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E.J. Gumbel
Klassenkampf und Statistik
Eine programmatische Untersuchung
III. Moralstatistik.
Kein Gebiet der Statistik ist so sehr durch natürliche Grenzen eingeengt, wie die Moralstatistik. Denn die Statistik kann selbstverständlich keine sittliche Charakterisierung geben; zunächst schon, weil solche Charakterisierung durchaus relativ, darüber hinaus, weil moralische Leistungen nicht als Massenerscheinungen zahlenmässig gemessen werden können. Wohl aber kann sie von Dingen berichten, die ein moralisches Interesse haben. Allerdings hat die Moralstatistik einen wesentlich negativen Charakter. Eine weitere Hemmung ergibt sich aus dem wesentlich sekundärstatistischen Charakter der Moralstatistik. Sie muss sich stützen auf nicht statistische, verwaltungsmässige Erhebungen insbesondere juristischer Natur, und hierdurch wird die Moralstatistik nicht nur eine Statistik des an sich moralisch Interessanten, sondern auch ein Ansatz zu einem moralischen Gradmesser einer Gemeinschaft. Aber nicht in dem Sinn, dass man aus ihr - wie dies naive Beobachter meinen mögen - etwas über den moralischen Charakter einer Bevölkerung aussagen kann. Sie gibt umgekehrt ein Mass der Diskrepanz zwischen den nun einmal im Menschen vorhandenen und durch das Wirtschaftssystem geweckten Trieben und dem Charakter der Zwangsorganisation, die die jeweils herrschende Klasse ihm überordnet. Somit und nur somit können wir die Moralstatistik auch zur sittlichen Charakterisierung des Kapitalismus verwenden.
Moralstatistisch interessant kann für uns auch die Berufsstatistik werden. Denn es gibt Berufe, deren statistische Erfassung spezifisch soziale Schwierigkeiten bietet. Abgesehen von den nicht offiziell angegebenen Berufen, wie etwa Berufsdiebe. Berufseinbrecher, Zuhälter usw., gibt es Berufe, die obwohl nicht strafbar, doch als sittlich anstössig gelten, wie die Prostitution. Wenn etwa in einer offiziellen Statistik von den Tausenden von Prostituierten, die die Grosstä;dte bevölkern, die Rede ist, so mag es vorkommen, dass der oberste Statistiker seinen Posten verlassen und der betr. Band eingestampft werden muss.
Das Hauptgebiet der Moralstatistik ist die Kriminalstatistik. Hier ist zu fragen, ob die Statistik ein Mass der wirklichen Verfehlungen gibt. Selbstverständlich kann die offizielle Kriminalstatistik nur die entdeckten und juristisch verfolgten Verbrechen behandeln. Hier ist unter Umständen Platz für private Ergänzungen, welche die Dinge aufdecken, die offiziell nicht wahr sein sollen. Zwischen der wirklichen Verfehlung und der durch die offizielle Statistik erfassten klafft eine Lücke. Beide müssen nicht proportional gehen. Die Erfassung hängt vielmehr sowohl vom Charakter der Tat wie vom Charakter des Täters ab: ‘Die kleinen Diebe hängt man, die grossen lässt man laufen.’ Endlich gibt es Verbrechen, bei denen ein sozusagen moralisches Interesse besteht, dass sie nicht allzu sehr bekannt werden, wie z.B. die Abtreibung.
Ob also ein fester Prozentsatz zwischen begangenen und ermittelten Verbrechen besteht, ist zweifelhaft. Durch den Klassen-kampfcharakter der Justiz ist der Klassen-kampfcharakter der Moralstatistik bestimmt. Ihr Klassencharakter ist also nicht originär. Die Moralstatistik gibt auch deswegen keine Möglichkeit der Erfassung der Moral, weil wir kaum die Möglichkeit der Erfassung individueller Motive haben. Wohl aber haben wir einen gewissen Einblick in die sozialen Ursachen.
Die Kriminalstatistik lässt den zerstörenden Einfluss erkennen, den die jetzige Verteilung des Eigentums und die hieraus erwachsenen Gesetze mit sich bringen. Dass ein grosser Teil der Verbrechen hierauf zurück-zuführen ist, ist altbekannt. Ein so konservativer Gelehrter wie Georg v. Mayr (Die Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben)kam schon 1877 zu der bemerkenswerten Folgerung: ‘Es hat in der Periode von 1855-1861 im bayrischen Gebiet diesseits des Rheins so ziemlich jeder Sechser, um den das Getreide (durch Zoll) im Preis gestiegen ist, auf je 100.000 Einwohner einen Diebstahl mehr hervorgerufen, während andrerseits das Fallen der Getreidepreise um einen Sechser bei der gleichen Zahl von Einwohnern je einen Diebstahl verhütet hat.’
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Genau wie in der Bevölkerungsstatistik, so gibt es auch in der Moralstatistik einen Pfad, der den Kapitalismus aus solchen Folgerungen retten will. Hier ist es die Lombroso'sche Lehre vom geborenen Verbrecher. Danach stellt der Verbrecher einen spezifisch, biologisch definierten Teil der Gesamtbevölkerung dar, etwa wie die Rothaarigen. Er hat eine bestimmte Erbmasse und soziale Einflüsse können höchstens bewirken, in welche Richtuug das Verbrechen geht. Nun gibt es zweifellos Verbrechen, besonders solche, die einen Beruf darstellen, zu denen eine ganz bestimmte Anlage gehört und die ohne diese Anlage nicht denkbar sind. Aber dieser Gedankeugang ist doch zu praktisch für den Kapitalismus, um wahr sein zu können. Denn er befreit ihn von jeder Schuld.
Dieser Lombroso'schen Lehre steht die Auffassung gegeuüber, wonach alle heutigen Verbrechen auf der kapitalistischen Gesellschaftsordnung beruhen.
Beide sind zu verwerfen, denn es gibt zweifellos Verbrechen, wie etwa die auf sexueller Basis, Vergewaltigungen, Eifersuchtsdramen etc., die den Sturz des Kapitalismus überleben werden. Sie werden natürlich ihre Form ändern. Vielleicht werden sogar neue Verbrechen auftauchen. Eine Untersuchung, ein wie grosser Teil der vorhandenen Verbrechen auf die kapitalistische Gesellschaftsordnung allein zurückgeht, ist zwar ausserordentlich schwer, aber ihre Durchführung ist zu fordern.
Nur vou diesem Standpunkt, wonach die Höhe der Bestrafungen ein Anzeichen des Widerspruchs des herrschenden Systems mit den Trieben der Menschheit ist, interessiert uns die Bestandsmasse der Gefängnisbevölkerung, oder die hieraus mit Hilfe der Absterbeordnung zu berechnenden Zahl der Bestraften in der Gesamtbevölkerung. Von besonderem Interesse ist auch die Zahl der Rückfälligen, da sie ein deutliches Anzeichen dafür ist, wie der einmal Bestrafte - ob zu Recht oder Unrecht, steht dahin - keine Möglichkeit der Rückkehr in die ‘geordnete’ Gesellschaft mehr hat.
Innerhalb der Justizstatistik interessieren uns auch die Methoden des Strafvollzugs, weil sich hier sozial bedingte interessante Differenzierungen zeigen. Hierunter fallen die Amnestien, weil sowohl der Zeitpunkt wie die Ausdehnung einer solchen Amnestie ein wesentliches Mittel des Klassenkampfes werden kann. Vielfach wird als Mass der Ausdehnung einer Amnestie die Zahl der von ihr Betroffenen angeführt. Entsprechend pflegt man häufig der Zahl der Verurteilten die Zahl der Begnadigten gegenüberzustellen, um so zu ermitteln, ein wie grosser Teil der Verurteilten begnadigt wurde. Dies ist irreführend, weil es nicht auf die Zahl der Verurteilten und Begnadigten, sondern auf die Dauer der Verurteilungen und die Dauer der verbüssten Jahre, also auf die Zahl der begnadigten Jahre ankommt.
Ein in Zeiten akuter Klassenkämpfe besonders interessantes Gebiet der Statistik ist der politische Mord. Zwar spielt dieser bei der Todesursachenstatistik keine Rolle, wohl aber bei der Kriminalstatistik.
Der politische Mord ist zu definieren als ein aus politischen Gründen begangener Mord, wobei aber auch unpolitische Nebengründe auftreten können. Wesentlich ist die Unterscheidung des politischen Mordes von den bei Strassenkämpfen, kampfähnlichen Handlungen oder Demonstrationen Gefallenen einerseits und den Opfern standrechtlicher Gerichte andrerseits. Dabei fällt natärlich das Mass der Legalität solcher Gerichte stark ins Gewicht. Zweifelhaft wird die Zugehörigkeit zum Begriff des politischen Mordes in den Fällen, in denen die schiessende Partei behauptet, angegriffen worden zu sein. Ein andrer schwieriger Punkt sind die Lynchungen. Hier wird man vor allem zu unterscheiden haben, ob dieselben von einer Masse, innerhalb deren die Disziplinargewalt gilt, vorgenommen wurden oder nicht. Der erstere Fall dürfte mit zu den politischen Morden zu rechnen sein.
Bei politischen Morden selbst ist zu unterscheiden, ob sie revolutionär oder konterrevolutionär sind. So einfach diese Unterscheidung auch scheint, so bietet sie doch Schwierigkeiten, da man sowohl die politische Stellung des Täters wie die des Ermordeten als Ausgangspunkt nehmen kann und je nachdem zu ganz verschiedenen Resultaten kommt. Ferner wäre zu unterscheiden nach Methoden der Morde, wobei man geeigneterweise auch Urteile der Gerichte zugrunde legen kann. In diesen Methoden nämlich spiegeln sich selbst ganz spezifische Fiktionen wieder. Ferner sind die Morde zu
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unterscheiden je nach dem Grad der Vorbereitungen zu ihnen. Als höchste Form dürfte der Fememord betrachtet werden, bei dem der Mörder Angehöriger derselben politischen Geheimorganisation ist wie der Ermordete.
Dies waren einige Beispiele, wo die Moralstatistik vom Standpunkt des Klassenkampfes interessant ist. Prinzipiell ist die Güte einer Kriminalstatistik ein partielles Anzeichen für die Schärfe des Klassencharakters eines Staates. Es ist sicher kein Zufall, dass das zaristische Russland eine geradezu ideale Ordnung des statitischen Urmaterials der Kriminalstatistik besass.
IV. Das wesentlichste Gebiet, wo die Resultate der Statistik für den Sozialisten interessant, ja ausschlaggebend sind, ist die Wirtschaftsstatistik. Hier ist es vor allem die Dynamik der Ereignisse, die uns interessiert, die Aufdeckung der Entwicklungstendenzen und der Nachweis kausaler Beziehungen.
Die Wirtschaftsstatistik wäre nach ihrem Programm der Ausgangspunkt für eine Nachprüfung der sogen. Gesetze der Nationalökonomie. Diese deduktiven Ableitungen von Gesetzen der Preis- und Einkommensbildung, von Gesetzen des Wirtschaftslebens, welche unter der Annahme der Herrschaft des ökonomischen Prinzips, unbeschränkter wirtschaftlicher Freiheit und freier Konkurrenz oder unter dem Einfluss von partieller Ausschaltung dieser Prinzipien oder endlich - und dies ist das Wesentliche - unter dem Einfluss bestimmter Konzentrationsformen herrschen sollen, haben aber mit den aus der Empirie gefundenen Tatsachen heute noch fast keinen Zusammenhang. Und zum Teil können sie es nicht haben, weil sie keinen zahlenmässigen Charakter tragen. Deswegen können sie durch die Tatsachen weder bestätigt noch widerlegt werden. Denn der Wirklichkeit fehlen alle Voraussetzungen der reinen Theorie, insbesondere die Möglichkeit, einzelne Faktoren zu isolieren. Die Statistik liefert eine Reihe konkurrierender Faktoren. Sie kann daher die Beweiskraft des abstrakten ökonomischen Gedankenganges im allgemeinen weder bestärken noch erschüttern. Denn ihre Regelmässigkeiten und Entwicklungstendenzen sind nicht die Gesetze, nach denen die Nationalökonomie fragt. Um die eigentlich naturgemösse Frage der Übereinstimmung von Theorie (Nationalökonomie) und Erfahrung (Wirtschaftsstatistik) lösen zu können, müssten beide Instrumente erst viel weiter entwickelt werden. Vielleicht geht die Brücke gar nicht in der heutigen Richtung.
Sie wird vermutlich führen von der mathematischen Theorie des Wirtschaftslebens zur mathematischen Statistik. So versagt die Wirtschaftsstatistik in dieser ihrer ersten Aufgabe und zwar aus methodologischen Gründen.
Eine wirklich durchgeführte Wirtschaftsstatistik hätte für uns aber noch eine zweite Bedeutung. Sie wäre eine Voraussetzung für eine durchorganisierte Planwirtschaft, da sie uns die notwendigen Angaben über die vorhandenen Produkte, Produktionsmöglichkeiten und Zahl der notwendigen Konsumptionsgüter liefern würde.
So hätte die landwirtschaftliche Statistik die Aufgabe, uns die Art der Bodenbenutzung, die Grösse der Anbaufläche und vor allem die Grosse der Ernte zu zeigen. Aber nirgends sind statistische Angaben so unsicher, wie auf diesem Gebiet. Denn das steuerliche Interesse steht in unlösbarem Widerspruch zum Interesse an der statistischen Wahrheit. Von einer wirklich durchgeführten Bestandsaufnahme war hier noch niemals die Rede. Vollkommen fehlt auch eine Aufstellung über die Rentabilität der Landwirtschaft. Ihr Zweck wäre, die verschiedenen Zweige der Landwirtschaft daraufhin zu untersuchen, welche Faktoren die Rentabilität beeinflussen, um so die verschiedenen Stufen zu vergleichen. Dies wäre der Ausgangspunkt einer wirklich rationellen Landwirtschaft.
Dieselben Gründe, welche das Fehlen einer landwirtschaftlichen Produktionsstatistik bewirken, verhindern erst recht die Aufstellung einer gewerblichen Produktionsstatistik, welche ausgehend von der in der Betriebsstatistik festgestellten Ausrüstung der Betriebe die gewerbliche Produktionsleistung erfassen sollte. Hierzu wäre Kenntnis des bearbeiteten Materials der hergestellten Erzeugnisse nach Art, Menge und Wert, ferner des Werts der empfangenen Hilfsarbeit nötig. Zweck wäre, zunächst die Bestimmung der Werterhöhung durch den Produktionsprozess, weitergehend die Pro-
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duktivität der gesamten Volkswirtschaft. Hier sind nur ganz primitive Ansätze vorhanden.
So versagt die Wirtschaftsstatistik in ihrer zweiten Aufgabe, weil das Bekanntwerden der Gesamtheit der Produktionsmittel dem Interesse der Besitzer dieser Produktionsmittel widerspricht.
Im folgenden haben wir mis daher auf die heute vorliegende Wirtschaftsstatistik zu beschränken. In ihr geht die Verwendung der Statistik als ideologisches Mittel des Klassenkampfes vielfach ganz unmittelbar über in die Verwendung zum praktischen Klassenkampf. Und in dieser Aufgabe pflegt die Wirtschaftsstatistik nicht zu versagen. Während dieses Moment innerhalb der Bevölkerungs- und Moralstatistik zwar eine wichtige aber nicht ausschlaggebende Rolle spielt, ist es innerhalb der Wirtschaftsstatistik der entscheidende Faktor. Angesichts der Unmöglichkeit, die ganze vorliegende Wirtschaftsstatistik zu betrachten, sollen nur einige wenige, aber wichtige Probleme hervorgehoben werden.
Ausgangspunkt jeder sozialistischen Forderung ist die Tatsache der ökonomischen Ungleichheit der Menschen. In der Frühzeit des Kapitalismus, als die politische Machtverteilung noch in deutlichem Widerspruch mit den Produktionsverhältnissen stand, hat die hieraus erwachsene Fordevung vielfach die Form der ‘Gleichheit vor dem Gesetz’ angenommen. Diese Formel schien den zwar wirtschaftlich inhomogenen, aber in ihren Bewusstseinsstufen noch undifferenzierten Massen der Opposition des Feudalismus wesentlich. Stärker als andere Beweismethoden zeigt uns die Wirtschaftsstatistik, dass diese Forderung längst überholt ist. Die strikt durchgeführte Gleichheit vor dem Gesetz hat weit mehr faktische Ungleichheiten geschaffen, als sie jemals in den Wirtschaftsstufen der Feudalzeit vorhanden waren. Die Verschiedenheiten der beruflichen Gliederung haben sich unerhöft vergrössert. Die beruflichen Gesamtheiten sind stärkere Gruppen geworden, als es jemals die alten Klassen und Zünfte waren. Arm und Reich unterscheiden sich stärker, als jemals in der Zeit der Ungleichheit vor dem Gesetz. Die Gleichheit vor dem Gesetz hat ihren Zauber verloren. Denn wie Anatole France gesagt hat, besagt sie nur, dass den Armen wie den Reichen verboten ist, unter Brücken zu schlafen oder Brot zu stehlen. Die kapitalistische Wirklichkeit hat uns gezeigt, dass mit dieser formellen Gleichheit die materielle Gleichheit nicht verbunden ist. Im Gegenteil, die sozialistische Lehre hat bewiesen, dass der kapitalistischen Wirtschaft ein ganz spezifisches Entwieklungsgesetz, nämlich die Verschärfung der Gegensätze innewohnt. Auch hier ist die Wirtschaftsstatistik Prüfstein.
Das angebliche Versagen dieser Verelendungstheorie spielt in der antisozialistischen Literatur eine grosse Rolle. Zwar hat sich die ökonomische Lage der Arbeiterschaft seit der Zeit des Kommunistischen Manifestes unzweifelhaft gehoben. Aber diese Fragestellung ist falsch gewählt. Worauf es ankommt ist nämlich, ob der Anteil der Arbeiterschaft am Gesamtprodukt sich gehoben oder gesenkt hat, oder anders gesagt, ob die Hebung seiner materiellen Lage genau so stark war, wie die Hebung der Lage der Bourgeoisie. Endlich müsste noch geprüft werden, ob der für Kulturbedürfnisse über die bare Lebenshaltung hinaus zur Verfügung stehende Teil des Lohnes gefallen oder gestiegen ist. Solche Untersüchungen liegen fast nicht vor, doch zeigen schon die geringen vorhandenen Ansätze, daß die Lage der Bourgeoisie sich in den meisten Ländern ausserordentlich viel stärker gehoben hat, als die der Arbeiter.
Einen Ersatz für diese Statistiken liefern die Statistiken der Einkommen- und Vermögensverteilung. Sie geben einen Aufschluss über die Konzentration, d.h. über die Frage, ein wie grosser Teil der Bevölkerung sagen wir die Hälfte des Einkommens oder des Vermögens der Gesamtbevölkerung besitzt. Bei einer gleichmässigen und bei einer zufälligen Verteilung besässe die Hälfte der Menschen auch die Hälfte dieser Beträge. Tatsächlich gibt es Verteilungen, bei denen noch nicht 10% der Bevölkerung die Hälfte des Vermögens besitzt. Da diese Tatsache wie keine andere geeignet ist, ein Argument für die sozialistischen Forderungen zu sein, so versteht es sich von selbst, dass die Einkommens- und Vermögensstatistiken nicht in der Form aufgestellt und publiziert werden, so dass dies ohne weiteres entnommen werden kann. Vielmehr pflegen solche Statistiken meistens in ausserordent- | |
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lich komplizierter Form aufgestellt zu werden. Wichtig ist übrigens die von Pareto gemachte Feststellung, dass es nicht gelingt, die Vermögensverteilung auf eine zufällige Verteilung zurückzuführen. Vielmelir gilt hier eine prinzipielle andere Verteilungsform. Das Maximum ist nicht in der Mitte, sondern am unteren Ende: die Ärmsten sind die Häufigsten.
Es interessiert, ob diese Verteilung stabil ist oder ob sie sich noch weiter zuspitzt. Die Besetzung der untersten Stufe nimmt natürlich absolut zu, da die Bevölkerung zunimmt. Daher muss gefragt werden, ob sie auch relativ zunimmt und ob sie stärker zunimmt als die Bevölkerung, ob also die plutokratische Entwicklung zunimmt, ob die Armen ärmer werden oder ob die absolute Höhe des Gesamteinkommens der obersten Schicht der Arbeiter sich hebt, wie dies in Amerika der Fall zu sein scheint, und ob diese Hebung in einem adäquaten Verhältnis zur Steigerung der Produktivität steht. Übrigens pflegen die vorhandenen Einkommensstatistiken insofern ungenau zu sein, als die niedrigsten Einkommen, da sie nicht von den Steuern erfasst werden, auch statistisch nicht erfasst werden. Über diese niedrigste Stufe wird man zu Ansätzen gelangen durch eine Armenstatistik, die die Zahl der unterstützten Armen im Prozentsatz der Bevölkerung gibt. Wenn man nicht von den Zensiten, sondern von der berufstätigen Bevölkerung ausgeht, wird die Konzentration viel stärker, als es nach den vorhandenen Statistiken scheint.
Eine noch stärkere Konzentration als das Einkommen der physischen weist übrigens das Einkommen der juristischen Personen auf. Hier gibt es Fälle von Konzentrationen, bei den en 1% aller Gesellschaften etwa 75% des Einkommens aller Gesellschaften besitzen.
Diese Untersuchung des Konzentrationsproblems führt schon infolge der steuertechnisch bedingten Ungleichheit der angewandten Stufen über den Bereich der gewöhnlichen Statistik hinaus in die mathematische Statistik.
Eine besondere Rolle hat in der letzten Zeit die Statistik des Aussenhandels gewonnen, da verschiedene Regierungen auf die einfachste Steuermethode der Geldverschlechterung zurückgegriffen haben. Daher musste die offizielle Presse die Inflation als Notwendigkeit hinstellen. Beweismethode war die Statistik. Die Begründungen der Inflation sind zo zahlreich, dass wir nicht alle auf ihren statistischen Kern hin untersuchen können. Daher sei nur eine behandelt. Sie lautete: passive Handelsbilanz, daher Notwendigkeit der Deckung der Aussenhandelsschuld durch das Drucken von Noten; hierdurch Entwertung der Währung, hierdurch Preissteigerung und die Notwendigkeit, den Staatshaushalt durch weiteres Notendrucken in Ordnung zu bringen.
Diese Argumentation interessiert uns, da die Inflation in den kapitalistischen Staaten auch ein spezifisches Mittel zum Drücken der Löhne ist. In ihr sind eine ganze Reihe von Trugschlüssen enthalten. Es genügt, auf die drei wichtigsten hinzuweisen. Die finanziell mächtigsten Staaten haben regelmässig eine passive Handelsbilanz, ohne dass jemals hieraus die Notwendigkeit der Inflation gefolgert worden wäre. Ein zweiter Fehler liegt in der unbewussten Identifikation von Handelsbilanz und Zahlungsbilanz. Endlich kann die Frage, ob die betr. Handelsbilanz in der Inflation überhaupt passiv war, mithilfe der in solchen Fällen aufgestellten Handelsstatistiken nicht ohne weiteres entschieden werden. Die Fehler solcher Inflationsstatistiken, welche die Grundlage dieser Behauptung lieferten, sind kaum zu zählen. Vor allem pflegen die Ausfuhrwerte nach Angaben der Exporteure, die an niedrigen Ausfuhrabgaben und Verhüllung der Kapitalflucht interessiert sind, ermittelt zu werden. Die ständig geübte Praxis der Zugrundelegung der nichtwährenden Papierwährung macht alle solche Berechnungen hinfällig. Wenn schon Goldwerte genommen wurden, so pflegen Friedensgeldwerte eingesetzt zu werden in Zeiten, in denen die Weltpreise äber der Friedensparität stehen, wodurch die Ausfuhr viel zu klein erscheint. Um zu exakten Angaben zu kommen, muss man die Angaben der Ausfuhrstatistik durch die von anderen Staaten gegebenen Angaben der Einfuhr in die wichtigsten Länder korrigieren. Dann zeigt sich, dass die Handelsbilanz in der Inflationszeit sehr wohl aktiv sein kann. Diese Begründung der Inflation ist also falsch.
Inflationen pflegen vielmehr begonnen zu werden um Kriege zu finanzieren. Die
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grossen Schuldner, der Staat, die Grossgrundbesitzer und die grossen Gesellschaften, merken dann bald, dass die Inflation ein sicheres Mittel ist, Goldschulden in wertlosem Papiergeld zurückzuzahlen. Sie haben ein grosses Interesse, dass diese einfache Bereicherungsmethode weiterbestehe. Denn in dieser Zeit können sie sozusagen von den Zinsen ihrer Schulden leben.
Selbstverständlich kann andrerseits auch ein kausaler Zusammenhang bestehen zwischen der Inflation und äusseren Lasten, die einem Land, sagen wir durch einen ungünstigen Friedensschluss, auferlegt werden. Solche Bedingungen lassen sich nämlich am leichtesten erfüllen, wenn man die Kosten auf die Schicht abwälzt, die den geringsten Widerstand leisten kann. Die einfachste Methode hierzu aber ist die Inflation.
Die Exporteure und der Teil der Grossindustrie, die ausschliesslich oder hauptsächlich für den Export arbeiten, haben kein Interesse an der Stabilisierung der Währung. Beruht doch ihre Konkurrenz-fähigkeit im Auslande nicht auf dem Tiefstand der Währung, nicht auf den niedrigen Produktionskosten und den geringen Reallöhnen, sondern auf der fortschreitenden Entwertung. Denn diese ist ein Mittel, um dauernd die Löhne zu drücken, d.h. den Anteil des Unternehmers am Produkt zu steigern. Fällt nämlich die Währung, so steigen zuerst die Grosshandelspreise, weil in ihnen am stärksten die ausländischen Preise eine Rolle spielen. Mit einer gewissen Verzögerung folgen die Kleinhandelspreise, noch langsamer die Löhne und Gehälter, am langsamsten die Bezüge der freien Berufe. Das Sinken der Währung ist also ein einfaches Mittel um die Löhne der Arbeiter zu drücken und billiger zu produzieren.
Dass die Inflation eine Quelle ungeheuren Gewinns war darf natürlich nicht bekannt werden. Daher die geschickt verbreitete Fiktion, dass durch die Inflation alle Kreise der Bevülkerung gleichmässig leiden. Und die einfache Argumentation, die Arbeiterschaft brauche nur länger und intensiver zu arbeiten, damit die Produktion erhöht und hierdurch das wirtschaftliche Gleichgewicht wiederhergestellt werde. Diese Mehrarbeit dürfe nicht durch erhöhte Lohnforderungen belastet werden, da sonst die zur Investierung notwendige Kapitalneubildung leiden würde. In Wirklichkeit war es, wenn irgend einer Schicht, so dem Unternehmertum und den Grossagrariern gelungen, die Vermögenssubstanz in der Vorkriegshöhe aufrecht zu erhalten, und zwar natürlich auf Kosten der anderen Schichten.
Die Mittel hierzu liefert die Papierdiskontpolitik der Zentralnotenbank, welche Wechsel in der Papierwährung diskontiert, welche dann vollständig entwertet zurückgezahlt zu werden pflegen.
Die Gewinne, welche den über genügend gute Beziehungen verfügenden Kreisen so durch die Inflation zufliessen, lassen sich nur ausserordentlich schwer abschätzen, da die Zentralnotenbanken in solchen Zeiten die wesentliche Grundlage dieser Rechnung, nämlich die Zahl und Höhe der Wechsel, streng geheim halten.
Schematisch lässt sich die Methode der Berechnung dieser Inflationsgewinne aber leicht aufstellen. Man braucht nur anzunehmen, dass ein Kaufmann, der über die nötigen guten Beziehungen zu Regierungskreisen verfügt, zu Beginn der Inflation eine bestimmte Summe, 1000 Einheiten in Gold gerechnet, borgt, das Geld zum Kauf von Waren verwendet, deren Preis nahe mit dem Kurs einer Goldwährung zusammenfallt, und dieselbe Papiersumme mit dem Zuschlag des Diskonts, also entwertet, zurückzahlt. Man lasse ihn damit fortfahren, sagen wir alle drei Monate, bis zum Schluss der Inflation und summiere seine Gewinne bezw. die Verluste der Zentralnotenbank. Vergleicht man dann für die einzelnen Zeiten die Gesamtwechselsumme der Zentralnotenbank in Gold gerechnet mit dem Mittelwert der Verluste pro Goldeinheit gerechnet, so hat man eine Anhäherung für die Grösse dieser Inflationsgewinne.
Als Gegengewicht gegen die durch die Inflation herbeigeführte Ausbeutung erschien es erstrebenswert, die Löhne nach der Indexziffer zu berechnen. Daher ist sowohl der Ausgangspunkt der Indexziffern, wie ihre Berechnungsmethode für den Klassenkampf politisch wie wirtschaftlich ausserordentlich wichtig.
(Schluss folgt)
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