Germania. Jaargang 6
(1903-1904)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Georges Eekhoud
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Hülfe kann hier nur kommen, wenn die Vlamen neben das Französische und mit ihm gleichwertig eine andere Weltsprache stellen und zwar diejenige, die ihm so ausserordentlich nah verwandt ist, das Deutsche, das sich auf einen mitteldeutschen Dialekt aufgebaut hat, und das dem Niederländischen so nahe steht, dass man mühelos von der einen Sprache aus die andere ohne Unterricht erlernen kann. Wenn in den vlamischen Ländern sich zwei Weltsprachen gegenüberständen, so würden sie sich gegenseitig bekämpfen und die WageGa naar eindnoot1a halten, und das Vlamische selbst würde der lachende Dritte sein; der junge Vlame würde durchfühlen, dass er nicht mehr auf das Französische angewiesen ist. Er würde sich hingezogen fühlen zu dem verwandten, germanischen Deutschen; er würde aufhören, das Französische wie etwas unendlich überlegen zu bewundern; er würde sehen, dass es Sprachen giebt, die weiter verbreitet sind, als das Französische, mit einem Wort, er würde seiner eigenen Heimatsprache froh werden, und wenn er sich dieser Heimatsprache nicht bedienen kann oder nicht bedienen will, so würde er, so müsste er durch das geistig und sprachlich ihm nah verwandte Deutsche zur Welt reden. Ein solcher Einfluss des Deutschen wäre also zugleich ein grosser Gewinn für das Vlamische an sich. Der germanische Vlame ist kein Franzose wird kein Franzose und denkt niemals wie ein Franzose. Was von Frankreich kommt, tötet seine ureigenste Kraft. Was von Deutschland kommt, würde diese germanische Kraft auffrischen und stärken. Vlamische Dichtkunst, die im Französischen kaum wiederzugeben ist, lässt sich mit spielender Leichtigkeit ins Deutsche übertragen, da in beiden Sprachen sich dieselben Wortstämme finden und in [...] Volk[...]men dieselben Gedankenempfindungen herrschen. Unser Vorschlag geht also einfach dahin, die für die germanische Kultur gefährliche französische Kultur, da, wo | |
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man einer Weltsprachenvermittelung bedarf, durch das Deutsche zu ersetzen. Hätte man dieses vor 50 Jahren getan, so würde Rodenbach, Maeterlinck und Eekhoud niemals Französisch geschrieben, vielleicht Deutsch, wahrscheinlich aber Vlamisch. Eekhoud! wie germanisch-deutsch und vertraut uns schon dieser Name klingt. Eekholt würde der Westfale sagen, das heisst das Eichholz. Und dieser Mann dessen Vorfahren in einem niederdeutschen Eichenwalde sassen, schreibt - - - Französisch. Die Schriftleitung.
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Von den neueren belgischen Schriftstellern, die sich der französischen Sprache bedienen, sind nur wenige im Ausland bekannt geworden. Ausser Lemonnier, Eekhoud, Rodenbach und Maeterlinck dürfte kaum noch der eine oder andere in Literaturkreisen genannt werden. Man kann ja auch eigentlich kaum von einer belgischen Nationalliteratur in französischer Sprache sprechen, aber in den letzten Jahrzehnten haben sich die jungbelgischen Schriftsteller doch redlich bemüht, sich von Paris loszusagen, und sie haben immerhin eine Reihe von Werken hervorgebracht, die wenigstens den Anfang zu einer belgischen Heimatliteratur bilden. Rodenbach, der feinfühlende Dichter, ist früh gestorben, Maeterlinck beschränkt sich nicht auf seine Heimat, und Lemonnier hat sich schon längst nach Paris gewandt, und so ist Eekhoud der hervorragendste Vertreter jener Schar geblieben, die einst mit so vielem Mute das Banner der ‘Jeune Belgique’ entfaltet haben. Eekhoud ist neben Camille Lemonnier unstreitig der bedeutendste Prosaschriftsteller. Allerdings ist er nicht so vielseitig. Er beschränkt sich fast ganz auf seine engere Heimat, und | |
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zudem schildert er hier hauptsächlich die Ausgestossenen der unteren Stände, die Herumstreicher,Ga naar eindnoot1 die die Gesellschaft untergrabenGa naar eindnoot2 wollen, die unverbesserlichen Taugenichtse, und da, wo er dem Leser vlamische Bauern vorführt, kehrt er besonders ihren Fanatismus, ihre BeschränktheitGa naar eindnoot3 und gelegentlich auch ihre Roheit und GrausamkeitGa naar eindnoot4 hervor. Aber er ignoriert doch die guten Eigenschaften seiner Stammesgenossen nicht, und durch seine Werke ist die Eigenart des vlamischen Volkes in manchen Kreisen bekannt geworden, die sie bis dahin kaum zu würdigen wussten. Georges Eekhoud wurde am 27. Mai 1854 in Antwerpen geboren. Er ist wesentlich deutscher Abstammung, denn sein Vater war Vlame und seine Mutter stammte von einem Nassauer und einer Holländerin ab. Mehrere seiner Verwandten gehörten dem Antwerpener Grosshandel an. Sein Vater, Beamter in einer grossen Versicherungsgesellschaft, war ein einfacher, guter Mann, der dem kleinen Georg schon frühzeitig Liebe zur Natur, besonders zur heimischen Erde und deren Bewohnern einzuflössenGa naar eindnoot5 wusste. Der Vater starb schon 1865, und nun wurde der elfjährige Junge in ein Internationales Pensionat in der Schweiz geschickt. Dort lernte er deutsch, englisch und italienisch. Wie der junge Paridael in der Nouvelle Carthage, dessen Geschichte offenbar aus den Jugenderlebnissen des Verfassers gebildet ist, so las auch Eekhoud alle Bücher, die ihm in die Hände fielen. Als er das Pensionat verliess, wollte sein Vormund,Ga naar eindnoot6 ein bedeutender Kerzenfabrikant und Bürgermeister von Borgerhout bei Antwerpen, ihn zum Ingenieur heranbildenGa naar eindnoot7 lassen, allein er zeigte keine Lust dazu. In der Militärschule blieb Eekhoud nur ein halbes Jahr. Er hatte sich mehr mit Poesie als mit Mathematik beschäftigt, und eines Tages entlief er aus der Anstalt, indem er seine Uniform und seinen Säbel zurückschickte. Da er erst 18 | |
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Jahre alt war und ohne Einwilligung seines Vormundes gehandelt hatte, weigerte dieser sich, ihn wieder zu sich zu nehmen; er liess ihm jedoch die Zinsen seines väterlichen Erbgutes, etwa hundert Franken monatlich, auszahlen. Nach einiger Zeit wurde Eekhoud Mitarbeiter des Précurseur d'Anvers, und bald darauf söhnte er sich mit seiner Familie wieder aus. Seine reiche Grossmutter liess ihn sogar zu sich wohnen kommen, und dort konnte er nun im Verkehr mit Dichtern und Malern ein sorgenloses Leben führen. Er glaubte sich zur Dichtkunst berufen und gab hintereinander drei Sammlungen von Gedichten heraus: Myrtes et Cyprès (1877), Zigzags poétiques (1878) Les Pittoresques (1879), alle drei in Paris bei Jouaust) Als seine Grossmutter starb und ihm ein ansehnliches Vermögen hinterliess, kaufte er sich ein Landgut in Capellen im Antwerpener Lande, zwischen dem fruchtbaren Poldergebiet der Schelde und der rauhen Kempenheide. Er führte dort das Leben eines lustigen Landedelmannes, aber die vlamischen Kirmessen, die er mit seinen Freunden veranstaltete, verschlangen einen Teil seines Vermögens, und so sah er sich 1881 veranlasst, nach Brüssel überzusieldeln, wo er seither als Journalist (Mitarbeiter der Etoile belge) geblieben ist. (Jetzt nicht mehr. Red.) 1881 veröffentlichte Eekhoud eine Biographie Hendrik ConciencesGa naar voetnoot(1), des grossen vlamischen Schriftstellers, der ihm vaterlich zugetan war. Eekhoud verleugnet auch noch heute seine Sympathie für das Vlamische nicht, es ist seiner Erziehung zuzuschreiben, dass er sich der französischen Sprache bedient. Er beteiligte sich an mehreren Versuchen, in Belgien eine eigene literarische Zeitschrift zu gründen, aber nur die Jeune Belgique war von längerer Dauer. Nach dieser Zeitschrift, die | |
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Eekhoud im Verein mit Max Waller, Albert Giraud, Emile Verhaeren, Georges Rodenbach u.s.w. gegründet hatte, wurde seither die neue belgische Dichterschule bezeichnet. Die letzten Gedichte Eekhouds, Le Semeur und L'Homme de l'Eglogue, die Pol de Mont auch in seine Sammlung Poètes belges d'expression française (Almelo, 1899) aufgenommen hat, liessen einen Umschwung erkennen. Während die früheren Gedichte oft nur Wortspielereien und ziemlich inhaltlose Reimereien sind, sind die letzteren realistische Genrebilder.
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In weiteren Kreisen wurde Eekhoud durch seinen vlamischen Sittenroman Kees DoorikGa naar voetnoot(2) bekannt. Dieser Roman ist, obschon wenig umfangreich, ein Meisterwerk, eine ergreifende Geschichte aus der Gegend zwischen dem Polder und den Kempen. Die Geschichte Kees Dooriks ist eingentlich ganz einfach. Er war ein Findelkind, das schon in zartem Alter von dem Waisenhause in Antwerpen zu einem reichen, aber geizigen Bauern aus Dinghelaar, Namens Nelis Cramp, dem Besitzer des ‘Weisshofes’ in Dienst kam. Der Junge war schwächlich, und kein Mensch dachte, er könne es lange beim Meister Cramp aushalten. Die Landluft und die herbe Kost, wie auch die vielen körperlichen Uebungen stärkten jedoch den kleinen Doorik, und mit den Jahren wuchs er zu einem tüchtigen BurschenGa naar eindnoot8 heran Das Landleben gefiel ihm, er hing mit Liebe an der Erde, die er bebauen half, und er sehnteGa naar eindnoot9 sich selbst nach einem Stück Land. Inzwischen hatte sein Meister, obschon bereits hochbetagt, nog ein junges Mädchen aus den Kempen, Annemie Andries, geheiratet, aber er starb schon nach ein paar Jahren. Die junge Witwe Annemie war nun alleinige Herrin des Weisshofes, und | |
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Kees, ein starker, junger Mann, verliebte sich in sie. Er träumte davon eines Tages seine Meisterin heiraten und Herr des Hofes werden zu können. Annemie, ein sinnliches Weib, schätzte den Knecht zwar als einen vortrefflichen Arbeiter, aber da er ein Findelkind war und keinen Familiennamen hatte, unterdrückte sie die Neigung, die sie selbst nach dem rüstigenGa naar eindnoot10 Burschen hinzog. Sie lernte bald darauf einen verlaufenen Kerl, Jürgen Faas, kennen, der in ihren Augen den Vorzug hatte, der Sohn eines reichen Bauern aus Beirendrecht zu sein. Auf der Pütter Kirmes liess sie sich von ihm verführen. Sie fand bald darauf einen Vorwand, um Kees Doorik von ihrem Hofe zu entfernen, und sie liess Jürgen Faas, der als Taugenichts in meilenweiter Umgebung bekannt war, der aber ihr zuliebe sich zu bessern versprach, wenn er auch nur als Knecht auf dem Weisshof bleiben könnte, an ihres Meisterknechts Stelle treten. Kees Doorik trat beim Bürgermeister Flüp Sap, dessen Tochter Bella eine heimliche Neigung zu ihm gefasst hatte, in Dienst. Einige Monate später fand das Fest der ‘Gänseritter’ in Dinghelaar statt, und nachdem die Burschen aus dem Dorfe den ganzen Tag über gezechtGa naar eindnoot11 hatten, geriet Kees noch spät in der Nacht infolge der beständigen ZänkereienGa naar eindnoot12 Jürgens mit diesem in Streit. Sie gingen allein hinaus aufs Feld, und nach wechselndem Kampfe gelang es Jürgen, sein Messer aus der Tasche zu ziehen, aber Kees, der das bemerkt hatte, nahm ihm dasselbe ab und stiess es ihm in den Leib, bis der Beirendrechter in sich nicht mehr rührte. Doorik kehrte nach dem Weisshof zurück und warf sich, von Schlaf und Müdigkeit überwältigt, in der Scheune aufs Heu nieder. Es war eine tragische Szene am andern Morgen, als Annemie statt Jürgens ihren früheren Knecht wiedersah, während schon das ganze Dorf auf den Beinen war, nachdem man die furchtbar verstümmelte Leiche Jürgens aufgefunden hatte. Die Gendarmen führten den Mörder fort, und mit gebrochenem Herzen schaute Annemie ihm nach... | |
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Eine herbe, rauhe Luft weht uns aus diesem Buch entgegen. Jede Szene hat ihre eigene Lokalfarbe und trägt dazu bei, den Roman zu einem Gemälde zu machen, das in keine andere Landschaft verlegt werden könnte. Dem ganzen Werk liegt eine symbolische Bedeutung zu grunde und zwar dieselbe, die wir in Zolas Terre finden: die Anhänglichkeit des Bauern an die Erde. Doorik, der eigentlich ein Fremdling ist, will nämlich Bauer werden, sobald er das Land gesehen. Er verliebt sich in die Erde, aber Annemie macht ihn seiner leidenschaftlichen Begierde nach eigenem Grund und Boden abwendig und die Erde ist es, die sich rächt. Auch in dem wuchtigen Werke von Richepin Le Cadet findet sich dieselbe Idee, die Eekhoud an mehreren Stellen seines Romans, besonders im ersten Teil, ausspricht. Es sei aber bemerkt, dass die beiden Romane Zolas und Richepins erst mehrere Jahre nach Kees Doorik erschienen sind. Schon 1885 liess er die KermessesGa naar voetnoot(1) und 1887 die Nouvelles KermessesGa naar voetnoot(2) folgen. Es sind kleine, bald heitereGa naar eindnoot13 bald tragische Erzählungen aus dem Leben der Bauern in dem Gebiet der Polder und der Kempen, zum Teil auch nur Erinnerungen an seinen Aufenthalt auf dem Lande. Einzelne dieser kleinen Novellen zählen zu den besten ihres Genres; sie sind künstlerischer abgerundet und interessanter als manche seiner späteren Erzählungen und Skizzen, bei denen die Sucht nach dem Absonderlichen zu sehr hervortritt und den Leser nicht zu einem Genuss kommen lässt. In dem Roman Les Milices de Saint-François (1886)Ga naar voetnoot(3) schildert er die ungebildeten, mystisch-religiösen Sitten der vlamischen Bauern. Nachdem Eekhoud dieses Werk und die eben er | |
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wähnten Nouvelles Kermesses veröffentlichtGa naar eindnoot14 hatte, begann er ein grösseres Werk La Nouvelle Carthage (1888). Neu-KarthagoGa naar voetnoot(1) schildert das moderne Antwerpen, dessen Hafen nach dem Kriege von 1870-71 einen so lebhaften Aufschwung genommen hat. Dieser raschen Entwickelung ist es zuzuschreiben, dass sich unter die alten angesehenen Vertreter des Handelsstandes zahlreiche Emporkömmlinge gemischt haben, die sich weder durch die LauterkeitGa naar eindnoot15 ihrer Geschäfte, noch durch die Strenge ihrer Sitten auszeichneten. Eekhoud führt uns eine Reihe dieser genussüchtigen Spekulanten vor: Béjard, Saint-Fardier, Dupoissy u.a., aber mit liebevoller Sorgfalt zeichnet er auch das Porträt des alten redlichen Daelmans-Deynze, dieses musterhaften Vertreters des Antwerpener Grosskaufmannsstandes, und wenn auch die Gestalt des vlamischen Volkstribuns Bergmans nur in einzelnen Episoden hervortritt, so merkt man doch, dass die Sympathien des Verfassers diesem Stamme erhalten geblieben sind. Der Roman erhielt von der belgischen Akademie den alle 5 Jahre zur Verteilung gelangenden Preis von 5000 Franken. Es ist dies nicht bloss eine Auszeichnung, sondern auch eine Unterstützung der einheimischen Autoren, deren Werke in ihrer engen Heimat zumeist nur einen geringen Absatz finden. Bei Eekhoud war die Auszeichnung um so bemerkenswerter, als in früheren Jahren die Akademie sich geweigert hatte, Camille Lemonnier den Preis zuzuerkennen, obschon derselbe längst Anspruch darauf erheben konnte. Aber Lemonnier war den massgebenden Persönlichkeiten zu derbrealistisch,Ga naar eindnoot16 und zudem hatte er seiner Heimat den Rücken gekehrt, während Eekhoud, der mit seinem ganzen Herzen an seinem Lande hängt, sich nie bewegen liess, nach Frankreich zu gehen. | |
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Die Auszeichnung, die ‘Neu-Karthago’ erhielt, bildet einen Merkstein in der Geschichte der jungbelgischen Literatur. Durch dieselbe wurden nämlich die Bestrebungen der realistischen Dichterschule offiziell anerkannt. Am 27. Mai 1883 hatte die Jeune Belgique in Brüssel ein Bankett zu Ehren Lemonniers veranstaltet, weil ihm der Staatspreis verweigert worden war. Zehn Jahre später kamen dieselben Dichter und Schriftsteller im selben Lokal zusammen, um Eekhoud zu feiern.Ga naar voetnoot(7) Auch zwei Minister nahmen an dem Festessen teil, und Lemonnier hielt eine Rede über die belgische Dichtkunst im allgemeinen und Eekhoud im besonderen.Ga naar voetnoot(8) Er feierte darin seinen Freund als feinfühlenden Künstler, und er wies namentlich auf die rührenden Gestalten hin, die derselbe in seinen Werken vorführt. ‘Eekhoud’, sagte er u.a., ‘zeigt sich besonders als Dichter und Freund der Schweigsamen.Ga naar eindnoot17 Er hört ihre Bekenntnisse an, er tröstet sie, er zieht sie mit der ganzen magnetischen Kraft eines mitleidigen Herzens an sich.’ Lorenz Paridael erinnert gewissermassen an Kees Doorik, und auch in den übrigen Werken des Dichters finden wir ähnliche Gestalten, die sich dem Gedächtnis des Lesers einprägenGa naar eindnoot18 und deren man noch nach Jahren mit teilnehmendem Herzen gedenkt. Antwerpen ist eine kosmopolitische Stadt, die Eekhoud nicht mit Unrecht Neu-Karthago nennt, nicht bloss wegen ihrer Machtstellung als Handelsstadt, sondern auch wegen der Sitten ihrer Bewohner. Eekhoud war wohl von allen jungbelgischen Schriftstellern am ehesten berufen, das Leben der Hafenstadt zu schildern; er kennt ja, wie kein zweiter, den Charakter und die Eigentümlichkeiten des kräftigen Volksstammes, der an den Schelde-Niederungen wohnt. | |
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In ‘Neu-Karthago’ finden wir dieselbe realistische Darstellungsweise wie im ‘Kees Doorik’. Eekhoud schildert und erzählt zugleich, aber er kümmert sich wenig um Intriguen. Seine Werke sind deshalb wenig auf Spannung berechnet, aber sie führen uns lebenswahre Gestalten vor, und oft erhebt sich seine Darstellung zu einer sozialen Satire. Deshalb erregte das Werk bei seinem Erscheinen so grosses Aufsehen, zumal auch bekannte Typen aus der Gesellschaft darin vorgeführt würden. Eekhoud wollte hauptsächlich die Schattenseiten des modernen Antwerpeher Lebens schildern, denn wir wissen aus manchen seiner kleinen Erzählungen, namentlich aus seinen Kirmesbildern, dass er doch nicht so pessimistisch ist, wie man nach der Lektüre ‘Neu-Karthagos’ glauben könnte. Das Leben und Treiben im Hafen, an der Börse, die Unruhen am WahltageGa naar eindnoot19 u.s.w. sind genau nach der Wirklichkeit geschildert. Auch die im dritten Teil beschriebene Explosion ist keine Erfindung Eekhouds. In dem Winkel zwischen dem Nordende des Kattendyk und den Trockendoks des Antwerpener Hafens befand sich nämlich die berüchtigte Fabrik von Corvilain, die am 6. September 1889 durch eine furchtbare Explosion zerstört wurde. Die Nouvelle Carthage ist kein Werk aus einem Guss. An die Jugendgeschichte Lorenz Paridaels, die manches aus seinem eigenen Leben enthält, schlossen sich eine Reihe selbständiger Sittenbilder aus dem modernen Antwerpen an, die der Verfasser bei der Bearbeitung der endgültigen Ausgabe nur lose mit der Haupthandlung zu verflechten vermochteGa naar voetnoot(1). Diese Schilderungen sind gewiss sehr interessant, aber sie sind derart breit, dass man kaum noch dem Faden der Handlung zu folgen vermag. Der deutsche Bearbeiter des Werkes hat deshalb bei | |
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der Uebersetzung in diesen nachträglich in den Roman eingefügten. Teilen bedeutende Kürzungen vorgenommen und diejenigen Episoden weggelassen, die mit der Handlung nicht im Zusammenhang stehen. Hierdurch ist das Werk erst zu einem eigentligen Roman und zu einem auch für das deutsche Publikum lesbaren Werke geworden. Es ist eines der hervorragendstenGa naar eindnoot20 Werke der seit einem Vierteljahrhundert neben der französischen, selbständig aufstrebenden belgischen Literatur, und es hat einen so eigenartigen Charakter, dass es auch über Belgiens Grenzen hinaus die Aufmerksamkeit der Literaturfreunde verdient. Nach der Nouvelle Carthage hat Eekhoud noch mehrere Werke veröffentlicht, ohne aber denselben Erfolg zu erzielen. Les Fusillés de Malines (1891)Ga naar voetnoot(1) ist eine historische Erzählung aus der Zeit des Aufstandes der Belgier gegen die französische Republik (1798). Das Werk enthält historisch getreue, realistische Bilder, aber die dürftige Handlung ist zu breit erzählt und das Ganze hält keinen Vergleich mit ‘Kees Doorik’ und ‘Neu-Karthago’ aus. Le Cycle patibulaireGa naar voetnoot(2) ist den Bettlern und Vagabunden gewidmet, die Eekhoud in den Anstalten zu Merxplas und Hoogstraeten kennen lernte, den Schmugglern und auch allerlei pathologischen Gestalten. Es sind lauter unerfreuliche Bilder, die höchstens in sprachlicher Hinsicht einige Schönheiten darbieten. Inhaltlich bedeutet dieses Werk keinen Fortschritt in den Arbeiten Eekhouds, und man kann nur bedauern, dass sich sein urwüchsiges Talent seit seinen ersten Werken immer mehr verirrt, dass er seine meisterhafte Darstellungskraft immer mehr dem Absonderlichen, dem Abnormalen zuwendet. Da wiegt doch | |
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der kleine Roman ‘Kees Doorik’ zehnfach die dikken Bände seiner pathologischen Skizzen und Novellen auf. Mes Communions enthält wenigstens einige ansprechendereGa naar eindnoot21 Erzählungen als die vorhergehende Sammlung, aber auch hier überwiegt die pessimistische Tendenz.Ga naar voetnoot(1) Als Motto hat Eekhoud diesem Bande die Worte von Thomas Quincey vorangestellt: ‘Im allgemeinen waren die wenigen. Individuen, die meinen Abscheu in dieser Welt erregt haben, blühende, angesehene Personen. Was die Spitzbuben betrifft, die ich gekannt habe - und es sind ihrer nicht wenige - so denke ich an sie alle ohne Ausnahme mit Vergnügen und Wohlwollen zurück’. Nun sind es zwar nicht lauter Verbrecher, die Eekhoud uns in seinen Communions vorführt, aber es sind doch meistens Parias und Deklassierte, und einzelne vermögen auch die Sympathie des Lesers zu erregen. Gerade dieser Band enthält eine FülleGa naar eindnoot22 scharf beobachteterGa naar eindnoot23 ZügeGa naar eindnoot24 aus dem niederen Volksleben und bietet schätzenswerte Beiträge zur vlamischen Volkskunde. Eekhouds folgender Roman Escal VigorGa naar voetnoot(2) behandelt die homosexuelle Liebe, ein nicht gerade anziehendes Thema. Er hatte sich wegen dieses Buches gleichzeitig mit Camille Lemonnier, der bereits eine Reihe sehr gewagter Romane veröffentlicht hatte, vor dem Schwurgericht zu verantworten. Er wurde allerdings freigesprochen, doch hat jener Roman ebensowenig zu seinem Ruhme beigetragen, wie das schnelle Erscheinen einer deutschen Uebersetzung in einem Verlage, dessen Werke nicht jeder Buchhändler in seinem LadenGa naar eindnoot25 duldet. Das folgende Buch La Faneuse d'amourGa naar voetnoot(3). enthält wie lerum Schilderungen Antwerpens und des vlamischen Landes, ihrer Leute und ihrer Sitten. Der Verfasser behandelt darin eine | |
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atavistische Glaubenslehre und verrät eine tiefe Kenntnis der weiblichen Seele. Von den anderen Werken Eekhouds seien erwähnt: Au siècle de ShakespeareGa naar voetnoot(1), und drei Uebersetzungen La Duchesse de Malfi (Tragödie in 5 Akten von John Webster)Ga naar voetnoot(2), Philaster (von Beaumont und Fletcher)Ga naar voetnoot(3), Edouard II (von Marlowe)Ga naar voetnoot(4). Die letztere Ausgabe enthält eine längere Einleitung über Marlowe, sein Leben und seine Genossen und eine Würdigung seiner Werke. Die Tragödie selbst, die 1598 in London gedruckt wurde, hat Eekhoud nur übersetzt, ohne eine eigentliche Bühnenbearbeitung vorzunehmen und das Werk in Akte und Szenen einzuteilen. Ausserdem hat er zuerst die Cavalleria rusticana von Berga ins Französische übersetzt; auch hat er verschiedene Dramen von Ibsen übertragen. An der Etoile belge warer als literarisch-musikalischer Kritiker tätig und schreibt ausserdem jeden Monat eine Brüsseler Chronik für den Mercure de France. Als Gelegenheitsschrift veröffentlichte er L'escrime à travers les âges (1894) aus Anlass eines in Brüssel stattgefundenen Festes, auf dem die historische Entwickelung der FechtkunstGa naar eindnoot26 dargestellt wurde. Die Bedeutung Eekhouds liegt in den Sittenschilderungen aus seiner Heimat. Das Gebiet seiner Erzählungen ist ziemlich eng begrenzt, denn wir finden immer dasselbe ländliche oder städtische Milieu wieder. Deshalb erscheinen uns seine Romane und seine Novellen eigentlich weniger als selbständige Werke, denn als Episoden eines einzigen grossen Werkes, der Geschichte seiner engeren Heimat. | |
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Onse vaderen waren vri,
En vri so bliven wi,
So lanc een hert, dat lafheit haet,
In eenen keerlenboesem slaet.
(Unsère Väter waren frei,
Und frei werden wir bleiben,
So lange ein Herz, das Feigheit hasst,
In einem Kerlenbusen schlägt).
Dieses ‘Lied der vlamischen Kerle’ hat Eekhoud nicht mit Unrecht einer seiner Erzählungen als Motto vorangestellt. Immerwieder betont er die Eigenart seiner vlamischen Stammesgenossen, die er gegenüber den wallonisch-französischen Einflüssen wacker verteidigt, obschon er selbst sich der französischen Sprache bedient. Es sei übrigens bemerkt, dass seine Werke gerade in sprachlicher Hinsicht nicht ohne Verdienst sind. Eekhoud begnügt sich nicht, das alltägliche Französisch zu schreiben, das man in Belgien hört, sondern er verbessert die Sprache und bereichert ihren Wortschatz. Er ahmt darin Lemonnier nach, dessen Sprache oft zu farbenreich ist. Man kann ja über einzelne neue Wortbildungen geteilter Ansicht sein, und seinen Stil zuweilen so schwerfällig finden wie den Gang seiner vlamischen Bauern, aber man kann nicht leugnen, dass seine Sprache anschaulich ist und der Natur und dem Temperament der Leute, die er beschreibt, entspricht. ‘Er schreibt, sagt Paul Gérardy, wie Jordaens und Teniers malten.’ Die vielen neuen Ausdrücke, die Eekhoud anwendet, lassen sich im Deutschen natürlich nicht gleichwertig wiedergeben, und seine längeren Beschreibungen haben auch nur für den Interesse, der sie im Original zu lesen vermag. ‘Um in ihrem innersten Leben die Helden der “Kermesses”, der “Milices” und des “Cycle patibulaire” zu begreifen, sagt Emile Verhaeren in der Art Moderne, muss man in die Geschichte der | |
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belgischen Provinzen und besonders des Kempener Landes eindringen. Armes, tragisches Land, rauhes und undankbares Land, nicht der blumige grüne Teppich Flanderns, sondern die unfruchtbare graue Scholle der Heiden, der traurige, bleiche Sand, wo Pflanzen wie struppige Fäden und Bäume aus Sargholz wachsen. Dort wurde im Jahre 1798 ein Bauernkrieg geführt, der ebenso wild war wie der in der Vendée. Man starb dort einfach, fest, in stillem Heldenmut.’ Eekhoud hatte seine Nouvelle Carthage in der FülleGa naar eindnoot27 seiner Begabung verfasst, aber sein künstlerisches Streben hat sich seither mehrfach verirrtGa naar eindnoot28. Er sieht die kräftigen Gestalten des vlamischen Landes nicht mehr mit den Augen eines feinsinnigen Künstlers an; er sucht nun mehr das Anormale, das Pathologische, und wenn auch die Eindrücke, die er niederschreibt, einigen blasierten Lesern gefallen mögen, so erregt er doch nur mehr das Kopfschütteln der Menschen mit gesunden Sinnen. Der Einfluss einzelner französischer Naturalisten und die ungesunde Atmosphäre der Brüsseler Schriftsteller- und Künstlerwelt mögen zu diesen Geschmacksverirrungen beigetragen haben, aber da Eekhoud noch in voller Schaftenskraft steht, ist die Hoffnung nicht unbegründet, dass er sich wieder auf sich selbst besinnen und zu der einfachen Technik seines ‘Kees Doorik’ zurückkehren wird. Die Wirklichkeit ist nicht immer hässlich; es gibt auch nog Schönes und Erfreuliches im Leben und in der ganzen Natur. |
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