossen Erfolge der deutschen Unterseeboote vor der nordamerikanischen Küste die Beendigung des Krieges zu Gunsten der Alliierten in naher Zeit aussichtslos zu machen schienen. Die deutschfeindliche Propaganda klammerte sich daher fast ausschliesslich an den Gedanken einer englisch-amerikanischen Invasion, von der man sich die Befreiung auch der niederländischen Gebiete erhoffte. Verstärkt wurde diese Hoffnung durch die im Februar erfolgte Landung amerikanischer Truppen in Nordirland. Im Frühjahr des Berichtsjahres war die niedergeschlagene und resignierte Stimmung innerhalb der niederländischen Bevölkerung mit Ausnahme der aktiven Gegnerkreise der Kommunistischen Partei (CPN) und der nationalen Widerstandsorganisationen allgemein. Die Masse der niederländischen Bevölkerung übte in den Tagen der Eroberung Batavias durch die Japaner zum ersten Mal seit den Maitagen 1940 scharfe Kritik an der Haltung Englands und seines Ministerpräsidenten. Infolge dieser Entwicklung blieb auch die Haltung der niederländischen Bevölkerung nach aussenhin trotz der Vollstreckung von 120 Todesurteilen bis zum Spätsommer des Berichtsjahres völlig ruhig. Daher traten auch keine über das übliche Mass hinausgehende Erfolge der kommunistischen und nationalen Gegnerkreise während des ersten halben Jahres nach aussenhin in Erscheinung. Den Höhepunkt einer für die Achsenmächte günstigen Situation brachten die Sommermonate nach dem erfolgreichen Abschluss der deutschen Krimoffensive nach der Beendigung des japanischen Feldzuges gegen Niederländisch Indien sowie nach der begonnenen neuen deutschen Ostoffensive mit dem schon in den Sommermonaten erwarteten Fall Stalingrads, sowie schliesslich nach dem misslungenen Landungsunternehmen in Dieppe und einer gerüchteweise verlauteten neuen deutschen Offensive in Nordafrika. Das Interesse der Bevölkerung während der Sommermonate 1942 am Kriegsgeschehen war allgemein gering. Die Mehrzahl der Bevölkerung sehnte ein Kriegsende herbei, wobei erstmalig das ‘Wie’ des Kriegsausganges nicht mehr im Vordergrund der Erörterungen stand. Mit Beginn des Herbstes trat jedoch langsam ein spürbarer stimmungsmässiger Umschwung ein. Ursache hierfür waren in erster Linie der sich ausserordentlich versteifende Widerstand der Russen im Osten, vor allem der sich in die Länge ziehende Kampf um Sta- | |
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lingrad, ausserdem der in der Bevölkerung bekanntgewordene Abbruch der deutschen Nordafrika-Offensive sowie der Beginn der umfassenden Terrorangriffe der britischen Luftwaffe auf Westdeutschland. Während man besonders im Hinblick auf die zunehmende Schwere des Ostfeldzuges mit unverhohlener Freude eine allgemeine Schwächung der deutschen militärischen Kraft erhoffte, sah man besonders in den grossen Luftangriffen der englisch-amerikanischen Luftwaffe den beginnenden überlegenen Einsatz des Rüstungspotentials der Alliierten. Hand in Hand damit verschärfte sich die allgemeine Stimmung der Bevölkerung und ihre Einstellung gegenüber der Besatzungsmacht und dem Deutschen Reich. Gegen Ende des Jahres, vor allem nach Beginn der grossen russischen Winteroffensive, zeigte es sich immer mehr aus den eingehenden Meldungen, dass ein weit grösserer Teil der niederländischen Bevölkerung als bisher bereit war, vom passiven zum aktiven Widerstand überzugehen. Gegen Ende der Berichtszeit überwog die auch noch zur Zeit der Abfassung des Berichtes vorherrschende Meinung vollständig, dass der Krieg für die Achsenmächte nicht mehr zu gewinnen sei und dass der Zusammenbruch Deutschlands noch im Jahre 1943 erfolgen werde. Während die aktiven gegnerischen Elemente, insbesondere die Kommunisten, in der ersten Hälfte des Jahres nach der erfolgten Zerschlagung ihres illegalen Apparates damit beschäftigt waren, sich auf anderer Basis neu zu organisieren, gingen sie in der zweiten Hälfte der Berichtszeit zu einer systematischen Kleinarbeit und Aktivierung ihrer Mitglieder über. Im Herbst 1942 begann sich die Zahl der Sabotagefälle, aber auch die Zahl der übrigen Handlungen gegen die Besatzungsmacht ständig zu erhöhen. Wie stark inzwischen insgesamt gesehen der nationale Widerstand der Niederländer und die kommunistische Aktivierung der illegalen Arbeit in den besetzten niederländischen Gebieten geworden war, lässt sich auch aus folgenden Zahlen erkennen: Im Jahre 1942 mussten 238 Todesurteile ergehen und Erschiessungen von 20 Geiseln durchgeführt werden. Insgesamt musste während des Jahres 1942 gegen rund 10 000 Niederländer sicherheitspolizeilich vorgegangen werden. Das Verhalten, insbesondere der katholischen Geistlichkeit, war zu Beginn des Berichtsjahres ausserordentlich aktiv im Kampf gegen die NSB. Ausser der Verlesung verschiedener gegen den Nationalsozialismus und die NSB gerichteter Hirtenbriefe und Kanzelabkündigung versuchte die katholische Geistlichkeit zu Beginn des Jahres 1942 eine grosse Propaganda- und Pressekampagne gegen die NSB, | |
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den Arbeitsdienst und die NAF (Arbeitsfront) zu organisieren. Durch sicherheitspolizeiliches Einschreiten und Festnahme des Prof. BrandmaGa naar voetnoot1, des führenden Kopfes dieser Aktion, wurde sie jedoch in ihren Anfängen zerschlagen. Gegen Ende des Jahres trat die Gegenpropaganda der katholischen Kirche, wenn auch nur nach aussenhin, in den Hintergrund. Nach Vollendung der gesetzestechnischen Voraussetzungen für die Ausschaltung der Juden aus dem gesamten öffentlichen Leben begann in der Berichtszeit die Abschiebung der Juden in Arbeitslager nach dem Osten. Bis Ende des Jahres waren durch diese Aktion ca. 40.000 Juden - etwa 1/3 der Gesamtzahl der in den Niederlanden ansässigen Juden - erfasst worden. Die Entwicklung der nationalsozialistischen Bewegung in den Niederlanden (NSBdN), die seit Beginn des Jahres als alleinige Trägerin der politischen Willensbildung nach Ausschaltung aller anderen Parteien das innerpolitische Feld beherrschte und der praktisch die gesamten Propaganda- und Führungsmittel wie Presse, Rundfunk, Flugblätter, Aufmarscherlaubnis usw. zur Verfügung standen, war enttäuschend. Während in der ersten Hälfte der Berichtszeit wenigstens noch eine geringe Zunahme der Mitgliederzahl festgestellt werden konnte, trat in der zweiten Hälfte des Jahres ein allgemeiner Stillstand, teilweise sogar ein geringer Rückgang in der Mitgliederzahl auf. Die NSB verfügte am 31.10.1942 über 68.000 aktive und 19.854 sympathisierende Mitglieder in den Niederlanden. Dazu kommen noch etwa 13.000 Mitglieder der Auslandsorganisation der NSBdN. Alles zusammen gerechnet verfügte die NSB über 100.894 Mitglieder, was 1 1/4 % der niederländischen Bevölkerung entspricht. Die NSB legte das Hauptgewicht ihres Kampfes während der Berichtszeit auf die Machtübernahme innerhalb des niederländischen Staatsapparates, während der Kampf um die Erringung des niederländischen Volkes und dessen Gewinnung für die nationalsozialistische Idee keine weiteren Erfolge erkennen liessen. Im Gegenteil verschärfte sich die Stimmung und Ablehnung des weit überwiegenden Teils der niederländischen Bevölkerung gegenüber der NSB ganz erheblich. Am Ende des Berichtsjahres erfolgte anlässlich der 11-jährigen Gründungsfeier der NSB die Einschaltung der NSB in den niederländischen Staatsapparat in der Form einer beratenden Mitwirkung bei allen wichtigen Verwaltungs- und Personalfragen. Die Folge war ein sofortiges Reagieren der aktiven Gegnergruppen, mo- | |
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ralisch unterstützt durch einen Aufruf der ehemaligen niederländischen Regierung in London zum aktiven und passiven Widerstand zu Beginn des Jahres 1943. Nach aussenhin trat dies durch die Ermordung des Generalleutnants Seyffardt, des Führers der Niederländischen LegionGa naar voetnoot2, und durch die Attentate auf den neuernannten Generalsekretär im Departement für Volksaufklärung und Propaganda, Reydon, sowie auf den Sohn des Generalstaatsanwalts Feitsma in Amsterdam und durch den Handgranatenanschlag auf den NSB-Bürgermeister von Haarlem sowie durch die Ermordung eines WA-MannesGa naar voetnoot3 zu Beginn des Jahres 1943 augenfällig in Erscheinung. Verschärft wurde die in dem letzten Viertel des Berichtsjahres auftretende Spannung innerhalb der besetzten niederländischen Gebiete durch eine während des ganzen Jahres zunehmende Verknappung lebensnotwendiger Nahrungsgüter. Im grossen gesehen besass jedoch die niederländische Bevölkerung, teils aufgrund noch vorhandener privater Vorräte, teils aufgrund eines stärkeren Gemüseanfalls während der Sommermonate, verhältnismässig grössere Ausgleichsmöglichkeiten als die Bevölkerung im Reich. Die Rationen für die niederländische Bevölkerung lagen aber, besonders in der Butterund Fleischzuteilung, unter den Rationen im Reich (Butter 146 g und Fleisch 250 g pro Kopf und Woche). Die im Reich am Ende des Jahres erfolgte Erhöhung der Rationen konnte die niederländische Bevölkerung infolge des stark rückläufigen Viehbestandes nicht mitmachen (1940 gab es in den Niederlanden 1,8 Mill. Schweine, 1942 nur noch 400.000, die entsprechenden Zahlen für Rindvieh lauten 2,6 Mill. zu 2,2 Mill., für Hühner von 33 Mill. zu nur noch 3 Mill.). Da nunmehr die Rationen für Fleisch zunächst auf 200 g herabgesetzt werden mussten und in der folgenden Zeit auf 125 g reduziert werden müssen, die privaten Vorräte fast restlos erschöpft sind und der früher mögliche Ausgleich mit Fischen fast völlig fortgefallen ist, stehen die Sorgen der niederländischen Bevölkerung über die Entwicklung der Ernährungslage im Vordergrund des täglichen Interesses. Trotz aller dieser für die Einstellung der niederländischen Bevölkerung gegenüber dem Reich ungünstigen Momente, die sich beson- | |
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ders in der zweiten Hälfte des Berichtsjahres wesentlich stärker ausprägten, verlief der Einsatz der niederländischen Industrie für deutsche Belange ebenso wie der Einsatz niederländischer Arbeitskräfte im Reich zufriedenstellend. Nach Schätzungen der Zentralauftragsstelle Den Haag arbeitete die niederländische Industrie zu rd. 60 % für deutsche Zwecke und zu 40 % für den niederländischen Zivilsektor. Seit Errichtung der Zentralauftragsstelle haben die Gesamtverlagerungen deutscher Aufträge nach den Niederlanden eine Gesamthöhe von 3,5 Milliarden hfl erreicht. Im Vergleich zu Belgien - Nordfrankreich - und zum Bereich des Militärbefehlshabers in Frankreich mit nur je rd. 4 Milliarden Gulden, ist unter Berücksichtigung der grössten industriellen Kapazität dieser Gebiete die in den Niederlanden erreichte Summe beachtlich. Dabei muss aber allerdings berücksichtigt werden, dass die sehr reichen Rohstoffvorräte der Niederlande, die inzwischen weitgehend erschöpft sind, ausserordentlich günstig für Verlagerungsaufträge waren. Durch VOGa naar voetnoot4 vom 23.3.1942 war die an sich schon bestehende Dienstverpflichtung der Niederländer auch auf den Deutschlandeinsatz ausgedehnt worden. Auf Grundlage dieser Verordnung wurde in einer ersten Sonderaktion der Einsatz von 30.000 Metallfacharbeitern im Reich durchgeführt. Insgesamt wurden im Jahre 1942 gut 100.000 Arbeitskräfte dem Reich zur Verfügung gestellt, so dass einschliesslich der Grenzgänger bei Abfassung dieses Berichts ca. 300.000 Niederländer in Deutschland tätig sind, was etwa 10% der werktätigen Bevölkerung entsprechen dürfte. Die Durchführung dieses Arbeitseinsatzes verlief wie der Gesamteinsatz der niederländischen Wirtschaft im Rahmen der deutschen Kriegswirtschaft trotz des grossen Aufwandes aller gegnerischen Gruppen in Form von Flugblättern, Hetzschriften, Gerüchten, Hirtenbriefen und Kanzelabkündigungen im grossen gesehen verhältnismässig reibungslosGa naar voetnoot5. Erscheinungen von Arbeitsvertragsbrüchen oder von Wirtschaftssabotage konnten zumeist durch sofortiges sicherheitspolizeiliches Eingreifen noch in ihren Anfängen unterbunden werden. |
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