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Kurt Schwitters
Anregungen zur Erlangung einer Systemschrift
Eigentlich ist eine Systemschrift nur ein Teilproblem
TABELLE, 1 A-F
innerhalb eines grossen Komplexes, der unter anderem Systemsprache und systematisches Denken umfasst. Aber das sind Aussichten in eine weit entfernt liegende Zukunft, und bevor es wirklich fertig vor uns steht, kann kein Mensch sagen, ob es eine Utopie ist oder nicht. Die Systemschrift aber ist bestimmt keine Utopie, und ich möchte eine Anregung geben, wie man sie erlangen kann, und wie sie ungefähr aussehen müsste.
Zunächst möchte ich den Einwand entkräften, dass wir solange ohne Systemschrift auskommen konnten, weshalb brauchen wir jetzt eine. Ich möchte demgegenüber sogar sagen, wir hätten sie schon einige Jahrzehnte nötig gehabt, und vielleicht sogar schon einige Jahrhunderte. Bestimmt ist aber in einer Zeit, die sich gezwungen sieht, alles zu normalisieren und in ein System zu bringen, die von dem System allgemein eine grössere Präcision und Bewusstheit in der Lebensführung erwartet und erreicht, eine Schrift, die nur ornamental gestaltet ist, ein Rest aus dem Mittelalter, der organisch nicht mehr in die Zeit passt. Es ist fast unerklärlich, dass dieselben Menschen, die heute schon nicht mehr in der elegantesten Pferdedroschke fahren mögen, eine Schrift benutzen, die aus dem Mittelalter oder dem Altertum stammt.
Denn unsere heutigen Schriften sind durchweg von der römischen Antiqua oder der gothischen Fraktur oder von beiden abgeleitet. Sie sind wesentlich historisch, statt wesentlich systematisch zu sein. Alle Versuche, zu neuer Schrift zu gelangen, beschränken sich darauf, 1.) die übernommenen Buchstaben durch schöne Verzierungen zu verzieren, 2.) durch Vereinfachung und Fortlassen alles Entbehrlichen zu der wesentlichen Form des Buchstaben zu gelangen, gewissermassen die geschichtlich gewordene Quersumme zu ziehen, 3.) durch Abwägen der Verhältnisse zu einer neuen, eleganten oder lebendigen Form zu gelangen. Je nach Veranlagung des Gestalters wurde mehr das eine oder andere Ziel oder mehrere Ziele erreicht. Wir haben eine Fülle von Schriften, aber alle sind historisch, keine ist systematisch. Wer aber würde heute den Ehrgeiz haben, ein Auto in seiner äusseren Form von der Form einer Droschke oder gar einer Sänfte direkt abzuleiten?
Um nun zu einer systematischen Gestaltung zu gelangen, muss man zuerst untersuchen, was Schrift ist. Schrift ist das niedergeschriebene Bild der Sprache, das Bild eines Klanges. Sie sehen, dass uns hier die Untersuchung weiterführt zur Untersuchung der Sprache, aber es ist nicht unbedingt erforderlich, wenn man die Aufgabe sich so stellt, dass man nur das systematisch vollendetste Mittel zu erlangen sucht, um bestehende Sprachen bildhaft auszudrücken. Wie auch immer die zu vermittelnde, zu übersetzende Sprache ist, die Schrift muss optophonetisch sein, wenn sie systematisch gestaltet sein will. Ich weiss, dass man schon längst versucht hat, zu erklären, weshalb gerade ein A so, oder ein N so aus- | |
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sehen muss, als optische Erklärung des Klanges. Trotzdem ist das nicht optophonetische Schrift, weil man jeden Buchstaben einzeln, bald nach diesem, bald nach jenem System erklärt, denn mehr als ein System bedeutet Systemlosigkeit. Systemschrift verlangt, dass das ganze Bild der Schrift dem ganzen Klang der Sprache entspricht, und nicht, dass hier und da einmal ein Buchstabe mehr oder weniger dem durch ihn dargestellten Laut entspräche, wenn er einzeln aus den Klang herausgenommen werden würde.
Um nun zu erreichen, dass das Schriftbild dem Sprachklang entspricht, muss man die Buchstaben untersuchen auf ihre Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten unter einander. In Tabelle 1 habe ich die Entwicklung meiner Versuche von der üblichen Groteskschrift a über die systematischen Schriften b bis e zu der Systemschrift f gezeigt. Bei a sehen Sie eine grosse Ähnlichkeit zwischen E und F und eine grosse Verschiedenheit zwischen E und O. Im Klange sind aber E und O verwandter als E und F. Da ist eine deutliche Unlogik, und so unterscheide ich zuerst zwischen Vokalen und Konsonanten. Denn alle Vokale sind unter einander ähnlicher,
als ein Vokal einem Konsonanten ähnlich wäre. In b habe ich alle Konsonanten mager, alle Vokale fett geschrieben. Aber zur deutlichen Trennung dieser 2 Gruppen schien mir das nicht zu genügen, daher habe ich in c, d, e alle Konsonanten mager und eckig, aber alle Vokale fett und rund geschrieben. Es war mir dieses nur möglich unter Zuhilfenahme des kleinen e und unter Verwendung eines ungebräuchlichen i, welches dem bisherigen j mehr ähnlich sieht. Bei der Form des I stütze ich mich auf die Tatsache, dass man in der lateinischen Schreibschrift diesen Buchstaben wesentlich so schreibt. Aber Sie werden sich überzeugen, dass man den Text trotzdem sehr gut liest. Man liest jetzt besser
TABELLE 2, 1-5
und vor allen Dingen plastischer, weil man die klangvollen Laute breit und deutlich sieht, die klanglosen matt. Das Bild der Schrift ähnelt schon viel mehr dem Klange. Die Unterschiede zwischen c, d und e sind, dass ich bei den Konsonanten bei c von den bisherigen Minuskeln, bei d von den Majuskeln mehr ausgegangen bin, e hingegen ist e, entstanden durch Auswahl der charakteristischsten Zeichen aus c oder d und durch stärkere Betonung der Vokale.
Diese Schriften a - e können von jedem ohne Weiteres gelesen werden und könnten leicht eingeführt werden. Denn die Zeichen für sch und ch können entweder schnell gelernt oder auch fortgelassen werden, indem man diese einfachen Laute, wie bisher, zusammengesetzt schreibt. Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit anregen, dass allgemein ein Zeichen für sch und ch eingeführt wird, denn die Abwesenheit eines Zeichens für diese einfachen Laute ist einer der grössten logischen und praktischen Mängel des Alphabeths.
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TABELLE 3, A-C
Nun zu f. Dieses ist das Alphabeth einer rein systematisch, einer rein optophonetisch aufgebauten Schrift. In Tabelle 2 sehen Sie unter 1 eine phonetische Ordnung aller deutlich unterscheidbaren Mitlaute, die der Mensch hervorbringen kann oder in der Sprache verwendet. Sie sehen 6 mal 6 Reihen, in denen von oben bis unten nacheinander eingereiht sind die Knacklaute weich, Knacklaute hart, Zischlaute weich, Zischlaute hart, Nasenlaute und Schwinglaute. Und zwar geben die senkrechten Richtlinien an, ob der Laut entsteht im Hals, hinteren Gaumen, mittleren Gaumen, vorderen Gaumen mit Zunge, an den Zähnen mit Zunge oder mit den Lippen. Ich habe hier ausdrücklich nicht den Klang, sondern den Ort der Entstehung in meine phonetische Ordnung eingereiht, und das hat 2 Gründe, dass auf die kleinen Nuancen keine Rücksicht genommen werden soll, und dass die Inflation der Laute ausgeschlossen wird. Prüfen Sie bitte die Reihe von h bis f nach. Dieses ist nach meinen Feststellungen die einzige Reihe, in der sich an allen vorher bezeichneten Stellen des Mundes Laute bilden lassen, die sprachlich verwendet werden. 8 Quadrate sind frei geblieben. Es war mir nicht möglich, an diesen Stellen die entsprechenden Laute zu bilden. Ob andere Nationen dort Laute bilden können, weiss ich nicht, aber es ist als immerhin möglich anzunehmen, und deshalb müssen für alle Quadrate die Zeichen einheitlich gestaltet werden. Die durch Hustelaut, Würgelaut, Brülllaut und Pferdelaut bezeichneten Quadrate enthalten zwar Laute, die ich bilden kann, aber es ist mir unbekannt, ob man sie in Sprachen verwendet. Betrachten wir nun die entstandene phonetische Ordnung, so sehen wir deutlich, dass es 2 th (englisch) gibt, weich und hart, dass es 2 j gibt, in dem deutschen Worte jedoch und in dem französischen jamais, dass es 2 ch gibt, in noch und mich, dass es ein Gaumen r und ein Zungen r gibt, dass ch, sch und ng
(Angel) nicht zusammengesetzte, sondern einfache Laute sind. Anderseits vermissen wir in der phonetischen Tabelle die Buchstaben z und x, weil das zusammengesetzte Laute sind.
In dem üblichen Alphabeth, etwa in dem Deutschen, wird alles das, was uns hier auffällt, nicht berücksichtigt. Sie sehen, wie weit das deutsche Alphabeth von einem System entfernt ist.
Jetzt bilde ich eine optische Ordnung von 6 Reihen von 6 Zeichen. Ich muss einen Grundsatz aufstellen: dass alle Zeichen für Konsonanten mager, eckig, rechtwinklig sein sollen, dass sie bestehen sollen aus nur einem senkrechten Strich von etwa 7 Höhenlängen und etwa einer Breiten länge, und dass an diesen senkrechten Strich unten, mitten und oben, rechts und links je nach Wahl Querbalken von je ½ bis 1 Breitenlänge angesetzt werden können, je nachdem die Schrift gross oder klein werden soll. (Doppencicero oder Nonpareille.)
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Nun entsprechen T und F meinem Gesetz. Ich
übernehme beide und bilde durch Spiegelung zunächst die 6 Zeichen von 2. In 3 bilde ich aus diesen 6 Zeichen durch Reihenbildung 18, und in 4 durch Vermittlung 36. Diese Liste 4 ist eine optische Ordnung von Zeichen nach einem formalen System. In Liste 5 ersetze ich nun die phonetische Ordnung 1 durch die optische Ordnung 4 und erhalte so eine optisch phonetische Ordnung der Konsonanten. Ich habe die unbrauchbaren Laute weiss gelassen, die im Deutschen ungebräuchlichen schraffiert und die deutschen Konsonanten schwarz angetuscht.
Die Vokale entwickle ich wieder aus der Entstehung. Ich bilde zunächst eine Reihe aller deutlich unterscheidbaren Vokale, von der breitesten Mundstellung über die grösste Rundung zur kleinsten Rundung, d.h. von ä über o zu ü. Denn ä, ö und ü sind nicht Umlaute, sondern sie sind den anderen Vokalen gleichberechtigt. Nur historisch sind es Umlaute.
Wenn man ä den Umlaut von a nennt, muss man a den Umlaut von e und e den von i neunen, u.s.w. Nun gibt es ein geschlossenes und ein offenes o und ö. Nur bei o und ö
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ist der Unterschied von geschlossen und offen so gross, dass ich diese 2 Laute trennen möchte. Ich nehme in meiner Reihe erst jedesmal den geschlossenen Laut, weil das der präcieseste ist. Dann ist meine phonetische Vokalreihe: ä a e i o o ö ö u ü. Betrachten Sie nun die Majuskeln A, O, U..., dann ergibt sich eine Reihe, die in der Mitte das ganz geschlossene Zeichen O hat, vorn beim A oben geschlossen, unten offen ist, hinten beim U umgekehrt. Ich übernehme A O U. Dann ergibt sich durch systematische Ausarbeitung vor dem A ein umgekehrtes U, vor dem U ein umgekehrtes A. Durch Vermittlung entsteht die Reihe der langen Vokale. Durch Fortnehmen einer halben Länge vorn entstehen die kurzen Vokale, durch Fortnehmen einer halben Länge hinten die nasalen.
Es ist selbstverständlich, dass sich nicht aus einem Buchstaben ein System frei und lückenlos ohne weitere willkürliche oder mindestens freie Wahl entwickeln und zur letzten Konsequenz führen lässt, auch wenn die Wahl nach System erfolgt. Trotzdem ist immer die grösstmögliche Konsequenz vorzuziehen, und es ist kein Fehler, dass der Weg zu weiterer konsequenterer Entwicklung offen bleibt. Dadurch bleibt das System lebendig. Meine Systemschrift ist, soviel ich es beurteilen kann, konsequenter und systematischer als alle mir bekannten Schriften. Ich weiss sehr gut aber, dass man noch daran arbeiten kann und werde das sogar selbst in aller Ruhe tun.
Nun gibt es noch zusammengesetzte Buchstaben. Ich lehne zunächst als unsystematisch eine Zusammensetzung von einem Konsonanten mit einem Vokal ab. Nur Vokale einerseits und Konsonanten anderseits setze ich zusammen. Alle zusammengesetzten Vokale sind zunächst kurz, und nicht lang, wie das die deutsche Grammatik meint. Das System der Zusammensetzung ist das, dass der hintere Vertikalstrich des ersten mit dem vorderen des zweiten Vokals verschmolzen wird zu einem. Dazu muss der zweite um 180 Grad herumgeklappt werden, sodass er dann das Aussehen des entsprechenden nasalen Vokals erhält.
Nun die zusammengesetzten Konsonanten. Da sich praktisch das ng nicht mit anderen einfachen Konsonanten verbindet, so habe ich 20 mal 20 Verbindungen im deutschen Alphabeth, von denen aber nur ein Teil gebräuchlich ist. Auf Tabelle 3 unter C sehen Sie die deutschen Zusammensetzungen von je 2 Konsonanten. Ich habe die gebräuchlichsten nach meiner Schätzung schwarz angetuscht. Aber es ist nutzlos, etwa die Zusammensetzungen zu lernen, denn ich habe eine Methode gefunden, nach der man ohne zu lernen, sofort lesen kann, wenn man nur die 20 Grundbuchstaben kennt. Nach meinem System wird der erste Buchstabe üblich gezeichnet, der zweite schräg nach rechts oben darüber gezeichnet, so dass die senkrechten Striche zusammenfallen. Sollen 3 Buchstaben zusammengesetzt werden, so wird der dritte über die Zusammensetzung der zwei ersten noch schräg nach links oben darüber gezeichnet.
Ob man nun zusammensetzt oder nicht, ist eine Frage der Deutlichkeit, denn es wird immer klarer sein, wenn man nicht zusammensetzt. Aber es geht nicht, dass man nur das ts gleich z und ks gleich x verwendet. Wenn man aber zusammensetzt, kann man nur zusammensetzen, was sich zusammen spricht. Konsonanten zweier Silben, die sich getrennt sprechen, können nicht zusammengesetzt geschrieben werden.
Um zu resumieren: Die Schriften a bis e sind reif zum Drucken, die Schrift f soll eine Anregung sein, soll einen Weg zeigen, auf dem man zu einer Systemschrift kommen könnte. Ich füge noch als Beispiele systematischer Schrift 2 Plakate hinzu, die in Frankfurt a.M. gehangen haben.
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