Literatuur Zonder Leeftijd. Jaargang 4
(1990)– [tijdschrift] Literatuur zonder leeftijd– Auteursrechtelijk beschermd
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‘Ein hübsches, übersichtliches Bilderbuch’ Kritische Beobachtungen zur Beurteilung von Bilderbüchern
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Einfaches, des Naiven - und wer könnte nicht über das Einfache, Naive reden? Eine weitere Beobachtung auf diesem Gebiet: Die Meinungen und Urteile über die Qualität der Bilderbücher gehen weit auseinander. Was der eine besonders reizvoll und gelungen findet, ist für den anderen eine Zumutung. Es scheint so, als gäbe es keine Kriterien, keine Maßstäbe zur Beurteilung von Bilderbüchern. Es ist der eigene, subjektive Geschmack, der zum Maßstab der Beurteilung genommen wird.
Ich möchte dieses merkwürdige Phänomen in fünf Abschnitten genauer untersuchen. Mein Blick geht zunächst in die Vergangenheit, wo ich die Ursachen dieser Fehleinschätzungen vermute. | ||||||||||||
In der Geschichte des Bilderbuchs liegen die Wurzeln der einfachen VorstellungenWir wissen, daß das Bilderbuch schon zu Beginn seiner Entwicklungsgeschichte als eigener Buchgattung im ausgehenden 19. Jahrhundert von den künstlerischen Tendenzen und Stilrichtungen bewußt abgetrennt wurde, daß es sehr schnell ein Gegenstand der Gebrauchsgrafik wurde mit festgelegten bildnerischen Normen und Gesetzen, die von Berufsillustratoren trainiert wurden. Bilderbücher sollten schon immer einfach leicht verständlich und vor allem kindgemäß sein, weil man das Kind in einem naiven und unschuldigen Zustand halten und ihm ein einfaches Bild von der Welt vermitteln wollte. Nach Ansicht der Pädagogen und Kunstpädagogen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollten die Augen der Kinder nur klar erkennbare Formen und reine, kräftige Farben wahrnehmen, um daran den Geschmack zu bilden. Auch die Geschichten, die man Kindern im Bilderbuch erzählte, sollten nicht an der gesellschaftlichen Realität ausgerichtet sein; vielmehr wurden sie fernab in einer Naturidylle jenseits der Großstadt und ihrer verwerflichen Wirklichkeit angesiedelt. Man erzählte Kindern lieber von der Welt der Zwerge, Elfen und Tiere als von der konkreten Umwelt, in die sie hineingeboren wurden. Nur selten gab es Versuche, Kinder mit bildnerischen Experimenten zu konfrontieren oder ihnen eine andere Wirklichkeit vor Augen zu führen. Erfolgreiche Bilderbücher mußten inhaltlich und ästhetisch absichtlich einfach gehalten sein. Der spezielle pädagogische Blick auf Kinder und ihre vermuteten Erlebnis- und Sehweisen legitimierte solche lebensfernen Bildwelten. Richard Dehmels ‘Buntscheck’ von 1904 wurde in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt und vollständig verkauft. Klare Formen mit fester | ||||||||||||
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Umrandung, einfacher Bildaufbau, Verzicht auf Räumlichkeit, leuchtende, klare Farben - das waren die damaligen Forderungen an das gute Bilderbuch. Die Produktionsgeschichte des Bilderbuchs hat also einfache Bücher, aber auch eine einfache öffentliche Wahrnehmung der Bücher erzeugt. Denn das war die Konsequenz aus der Produktion und der pädagogischen Ideologie: Auch die Wahrnehmung, die Wertschätzung und Beurteilung der Bilderbücher reduzierte sich auf einfache Formen. Es scheint mir nicht übertrieben zu sagen, daß die zu Beginn dieses Jahrhunderts festgelegten Produktions- und Rezeptionsnormen bis heute ihre Gültigkeit besitzen. Noch immer orientiert sich die Bilderbuchillustration (bewußt oder unbewußt) am gebrauchgrafischen Zeichenstil der frühen Kunstgewerbeschulen, noch immer ist die Realität im Bilderbuch in den fernen Naturräumen der 20er Jahre angesiedelt. Und noch immer suchen die Erwachsene in den Bilderbüchern das leicht Verständliche, Heitere, Triviale. Dabei wissen wir alle, daß Kindheit heute eben nicht eine Idylle darstellt, daß Kinder ihren Lebensalltag oft als schwierig und konfliktreich erleben. Und wir wissen auch, daß Kinder heute keineswegs nur einfache Bilder sehen und sehen wollen. Ihre Wahrnehmung ist viel weiter entwickelt, als dies die Illustratoren der Bilderbücher glauben. Die Gründe, warum das Bilderbuch das Image des Einfachen hat, warum es ästhetisches Allgemeingut ist, liegen in der Geschichte und Tradition des Bilderbuchs mit ihren fragwürdigen (kunst-)pädagogischen Maßstäben. Aus dieser Geschichte haben wir gelernt, keine Ansprüche an Bilderbücher zu erheben, sie nicht als künstlerische, sondern als triviale ästhetische Gegenstände wahrzunehmen und als solche sogar zu genießen - bis heute. In der Geschichte des Bilderbuchs wurden auch nie ernstzunehmende wissenschaftliche Aussagen über Bilderbücher gemacht. Es hat nie eine wirkliche Bilderbuchforschung gegeben, und auch die Publikationen bestanden meist aus Behauptungen und Vermutungen. Was über Bilderbücher geschrieben wurde in diesem Jahrhundert, blieb immer eher pseudowissenschaftlich, ohne begründete theoretische Basis. Das war möglich, weil die Vorstellungen von Kindheit und kindgemäßen Bildern so diffus und ideologisch so belastet waren. | ||||||||||||
Die gegenwärtige Praxis der Beurteilung von Bilderbüchern ist rückständigDie Praxis der Beurteilung und Bewertung von Bilderbüchern ist unübersehbar durch die Defizite der Vergangenheit geprägt. Aus der Tradition der Bilderbuchrezeption konnte sich ja kein kritisches, fachspezifisches Instrumentarium entwickeln. Die Bilderbuchkritik in der Bundesrepublik Deutschland ist eine schwach entwickelte Disziplin, der vor allem die Worte fehlen zur | ||||||||||||
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sachgerechten und qualifizierten Beurteilung der Illustrationen und ihren Bezügen zum Text. Kein Wunder: Die Auseinandersetzung mit Bilderbüchern hat in der Bundesrepublik Deutschland immer im Schatten der Literaturwissenschaft stattgefunden, weil eben auch Bilderbücher immer nur ein Anhängsel, eine Requisite der großen Kinder- und Jugendliteratur waren und sind. Bilderbücher wurden nie als eigene ästhetische Buchgattung anerkannt und als solche wissenschaftlich untersucht, weder von der Literatur- noch von der Kunstwissenschaft. Es gibt bei uns auch keine wissenschaftliche Einrichtung, die sich hauptamtlich mit der Geschichte, Theorie und Ästhetik der Kinderbuchillustration befaßt, und mir ist auch aus den europäischen Nachbarländern nichts Entsprechendes bekannt. So gibt es auch nur wenige Fachzeitschriften, in denen Besprechungen von Bilderbüchern mehr Platz als ein paar Zeilen finden. Die Rezensionen von Bilderbüchern sind aber nicht nur kurz (denn dann könnten sie ja prinzipiell immer noch gut sein), sondern auch harmlos, unverbindlich und immer positiv-wohlwollend. Selbst an sattsam bekannten, stereotypen Bilderbüchern finden die Rezensenten immer noch etwas Positives. Man ist sehr schnell zufrieden, weil man sich ja weiterhin an der Kategorie des Einfachen orientiert. Man sucht in den Bilderbüchern das Einfache und findet es auch. So fallen auch die Besprechungen einfach aus: Zum größten Teil sind es nur Inhaltsangaben mit einigen wenigen Sätzen über die Qualität von Text und Bild. Und selbst dabei existiert keine präzise Fachsprache (wann und wo hätte sie sich entwickeln sollen), vielmehr wird in der Regel ein Vokabular unkonkreter, verwaschener Allerweltsbegriffe verwendet. Da ist die Rede von ‘eindringlichen Bildern’, von ‘kindgemäßer Darstellung’, von ‘geglückten Versuchen’. Ich möchte Ihnen ein kleines Beispiel für eine typische Bilderbuchbesprechung in einer Fachzeitschrift für Büchereien vorführen. Es geht um das Bilderbuch ‘Geschichten aus dem kleinen Haus’ von Lilo Fromm und Margret Rettich, 1984. ‘Die Bewohner des kleinen Hauses sind...ein Bär und ein gewitztes Mäuschen. Das Zusammenleben der beiden... führt zu skurrilen Überraschungen, Irrungen und peinlichen Zwischenfällen, die aber alle ein glückliches Ende finden. - Die Zeichnungen sind mit genauer, zarter Feder ausgeführt und sparsam koloriert. Margret Rettich hat die Szenen mit einfachen, treffenden Texten kommentiert. So ist von zwei Könnern ein hübsches, übersichtliches Bilderbuch gestaltet worden, das... viel Freude bereiten wird.’ Ein weiteres Merkmal der Beurteilungen: Daß Bilderbücher mehr sein können als die Addition von Text und Bild, daß sie über Text und Bild Geschichten erzählen in einer oft eigenen und besonderen Art und Weise, daß Text und Bild eine Wechselbeziehung eingehen können, bleibt meist uner- | ||||||||||||
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wähnt und unerkannt. Die Rezensenten trennen Bild und Text brav voneinander ab, so als handle es sich beim Bilderbuch lediglich um illustrierte Texte und nicht um eine spezielle Erzählform. | ||||||||||||
Die Folgen: Schwierige Bilderbücher fallen durch die Maschen der KritikWelche Konsequenzen ergeben sich nun aus der beschriebenen Situation? Die Defizite, die ich aufgezeigt habe, sind m.E. recht folgenreich für die Wahrnehmung von Bilderbüchern, vor allem für sogenannte ‘schwierige’ Bilderbücher. Spätestens mit den 80er Jahren tauchten ja auf dem bundesdeutschen Bilderbuchmarkt, aber auch in den anderen europäischen Ländern, zunehmend Bücher mit komplexeren Erzählstrukturen, engagierteren Themen und höherem künstlerischen Anspruch auf (z.B. Maurice Sendak: Als Papa fort war, Nikolaus Heidelbach: DER BALL, Anthony Browne: Mein Papi nur meiner). In der Beurteilung dieser sogenannten anspruchsvollen Bilderbücher zeigte sich nun in aller Deutlichkeit, daß die Bilderbuchkritik und -analyse offensichtlich keine ausreichenden und angemessenen Kriterien besaß und besitzt, um den Büchern gerecht zu werden. Die Bilderbücher waren und sind nicht selten anspruchsvoller als die Rezensionen. Mit solchen ‘schwierigen’ Bilderbüchern können die meisten Kritiker nichts anfangen, sie verstehen sie nicht, die Bücher machen sie ratlos, weil ihre Maßstäbe nicht mehr greifen. Das Ergebnis: Bilderbücher, die nicht der Norm des Einfachen entsprechen, fallen einfach durch die Maschen der Bilderbuchkritik hindurch. Für mich nach wie vor das deutlichste Beispiel eines Bilderbuchs, an dem die Kritik gescheitert ist und das dadurch selbst gescheitert ist, ist Maurice Sendaks ‘Outside Over There’ von 1981 (deutsch 1983). Sendak hatte in seinem Buch eine raffinierte Zeit-Raum-Ordnung entworfen, die eben nicht mehr mit den üblichen Beurteilungsmethoden zu begreifen war. Man mußte schon mit einen wacheren Blick an das Bild-Text-Konzept herangehen. Für Sendak umspannt nämlich die gesamte Geschichte nur einen einzigen kleinen Kinderschritt, ‘a baby's step’. Diese Beobachtung ist eigentlicht der Schlüssel zum Verständnis des gesamten Buches, weil damit die Geschichte des Mädchens Ida als ein kurzer Gedankensplitter, als eine Angstvision, als ein momentanes Vorstellungsbild zwischen zwei Schritten des Babys zu interpretieren ist. Die innere Geschichte, die Sendak erzählt, findet im Kopf des Mädchens statt. In den deutschen Buchbesprechungen wurde dieser Aspekt nie erwähnt, nie entdeckt, weil man nicht gelernt hat, Bilderbücher auf Erzählstrukturen, auf dramaturgische Gliederungen hin zu untersuchen. Das Buch galt in der Bundesrepublik Deutschland als zu schwierig, zu künstlerisch, zu symbolisch. Es wurde nicht verstanden, weil die Methoden der Beurteilung nicht ausreichen, unterentwickelt sind. | ||||||||||||
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Bilderbücher, die Kinder ernst nehmen und ihre veränderten ästhetischen Erfahrungen berücksichtigen, benötigen andere Formen der BeurteilungIch möchte an drei Büchern verdeutlichen, daß es notwendig ist, bestimmte Bilderbücher methodisch anders zu betrachten als das üblich ist, nicht länger als besonders einfache ästhetische Objekte, die schnell zu verstehen sind, sondern als ernstzunehmende komplexe Bild-Text-Verbindungen. | ||||||||||||
‘Rosa Weiss’ von Roberto Innocenti, 1986Selten hat ein Bilderbuch in der Bundesrepublik Deutschland (und wie wir wissen, auch in anderen Ländern) zu einer so aufgeregten, kontroversen Diskussion geführt wie ‘Rosa Weiss’. Kein Wunder; es war nach 40 Jahren das erste Bilderbuch in Deutschland, das den Holocaust der Nationalsozialisten beschrieb. Der Schrecken der Bilderbuchkritiker saß tief: Ein Bilderbuch über Terror und Mord an jüdischen Kindern? Kann man, ja darf man dieses Thema Kindern zumuten, und dazu noch im Medium Bilderbuch? Innocenti hatte mit einem Schlage die Normen des Bilderbuchmarktes und der Bilderbuchkritik ins Wanken gebracht. Es war aber nicht allein das Thema, sondern auch die Bilder, die in ihrer fotografischen Direktheit Angst auslösten. Statt einfacher, niedlicher und farbenfroher Illustrationen nun ernste, düstere Bilder, denen man nicht ausweichen konnte. Durfte man die ja immer noch unfaßbaren Ereignisse aus Auschwitz, Treblinka, Theresienstadt oder Majdanek überhaupt so unmittelbar darstellen? Innocenti, der italienische Illustrator, hatte mit diesen Bildern ein deutsches Tabu der frühkindlichen Erziehung in den Wohnungen, Kindergärten und Vorschulen gebrochen: das Verschweigen des Nazi-Terrors, um Kinder vor der grausamen Realität abzuschirmen. Seine Bilder waren der Finger in der offenen Wunde. Mit dem Erschrecken über diese Bilder setzten Bemühungen ein, Innocentis Buch Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit abzusprechen. ‘Da arbeitet einer mit allen optischen Mitteln, drückt aufs Gefühl, fabriziert Politkitsch in reinster Form und ohne Rücksicht auf historische Details, kopiert dafür zeitgenössische Photos und kalkuliert mit der Verführbarkeit der Erwachsenen von heute.’ Die kontroverse Diskussion um Innocentis Buch, die zwischen 1986 und 1987 in der Bundesrepublik Deutschland geführt wurde, machte vor allem die Unzulänglichkeiten der deutschen Bilderbuchkritik deutlich. Es gab kaum eine genaue Analyse der Bilder und der darin erzählten Wirklichkeit. Man war nicht in der Lage, das wirkliche Anliegen von ‘Rosa Weiss’ herauszuarbeiten; stattdessen versteifte man sich auf die Frage, ob das Buch überhaupt in die Hände von Kindern gelangen durfte. Es hätte schon genügt, wenn man einen einzigen Satz Roberto Innocentis zur Kenntnis genommen hätte: ‘Ich habe | ||||||||||||
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versucht, in Bildern einzufangen, wie ein Kind Krieg erlebt, ohne wirklich zu begreifen.’ Aus diesem Zitat geht hervor, daß es Innocenti keineswegs um die exakte historische Rekonstruktion ging, nicht um Authentizität, sondern um eine fiktive Geschichte mit historischem Bezug. Das läßt sich auch an den Bildern nachweisen. In gewollter und beklemmender Nähe zu den Dokumentaraufnahmen aus Konzentrationslagern entwirft Innocenti das Bild der gefangenen Kinder, denen Rosa eine Scheibe Brot durch den Zaun zusteckt. Um das Leiden der Kinder im KZ heutigen Kindern zu vermitteln, hat der Künstler den Realismus der Fotodokumente beibehalten. Die Gruppe der sieben Kinder hinter dem Stacheldraht ist von Innocenti absichtsvoll semidokumentarisch dargestellt worden; er will damit einen Bezug zu den historischen Ereignissen der Nazizeit herstellen. Das fotografische Zitat ist ein Beleg dafür, daß es diese Greueltaten tatsächlich gab. Aber gleichzeitig gibt es eine zweite fiktive Bildebene. Der in Braun, Grau und oliv gemalten Personengruppe hinter dem Zaun stellt Innocenti seine Hauptfigur Rosa Weiss als Kontrast gegenüber. Sie hat blonde Haare mit einer leuchtend roten Schleife und trägt einen rosafarbenen Rock. Sie kniet dieseits des Zaunes, die jüdischen Kinder stehen auf der anderen Seite. Und doch fügt Innocenti diese beiden Bildebenen zusammen durch die Geste der Hilfe, durch die entgegengestreckten Hände. Das Bild verweist in dieser Montage aus Dokumentation und Fiktion auf mehrere Aspekte: Es erzählt die Geschichte eines hilfsbereiten und helfenden Kindes. Dabei wird es unwichtig, ob es dieses Mädchen wirklich gab oder ob eine solche Form der Hilfe im ‘Dritten Reich’ möglich war. Das Bild erzählt auch vom Leiden jüdischer Kinder vor rund einem halben Jahrhundert in Deutschland. Hier ist das Bildzitat bedeutsam: Dieses Leid gab es wirklich, überall und tausendfach in den Lagern. Eine ganz ähnliche Verbindung aus Dokumentation und Fiktion verwendet Innocenti in einem weiteren Bild. Die weltweit veröffentlichte Fotografie entstand bei der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943. Innocenti arbeitet dieses Foto in seine Geschichte ein, um die Brutalität der deutschen Wehrmacht gegenüber Kindern vor Augen zu führen. So bietet ‘Rosa Weiss’ durchdachte, kluge Bildkonzepte, in denen Emotionalität und historische Aufklärung zusammenkommen. Wenn es zur Tradition der deutschen Bilderbuchkritik gehören würde, genauer hingesehen, Bilder auf ihre ästhetische und kritische Struktur hin zu untersuchen, dann hätte ‘Rosa Weiss’ als ein wichtiges Buch für Kinder erkannt werden müssen. So wurde es nur als ein historisch falsches und für Kinder daher ungeeignetes Bilderbuch eingestuft. | ||||||||||||
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Binette Schroeder Der Froschkönig', 1989Kinder lernen heute, vor allem über die mediale Kultur, ganz unterschiedliche Formen von Bildern kennen, Bilder, die völlig anders aufgebaut, gegliedert und gestaltet sind als noch vor 20 oder 30 Jahren. Das traditionelle, in sich abgeschlossene Einzelbild, das fest umrandet ist und eine eindeutige Komposition besitzt, ist in der ästhetischen Umwelt des Kindes längst nicht mehr die dominierende Bildform. Die Massenmedien bieten Kindern viel spannendere, interessantere und oft viel ehrlichere Bilder als das Bilderbuch. Aber noch immer verdrängen die Erwachsenen, die Illustratoren, die Verleger und die Eltern die veränderte Medienrealität der Kinder und wollen nicht wahrhaben, daß sich die ästhetischen Maßstäbe der Heranwachsenden viel eher an den Bildern der Massenmedien, vor allem an Fernseh- und Computerbildern, entwickeln als an den rückwärts gerichteten Illustrationen der meisten Bilderbücher. Immer noch beharrt man auch bei den Verlagen auf der unsinnigen Trennung von Bilderbuch auf der einen Seite und Massenmedien auf der anderen. Ich denke, daß ein Grundproblem der Bilderbuchillustration und ihrer Beurteilung noch immer in der Ausklammerung und Negierung des Medienalltags und der Mediensprache liegt. Die veränderten Bildkonzeptionen, die Kinder aus dem Fernsehen, der Werbung, von Plakaten und Zeitschriften kennen, dringen nur langsam und mühselig ins Bilderbuch ein. Es gibt wohl kaum ein anderes Märchen der Brüder Grimm, in dem Handlungsverläufe, Zeitabfolgen und Prozesshaftigkeit eine so große Rolle spielen wie im ‘Froschkönig’. Die goldene Kugel fällt ins Wasser, der Frosch taucht auf, er taucht unter, er holt die Kugel aus dem Wasser, er verfolgt die Prinzessin, er wird voller Ekel an die Wand geworfen und verwandelt sich schließlich in einen Königssohn - ein Märchen mit einer dynamischen Erzählstruktur. Im letzten Jahr hat Binette Schroeder das Märchen der Brüder Grimm neu illustriert. Sie verweigert sich der Einzelbilddarstellung und gliedert den Text in zwei Bildphasen: Während links die Kugel ins Wasser fällt, taucht in der rechten Bildhälfte der Frosch auf, stellt seine Bedingungen und holt die Kugel aus dem Wasser. Beide Bildphasen setzt die Illustratorin direkt ohne Trennlinie nebeneinander, nur die Buchmitte schafft eine gewisse optische Unterbrechung. Beide Brunnenmauern berühren sich wie in einem Bild, und es soll ja auch ein Bild bleiben. Es ist keine visuelle Hilfe oder Erklärung nötig, warum dasselbe Motiv in einem Bild zweimal auftritt, ja eigentlich viermal, denn die rechte Bildhälfte wird abermals in drie Segmente gegliedert. Die sequenzhafte Bildwahrnehmung gehört heute längst zur vertrauten ästhetischen Erfahrung der Kinder. Die Illustratorin wählt eine Bildform, die dem Märchen und der Wahrnehmung der Kinder unmittelbar | ||||||||||||
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entspricht: Sie zeigt in einem Bild mehrere Phasen des Handlungsverlaufs, sie entwirft quasi zum Stillstand gebrachte Einzelbilder einer filmischen Bildfolge. Die Verbindung aus Einzelbild und Bildsequenzen erlaubt es, Zeitstillstand und Zeitverlauf gleichzeitig im Bild darzustellen. Das hat m.E. bisher nur Maurice Sendak versucht. Binette Schroeder nutzt die medialen Seherfahrungen der Kinder, ohne lediglich einen Comic Strip zu entwerfen. Sie entwickelt vielmehr eine neue Erzählform, in der bildnerische und filmische Ausdrucksmittel zusammenfließen. Es wäre falsch, diese Bilder nur als Daumenkino zu bezeichnen, denn es bleiben immer raffiniert komponierte Einzelbilder, die für sich stehen können. Wenn die Illustratorin die Mediensprache benutzt, dann aber nie kopierend, imitativ, sondern immer nur als Anregung für eigene bildnerische Konzeptionen. Das wird auf dem Höhepunkt der Bilderzählung besonders deutlich. Die Verwandlung des garstigen Frosches in einen ‘Königssohn mit schönen und freundlichen Augen’ erfolgt in acht Bildphasen, die dramaturgisch klug gestaltet sind. Der Ablauf des Geschehens beginnt mit zwei schmalen, noch sichtbar abgegrenzten Bildstreifen: Mit Ekel betrachtet die Prinzesin den Frosch und hebt ihn mit spitzen Fingern an. Der Moment, in dem sie den Frosch an die Wand wirft (mit der Absicht ihn zu töten), erhält im Bild schon mehr Raum. Während sie selbst in dieser dritten Phase noch sehr genau gezeichnet wird, löst sich die Bildfläche um den Frosch herum aber auf, freie Pinselstriche lösen die Einteilungen in Bildstreifen auf, die Dramatik der Szene läßt keine feste Konturen mehr zu, keine klaren formalen Ordnungen. Die Metamorphose des Frosches vollzieht sich ohne Übergänge, in einem magischen grünen Fantasieraum. Die malerischen Mittel können diesen irrealen Vorgang überzeugender ausdrücken als eine filmische Abfolge in getrennten Einzelbildern. Erst am Schluß, als die Verwandlung abgeschlossen ist, wird die Bildordnung der ersten beiden Streifen wieder hergestellt. In dieser Verbindung aus Statik und Bewegung, aus Magie und Wirklichkeit, aus Filmstreifen und großem Gemälde liegt die Besonderheit dieser Märcheninterpretation. Auch an diesem Beispiel erkennen wir, daß die Beurteilung der Bilderbücher Schritt halten muß mit der Entwicklung der Bildsprache. Um die Komplexität der Bilder zu verstehen, muß das Instrumentarium für die Beurteilung erweitert werden. | ||||||||||||
Jörg Müller / Jörg Steiner: ‘Aufstand der Tiere oder die neuen Stadtmusikanten’, 1989Auch dem dritten Beispiel liegt ein grundsätzlich anderes Verständnis von Illustration zugrunde. Das Buch transponiert das Märchen der Brüder Grimm ‘Die Bremer Stadtmusikanten’ in eine beklemmend perfekte, artifi- | ||||||||||||
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zielle Medienwelt. Die Helden der Geschichte, bei den Grimms noch Tiere aus Fleisch und Blut, sind nun Produkte der Kunstwelt, der Werbung, vermarktete Abziehbilder, wie sie jedes Kind auf seiner Schultasche oder dem T-Shirt trägt, wie es sie an den Plakatwänden oder im Werbefernsehen täglich sieht. Das Buch beginnt gleich mit ‘verschneiten’ Fernsehbildern, mit einer Art Bildstörung. Es ist tatsächlich kein Bild zu sehen; und doch sehen wir ein vertrautes Bild aus einem Fernsehgerät nach Sendeschluß. Zum ersten Male ersetzt ein Illustrator die Bilderbuchsprache durch die der Massenmedien. Andere Illustratoren wie Maurice Sendak oder Heinz Edelmann haben die Massenmedien, ihre Ästhetik und Figuren, zitiert, aber Jörg Müller zeichnet, sprüht und malt Bilder ausschließlich in der glatten, kühlen, perfekten Ästhetik der TV- und Computerbilder. Zum ersten Male hat ein Illustrator die typischen Merkmale des traditionellen Bilderbuchs radikal über Bord geworfen. Das Ergebnis ist ein Fernsehfilm in Form eines Bilderbuchs. Die Bildfläche ist gewölbt wie die Oberfläche eines Monitors, verzerrt wie der Blick durch eine spezielle optische Linse. Unzählige Spotlights erhellen den dunklen Bühnenraum, in dem die vier Tiere Musik machen. Nicht sie selber sind dabei wichtig, sondern ihre medial vergrößerten Abbilder auf dem Bildschirm. Wir sehen die Reproduktionen von Abziehbildern. Die gesamte Szene ist aufgebaut wie ein inszeniertes Medienspektakel. Müller gibt hier alle so mühsam behaupteten Gesetzmäßigkeiten der Bilderbuchsprache auf. Seine Bilder haben nichts mehr mit den Bildformen des 19. Jahrhunderts zu tun wie bei Janosch oder Helme Heine, sondern sind ein Spiegel unserer Medienwirklichkeit. Es sind schrill-farbige Bilder, anonym, reproduzierbar, glatt und banal. In diesen Bildern will auch nichts mehr originell oder künstlerisch im traditionellen Sinn sein - alles ist unecht und doch zugleich real. Auch die Motive der Medienwelt, wie hier ein künstliches Monster, sind in diesem Bilderbuch existent. In einem fast schwarzen Bild ragt das Ungeheuer bedrohlich auf, gleichzeitig ist es als Produkt eines Studio-Horrors erkennbar. Dunkle, düstere Bilder voller Schrecken sind in der Beurteilung von Bilderbüchern immer auf heftige Kritik gestoßen. Und so wundert es nicht, daß Kritiker auch über dieses Buch gestolpert sind: ‘Ich frage mich, ob das eigentliche Zielpublikum, die Kinder, letzlich nicht etwas zu kurz kommt, trotz der hervorragenden Zeichnungen.’ Aber es gibt noch weitergehende Kritik: ‘Dieses Buch zeigt einmal wieder, mit welcher Gewalt die Erwachsenen ihre problembeladene Welt in die der Kinder hineinpressen, als ob sie alles dafür tun wollten, um das Paradies, das Kinder für ein kräftiges Heranwachsen doch brauchen, endgültig unbelebbar zu machen.’ Immer wieder bricht das Vorurteil durch, daß Bilderbücher einen paradiesischen Zustand darstellen sollten. Die unterschiedlichen Funktionen von Illustrationen für Kinder | ||||||||||||
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sind offensichtlich nicht im Bewußtsein der Kritiker. Bilder können (und sollen natürlich) Kinder entlasten, ihnen Entspannung und Wohlbefinden bieten. Aber daneben haben Bilder und Bilderbücher auch wichtige andere Funktionen. Sie haben die Aufgabe, die Wahrnehmung der Kinder zu sensiblisieren, sie zu bildnerischer Neugier zu führen, indem sie ihnen überraschende, andere, fremde Bilder vor Augen führen. Das geschieht in diesem Medien-Buch allemal: alle Kinder, die dieses Buch in die Hände nehmen, sind von der im Bilderbuch ungewöhnlichen Darstellung spontan fasziniert. Weil es neu ist, aber auch, weil sie Bilder aus ihren eigenen Erlebnisbereichen wiedererkennen. Das Buch knüpft an den Seherfahrungen der Kinder an, liefert ihnen also Bilder aus dem eigenen ästhetischen Erfahrungsbereich, aber es geht darüber hinaus. Es bildet die manipulierte Mediengesellschaft nicht nur ab, sondern entwirft die Schreckenvision einer synthetischen Welt in übertriebener Form. Damit erfüllt es eine utopische Funktion. Indem Jörg Müller die Mittel der medialen Ästhetik noch perfekter, noch steriler und noch bestechender einsetzt, zeigt der Illustrator die Gefahr der völligen Mediatisierung des Lebens auf. Das wird auch Kindern von einem bestimmten Alter an bewußt. Auch sie erkennen, daß hinter dieser bestechenden Glätte und Perfektion eine gefühlsarme Welt liegt. Die Auseinandersetzung mit diesem Buch zeigt, daß die Maßtäbe der Bilderbuchbewertung tatsächlich ganz grundsätzlich zu verändern sind: Sie sind aus der genauen Kenntnis der veränderten kindlichen Erfahrungs- und Lernformen im ästhetischen Bereich neu zu bestimmen. D.h. die Kriterien zur Beurteilung von Bilderbüchern haben sich an der Gegenwart der Kinderkultur und nicht an ihrer Vergangenheit zu orientieren. Sonst hinken sie den Kindern und den Büchern ständig hinterher. | ||||||||||||
Eine kurze BilanzMit diesen Illustrationsbeispielen wollte ich auf den mangelhaften Zustand der Bilderbuchkritik mit ihren überholten Methoden der Analyse und Beurteilung aufmerksam machen. Es ging mir darum, auch die historisch bedingten Ursachen solcher Defizite vor Augen zu führen. 1990 bedürfen immer mehr Bilderbücher anderer, neuer Methoden der Analyse, die aus den verschiedenen Fachdisziplinen entwickelt werden müssen. Schon lange gibt es Bilderbücher, die viel interessanter, viel klüger und viel anregender sind als ihre Besprechungen, die nur an der Oberfläche bleiben. Es sind ja vor allem die Kinder, die durch diese Defizite benachteiligt werden, denn sie bekommen nicht die Bilderbücher, die sie verdienen. Und an die wichtigen Bücher, die es gibt, kommen sie oft nicht heran, weil die Kritiker, die Pädagogen und die Eltern mit den Büchern nichts anzufangen wissen, weil sie sie dann, als | ||||||||||||
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Ergebnis ihrer Hilflosigkeit, für unkindgemäß halten. Was fehlt, zumindest bei uns in der Bundesrepublik Deutschland, ist eine systematische und kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Bilderbuch in Theorie und Praxis. Erst, wenn das Bilderbuch als eigene künstlerisch-literarische Gattung mit eigenen Erzählformen, einer eigenen, spezifischen Dramaturgie ausgewiesen und anerkannt ist, wird sich die hier beschriebene Situation ändern können für Illustratoren, für Verleger, für Käufer und Kritiker und natürlich für die Kinder. | ||||||||||||
LiteraturhinweiseVgl. Detlef Hoffman / Jens Thiele (Hg): Künstler illustrieren Bilderbücher, Ausstellungskatalog, Oldenburg 1986
Werner Jahrmann, in: der Evangelische Buchberater, Heft 1/1985, S. 56
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