Germania. Jaargang 6
(1903-1904)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Die Westgrenze des europäischen GermanentumsKarl Lamprecht, Professor der Universität Leipzig, hat zur weiteren Abrundung seines grossen Werkes über die Entwickelung des mitteleuropäischen Deutschtums zwei Ergänzungs-Bände erscheinen lassen, die den Titel tragen: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit. Im letzten Bande, welcher der Oeffentlichkeit in wenigen Wochen übergeben wird, finden wir einen kurzen Abriss der augenblicklichen SachlageGa naar eindnoot1 an der germanischen Westgrenze in Europa; er wird unsere Leser interessiren, da er in kurzen Worten die verschiedenen Probleme anstreiftGa naar eindnoot2, welche auch die ‘Germania’ behandelt. Die betreffenden AusführungenGa naar eindnoot3 des grossen Geschichtsforschers lauten: Wenden wir unsern Blick von den Ostgrenzen des Deutschtums auf die westlichen Marken, so bedarf es eines Augenblickes, um sich gleichsam von einer historischen Blendung zu erholen: so grundverschieden sind die VoraussetzungenGa naar eindnoot4 von denen des Ostens, unter denen hier Volldeutsche und deutsche VetternGa naar eindnoot5 ausserhalb der Reichsgrenzen leben. Nichts von Erobererstellung über fremden Volksmassen, die der Emanzipation entgegengehen, nichts von grundsätzlichem Gegenwirken der Deutschen gegen Dynastieen und Zentralgewalt; nur an einer Stelle Kampf gegen unberechtigte Aspirationen einer fremden Rasse. Dagegen volles Dahinleben in der Breite eigener Kultur, geistige Fruchtbarkeit, physische Kraft, Selbständigkeitsgefühl und sicherer Blick in die Zukunft: Eigenschaften eines unver- | |
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mischt siedelndenGa naar eindnoot6 Deutschtums, das sich bis in seine untersten Glieder hinein in den Vollbesitz westeuropäischer Kultur gebracht hat. Wir wissen, unter welchen Umständen jener ReigenGa naar eindnoot7 westlicher Kleinstaaten dem alten Reiche verloren gegangen ist: die Schweiz deutschen Anteils, die vlamischen Teile Belgiens, soweit sie einst deutsch waren, Holland8, endlich bis 1870 auch das Elsass. Die grossen deutschen Zentralgewalten bildeten sich neu im Kolonialgebiet: mittlerweile bröckelte politisch ab, was der vom französischen Westen her umbrandeten äusseren Peripherie des Mutterlandes angehörte. Aber von diezen Splittern ist einer, politisch und militärisch vielleicht der wertvollste, eben mit dem neuen Reiche wiederum vereinigt worden: das elsass, und mit ihm Teile auch des seit jeher welschen lothringens: ein Erwerb, der überraschend schnell zur erneuten Verdeutschung des Elsasses und zu einer erstmaligen Germanisierung Lothringens geführt hat. Der letztere VorgangGa naar eindnoot9 ist vielleicht das erfreulichste bisher sichergestellte ErgebnisGa naar eindnoot10 des modernen deutschen Dranges nach Westen. Es scheint, als ob in Metz Sprache und Nationalität noch bis ins 12. Jahrhundert wenigstens teilweise deutsch gewesen seien; sicher ist, dass Metz und seine weitere Umgebung zur Zeit des Ueberganges an das Reich durchaus französischen Charakter trugen. Wie rasch aber hat sich das geändert! Nicht blos die Bevölkerung der Stadt ist zum guten Teile verdeutscht, auch das Aussehen der GegendGa naar eindnoot11 hat schon germanische Färbung angenommen; und in nördlichen Teilen des Landes hat eine gewaltig aufblühende Industrie mit dem Entstehen neuer und der Vergrösserung alter Ortschaften zugleich eine rasch einströmende deutsche EinwanderungGa naar eindnoot12 herbeigeführt. Wie aber hat sich gar das Elsass für den verändert, der es seit etwa einem MenschenalterGa naar eindnoot13 kennt! Wie ist zunächst unter dem erblindenden verschwindenden | |
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französischen Firniss die alte deutsche Kultur wiederum hervorgetreten, - die Kultur jener Zeiten, da Göthe in Strassburg studierte: eine Kultur, welche von nicht geringen Teilen der mittleren GesellschaftsschichtenGa naar eindnoot14 bis zum Jahre 1870 in halb mumifizierter und versteinerter Gestalt fortgefristetGa naar eindnoot15 worden war! Und wie sind gar die unteren Schichten zu jenem Deutschtum wiederum erwacht, das wir etwa aus Jörg Wickrams ‘Rollwagenbüchlein’ und dem glänzenden Nachlasse der grossen literarischen Zeit des Elsasses im 16. Jahrhundert kennen, dem Deutschtum eines derben, sangesfrohen Humors und einer kräftigen Unmittelbarkeit freier EmpfindungGa naar eindnoot16! Aber nicht bloss bei dem Wiederaufbau alter Reste ist es geblieben; neue Sprosse schon treibt der so lange Zeit unfruchtbare Stamm; eine Dialektliteratur sogar dramatischen Charakters ist, elsässisch für Elsässer erwacht; und schon regt auch eine jung- und hochdeutsche Dichtung von Elsässern ihre Flügel. Da soll die Nation die dünne und absterbende Oberschicht von einigen tausend Französlingen wohl mit einigem Humor ertragen, wie sie, wenig zur ErbauungGa naar eindnoot17 des gut rechnenden Durchschnittselsässers, ihr in deutschen Landen gewonnenes Geld in Paris auf welsche Art verzehren: sie haben ihren Lohn dahin. Erkennt doch auch französischer Ernst und französische Wahrhaftigkeit an, dass das Land als Ganzes dem Deutschtum, dem Reiche gewonnen worden ist; und nur dafür ist zu sorgen, dass aus echt deutschen Eigenschaften nicht ein Partikularismus von unerwünschter Stärke und Ausschliesslichkeit hervorgehe. - Weniger erfreulich stehen die Dinge im Süden, in den deutschen Gebieten der schweiz. Würde heute ein Schweizer wohl noch ohne weiteres schreiben, was im Jahre 1841 der Züricher Orelli bekannt hat: er erfülle mit der Veröffentlichung seines Buches eine ‘heilige Pflicht gegen seine Nation, die deutsche: denn in allem Geistigen, Wissenschaftlichen, Künstlerischen | |
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bilde Deutschland und die deutsche Schweiz nur ein Volk!’ Der ‘Vetter’ -Streit, der 1902 tobteGa naar eindnoot18, verbietet eine unbedingt bejahende Antwort. Jedenfalls hat die Gründung des Reiches die deutschen Sympathien in der Schweiz auf lange Zeit hin eher beeinträchtigtGa naar eindnoot19 als gestärkt. Man hatte so gern verächtlich herabgesehen auf diese SchluckerGa naar eindnoot20 von Fürstenknechten; die Tatsache, dass die gestrengen Herren von Basel, Zürich und wol auch noch Bern ihre Dienstboten seit langen Zeiten von rechts des Rheins beziehenGa naar eindnoot21, hatte gleichsam vorbildlich für die Beurteilung der nunmehrigen Reichsdeutschen gewirkt. Konnte man sich da mit einem Mal in die neue Lage finden? Und der deutsche Schweizer lökte mit jener graden Aufrichtigkeit wider den Stachel, die eine seiner besten und echt deutschen Eigenschaften ist. Doch haben sich die Dinge inzwischen immerhin geändert. Namentlich in den Augen ernster Leute: da wird die Bedeutung des Reiches und seiner Insassen nicht mehr verkannt. Und man verfolgt mit stillem Stolze die Anerkennung schweizerischen Deutschtums im Reiche: welche nationale Propaganda haben nicht in diesem Sinne die Namen Böcklin, Keller, Meyer, um nur die erlauchtesten zu nennen, gemacht. Man ist auch in diesen ernsten Kreisen zumeist überzeugt, dass die Schweiz in den politischen Stürmen der Zukunft auf deutscher Seite zu finden sein wird. Aber ein völlig ebenmässiges Verhältnis zwischen Schweizern und Reichsdeutschen ist gleichwolGa naar eindnoot22 noch nicht hergestellt; noch immer steht in gut verwandtschaftlichem Zwiste Anspruch gegen Anspruch; und Konrad Ferdinand Meyer könnte auch heute noch mit einigem Rechte seinen Hutten rufen lassen: Unsinn, dass ihr euch täglich reizt und rauftGa naar eindnoot23,
Landsknecht' und Schweizer! Beide deutsch getauft.
Die Folge davon, dass der deutsche Schweizer noch so gern, | |
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um im Stile der Monologanmeldung unserer alten Dramen zu reden, ein wenig beiseite geht und nur mit ihm selber redet, ist, dass sich die deutsche Sprache in der Eidgenossenschaft dem Französischen gegenüber nicht in wünschenswertem Masse widerstandsfähig erweist. Die Zeiten, da an der Sprachgrenze welsche Dialekte gegen deutsche Dialekte sich das Gleichgewicht hielten, sie sind vorüber. Auf welscher Seite rückt überall ein reines Französisch in die Kampflinie. Entspricht ihm aber ein reines Schweizerdeutsch? Nein, - da kämpfen dïalektische und dialektoide Bildungen und unterliegen, wie sie gegenüber dem reinen Französisch der Gebildeten früher im Elsass unterlegen sind. Und so ist es hohe Zeit, dass sich das Schweizerdeutsch Sauerstoff hole aus der reinen Atmosphäre des Gemeindeutschen. Dies wird wichtiger sein als die Reinigung des äusseren Anblikkes gewisser eidgenössischer Städte, wie z.B. Luzerns, mit dem Fastnachtsfirlefanz aufdringlicher welscher Aufschriften, deren Dasein und nicht selten wunderliches Französisch deutsche Lachmuskeln immer wieder zu reizen pflegt. Im übrigen vollzieht sich die gegenseitige innige Kenntnisnahme und damit Vereinigung des schweizerischen und des Reichsdeutschtums doch vor allem auf dem Boden der materiellen Interessen. Was hier die Gründung des Reiches und die Einbeziehung auch der ganzen linken Seite des Oberrheintals in seine Grenzen für die deutsche Schweiz, insbesondere für Basel bedeutet haben, braucht nicht erst auseinandergesetzt zu werden; nicht minder springt die Wichtigkeit der Gotthardbahn alsbald in die Augen. Inwieweit aber in diesem Bereiche Verkehrserleichterungen und wirtschaftlicher AufschwungGa naar eindnoot24 schon fusionierend gewirkt haben, zeigt nichts besser als die Tatsache, dass in den gewerbfleissigsten und an meisten aufstrebendenGa naar eindnoot25 Städten der deutschen Schweiz, in Basel und St. Gallen, nicht weniger als ein Drittel der ansässigen Bevölkerung von Reichs- | |
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deutschen gebildet wird. Was hier leise begonnen hat, das mag einst lauter fortwirken, wenn nicht im wörtlichen Sinne, so doch im Geiste der prophetischen Zeilen des grossen schweizerischen Dichters: Geduld, es kommt der Tag, da wird gespannt
Ein einig ZeltGa naar eindnoot26 ob allem deutschen Land! -
Wie verwandt und in wie mancher Richtung doch wieder grundverschieden haben sich im Vergleiche mit der Schweiz die nachbarlichen Verhältnisse des Reiches zu den westlichen Niederfranken und Friesen, zu den Vlamen und Holländern, gestaltetGa naar eindnoot27! Trennt hier die Sprache mehr als gegenüber der Schweiz, so sind die VerkehrsbeziehungenGa naar eindnoot28 noch inniger. Denn Nord- und Südniederland ist das Ausgangsgebiet der wichtigsten deutschen Verkehrsader, des Rheins; und so darf es nicht verwundern, dass in Belgien, und zwar, abgesehen von dem grenzbenachbarten wallonischen Verviers, zumeist auf vlamischem Boden, etwa 50,000 und in Holland etwa 30,000 Deutsche wohnen, und zwar nicht zum geringsten in den Hafenstädten, in Antwerpen, in Rotterdam und in Amsterdam. Was holland insbesondere angeht, so wird der UmschwungGa naar eindnoot29, der sich in seinen Beziehungen zum deutschen Zentralreiche während des letzten Menschenalters vollzogen hat, vielleicht durch nichts besser gekennzeichnet als durch den Wechsel der Einfuhr- und Ausfuhrwerte von und nach dem Deutschen Reiche und England. Die lehrreichen Zahlen lauten in Gulden 1875: für das Deutsche Reich auf 161,6 Millionen in Einfuhr und 238,7 Millionen in Ausfuhr, für England auf 241,8 und 124,7 Millionen; zehn Jahre später für das Reich auf 312,1 und 413,3, für England auf 262,1 und 255,4 Millionen. Und diese ausserordentliche Wendung in den Beziehungen zum Reiche und zu England hat dann im allgemeinen bis zur Gegenwart hin ange- | |
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halten; um die Wende des Jahrhunderts (1900) betrug der Ausfuhrhandel des Reiches nach Holland nicht weniger als 7,5 vom Hundert seines Gesamthandels und war damit grösser als der nach Frankreich und fast dreimal so gross wie der nach Italien. Die holländische Ausfuhr aber ging um diese Zeit mit 52 vom Hundert ihres gesamten Wertes nach dem Reiche. Noch beachtenswerter fast als diese Ziffern waren die des Postverkehrs. Der deutsche Postverkehr nach Holland war um die Wende des Jahrhunderts stärker als der nach England und Russland znsammengenommen; von den holländischen internationalen Packeten gingen nahezu zwei Fünftel nach dem Reiche. Der Briefverkehr gar vom Reiche her hat sich zu einer Höhe entwickelt, die nur noch von der Zahl der Sendungen nach Frankreich und Grossbritannien übertroffen wird, während der Verkehr nach den Vereinigten Staaten und nach Russland, ja auch nach der Schweiz und nach Belgien nicht unbeträchtlichGa naar eindnoot30 hinter ihm zurückbleibt. Unter diesen Umständen liegt der Gedanke irgend welchen Anschlusses des Königreiches an das Reich in der Luft. Zunächst für die Verkehrsinteressen. Hier kann es sich im einfacheren Falle um einen Anschluss an den grossen deutsch-österreichischen Postverein handeln: er liegt schon heute nicht mehr ausser dem Bereiche unmittelbarer Möglichkeit. Darüber hinaus ist seit den neunziger Jahren öfters als früher der Gedanke eines Zollvertrages erörtertGa naar eindnoot31 worden. Endlich aber hat mehr als ein Ereignis dieses letzten Jahrzehntes, die rasche Beseitigung der alten Kolonialgewalt Spaniens durch die Vereinigten Staaten, die brutale Unterwerfung des niederländischen Elementes in Afrika durch England, die bedenklichen Machinationen der Engländer gelegentlich der holländischen Kolonialkämpfe in Atjeh, zu guter Letzt auch der Abschluss des englisch-japanischen Bündnisses, die Holländer dazu geführt, die | |
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Diskussion sogar der Möglichkeit eines politischen Anschlusses an das Reich anzutreten. Denn eins ist klar: in dem ungeheuren Wiederstreit der modernen Expansionsstaaten ist eine alte Kolonialgewalt von der zwar ausserordentlichen historischen Grösse, immerhin aber doch geringen gegenwärtigenGa naar eindnoot32 Eigenmacht wie Holland schlecht gebettet, solange sie allein steht. Soll nun aber Hilfe von auswärts, soll eine irgendwie schützende Gemeinsamkeit der Interessen mit andern erstrebt werden: wo am besten ist sie zu finden? Die Wahl steht zwischen England, Frankreich und dem Deutschen Reiche, wie denn die süd- wie nordniederländische Selbständigkeit seit Jahrhunderten der WahlfähigkeitGa naar eindnoot33 zwischen diesen drei grossen Mächten verdankt worden ist. Die Holländer aber sind in ihrer Wahl natürlich die alleinigen Herren ihrer GeschickeGa naar eindnoot34; und von deutschem Standpunkte aus ist grundsätzlich und im eigensten Interesse des Landes nur zu wünschen, dass es zum Entschluss komme, ehe es Gefahr läuft, seinen Charakter zu verlieren und dass es seine Wahl treffe, würdig dem Adel seiner Abstammung und der Grösse seiner Vergangenheit. Ferner als den Nordniederländern sind die eigentlichen Deutschen von jeher, wenigstens politisch, den Südniederländern geblieben; von den grössten Territorien hat allein Brabant ganz, Flandern dagegen nur zu einem Teile dem alten Reiche angehört. Und doch ist das Volk der vlamen ein so wichtiger Bestandteil der westeuropäischen Bevölkerungsgemeinschaft; mehr als die Hälfte der sechs Millionen Einwohner Belgiens zählen zu ihm; die Provinzen West- und Ostflandern, Antwerpen und Limburg sind so gut wie rein vlamisch; in Brabant stehen gegen dreisig Wallonen noch immer, trotz aller Verwelschungsversuche an Brüssel, siebzig Vlamen; und nur die vier südlichen Provinzen des Landes, Namür, Hennegau, Lüttich und teilweise Luxemburg, tragen ausgesprochen wallonischen Charakter. | |
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Die Kultur des Landes aber ist nach Herkunft und Höhepunkten der Entwickelung durchaus vlamisch; sieht man von Lüttich ab, so sind alle grossen Städte mit reicher Vergangenheit niederländischen Charakters: von Antwerpen, dem Antorf Dürers, und Gent und Brügge und Ostende und Mecheln und Löwen und Brüssel bis hin zu Iepern und dem kleinen, aber so interessanten Veurne, das Deutsche Furnes, und dem lebendigen Kortrik, das Deutsche Courtrai zu nennen pflegen - von den schönen Formen Anvers, Gand, Bruges, Malines, Louvain und vor allem Bruxelles im deutschen Munde zu schweigen -: und selbst in Lille, dem altem Rijssel, schon südlich der politischen Grenze Belgiens, ertönen noch vlamische Laute. Denn auch Nordfrankreich, das Land jener Cinq départements du Nord, die sich immer der französischen Norm nicht ganz fügen wollen, beherbergt noch ein paar Hunderttausend Vlamen; und wer von Calais über Dünkirchen ins Belgische reist, der kann an dörflichen Eisenbahnstationen Gestalten auftauchen sehen, deren Typ ihm bisher nur aus der Altmark etwa und anderen vornehmsten Kolonialgebieten des Reiches vertraut ist: Vlamen, VlamenGa naar voetnoot(1). Mit wie innigem Anteil hat das deutsche Kerngebiet die Kultur dieser Lande in den mittelalterlichen Zeiten begleitet, da sie gross war und eigenständig und ein reichbegabter Dichter der ersten Jahrzehnte des Aufschwungs sich seiner Herkunft mit den stolzen Worten rühmen konnte, die jetzt sein Denkmal in Damme zieren: ‘Darom dat ic een Vlaminc ben!’ Tausend FädenGa naar eindnoot35 innerlichster Beziehungen haben im 13. bis 16. Jahrhundert diese Küsten mit dem deutschen Binnenland verknüpft: da lebte im stillen Johanneshospital zu Brügge, noch jetzt dem würdigen BehältnisGa naar eindnoot36 seiner schönsten Werke, der grosse Maler Hans | |
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aus Memmlingen im Lande des Mains, während die Feinheiten der vlamischen Malerschulen binnendeutschen Geschmack befruchteten; da hatten schon manches Jahrhundert vorher vlamische Kaufleute den Weg zur Donau und zum äussersten deutschen Südosten gefunden, und an ihre Sohlen vielleicht oder die anderer Fahrgenossen hatten sich die Sagen geheftet von Siegfried und den Burgunden und die ferne Meeresmär der Gudrun: vielleicht noch zur selben Zeit, da Heinrich von Veldeke auf der Neuenburg an der Unstrut als Gast der Thüringer Landgrafen das Lied von der Eneit dichtete, ein niederfränkischer Sänger. Und haben diese Beziehungen später ganz aufgehört? Ist uns Binnendeutschen Rubens und die Antwerpener Gilde vom heiligen Lukas nicht ebensoviel gewesen als die genialen holländischen Einhäusler, ein Hals oder ein Rembrandt? Aber die vlamische Kultur verglomm in sich selber. Französische Kultur kam ins Land, nicht von der besten Art, ein bald blind werdender UeberzugGa naar eindnoot37; fast als selbstmörderisch erwies sich die Abtrennung vom nördlichen Niederland und von den zwar fernen, aber doch befruchtende Kulturströme aussendenden Bergen des deutschen Binnenlandes. So verdorrte die Lebenskraft des reichbegabten Stammes halb schon im 18. Jahrhundert, und zu versiegenGa naar eindnoot38 drohteGa naar eindnoot39 sie, als mit der erneuten politischen TrennungGa naar eindnoot40 vom Norden im Jahre 1830 in Belgien ein nichts als französisches Regiment einzog. Doch: mersus profundo, pulchrior evenit! Nun eben regtenGa naar eindnoot41 sich die Vlamen, echte Deutsche; und eine neue germanische Kultur, nicht eben der alten ebenbürtigGa naar eindnoot42, nicht frei von Franzosentum, doch immerhin eine würdige Renaissance der alten in sich begreifend, ist emporgeblüht. Da begründeten Conscience und Willems eine neue vlamische Literatur, die zugleich ein Schrifttum war des Patriotismus: da erstand in den de Wappers und de Keyzer, den Slingeneyer, Gallait und de Biefve wie in | |
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den Leys eine neue Gilde vom heiligen Lukas und eine neue Meisterschaft vom Johannesspital; da schufen und schaffen Lambeaux und de Vigne, Lagae und de Vreese, van der Stappen und Meunier in der üppig schwellenden Art der alten Bildnerei wie in der Straffheit moderner Plastik; da erwachte etwas von den feierlichen und vollen Tönen der alten niederländischen Musik in den Schöpfungen Benoits und seiner Schüler; und unter den Schritten der Führer und Meister ergrünten von neuem die Gefilde der einst so reichen Stammeskultur. Und wie man einstmals nicht blos den Musen gehuldigt hatte, sondern wehrhaft gewesen war gegeneinander und gegen den Zudrang französischen Rittertums, so sprossten neben den künstlerischen politische Ideale empor: Anteil forderte man an der Regierung des Landes. Man weiss, was das Vlamentum bisher auf diesem Felde erobert hat: doch besteht noch immer nicht völlige Gleichstellung, so sehr die Gleichwertigkeit, wenn nicht UeberlegenheitGa naar eindnoot43 der vlamischen Kultur gefürchtet wird. Aber die Gerechtigkeit naht, und mit ihr wird sich eine Freiheit der Umschau einstellen, die den Blick der Vlamen mehr noch als bisher dem deutschen Kerngebiet zulenken muss. - Unser Umgang um die Grenzen des Reiches ist vollendet. Er hat nur flüchtige Einblicke gewährenGa naar eindnoot44 können: notgedrungen: zu reich ist das quellende Leben des mitteleuropäischen Germanentums. Aber eines Eindruckes sind wir gewiss geworden: trotz mancher schwachen StelleGa naar eindnoot45 im Reiche selbst wie in den Grenzlanden, trotz Unglückes hier und Schuldbewusstseins dort: es geht vorwärts, vorwärts in Weiten, die wir ahnenGa naar eindnoot46. Und als Kern- und Mittelpunkt alles KünftigenGa naar eindnoot47, nicht als Abschluss eines ZeitaltersGa naar eindnoot48, als ErzeugnisGa naar eindnoot49 vielmehr von Zeiten und Männern, die schöpferisch waren und gedankenschwanger und voll unbewussten Wollens in weitester Zukunft, erscheint das Reich. Wie ist es doch im ganzen so ganz deutsch in Fehlern und Tugenden, trotz seines | |
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ZehntelsGa naar eindnoot50 fast einer fremdsprachigen Bevölkerung: wie müssen wir ihm leben, leben wir dem Deutschtum! Ueber dem Reiche uber, ein heiligerer Begriff, ein Ganzes erst, das uns erziehtGa naar eindnoot51 und stärkt, tröstet und stolz macht, hinaus über die kurzen Momente des Entstehens und Vergehens politischer Bildungen, steht das Vaterland. Und sollen wir da, wenn wir mit Ernst Moriz Arndt fragen: ‘Was ist des Deutschen Vaterland?’ nicht auch mit Arndt antworten dürfen: ‘Das ganze Deutschland soll es sein!?’ |
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