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Ich war vor kurzem bei einem Presseempfang in einen entlegenen Pariser Atelier und hörte zu wie ein Filmingenieur das hohe Lied des farbempfindlichen Rohfilmes für die Gäste anstimmte, die ungeduldig auf das Büffet voll Kaviar und Sekt warteten, als ein kleiner, ganz einfach gekleideter Herr mit grauen Haaren, äusserst lebendigen Augen in einem Voltaire'schen Gesicht, mir gutmütig und überzeugend ein Prospeckt in die Hand drückte. Ich lass: ‘Tribune libre du cinéma’ (Freie Filmtribune). Da erinnerte ich mich. Man hatte mir schon davon erzählt. Und dieser Herr vor mir war Charles Léger, Begründer und Vorsitzender der ‘Freie Filmtribune’. Sie entstand 1925 bei der grossen Pariser Kunstgewerbeausstellung (wo Oesterreich von Prof. Ciczek und andern so glänzend vertreten war). Dort veranstaltete Charles Léger für die ganze Dauer Vorstellungen aus der ‘Filmavant-garde’.
Nach der Kunstgewerbeausstellung lebte der Impuls von Charles Léger in der Form der Freie Filmtribune weiter. Da trifft sich zwei Mal in Monat alles aus dem Publikum und auch aus der Branche, was an Film und dessen Gedeihen trotz Geschäftsmache glaubt. Es wird ein avantgardistischer Film vorgeführt und nachher darüber diskutiert.
Ich kam also hin. Der gemietete Vortragssaal, halbkreisförmig mit einem Rang, in einem eleganten Viertel beim Eifelturm, ist ausserordentlich anmutig. Als ich kam, war der Saal schon überfüllt. Vierhundert personen sitzen da und plaudern fröhlich. Alles kennt einander in dieser Elite des Filmkundigen Publikum. Ich schaue mir die Anwesenden an: ein paar junge Regisseurs, Assistenten, Dekorateurs, Aufnahmestatisten, Studenten, dann Gesichter aus der Arbeiterintelligenz und das Publikum der drei Pariser avant-gardistischen Kinosälen, ‘Vieux-Colombier’, ‘Ursulines’ und ‘Ciné-Latin’, wovon ich in einem nächsten Artikel erzahlen werde, schlieslich einige biedere Bourgeois.
Zuerst wurde ein uralter Chaplin-Film vorgeführt: ‘Der Rollschuhlauffer’, dann Lupu Pick's ‘Sylvester nacht’. Nun kam die Diskussion. Ich war gespannt drauf. Ueber den Chaplin-Film aus Anno Tobak fand man kein Wort zu sagen. Der erste Redner drückte ein für alle Mal die allgemeine Stimmung darüber mit den Worten aus, dieser Film, sei absolut genial und vollendet. Punktum. - Seit dem Chaplin-‘Skandal’ ist das eine Hysterie geworden. Eine findige Verleihgesellschaft hat alle alten und uralten Chaplin-Filme neu abziehen lassen und jedes Kino, das auf ein Elitepublikum reflektiert, führt sie unentwegt vor. Dicke Bücher über Chaplin sind über Nacht erschienen, spaltenlange Artikel über ihn geschreben worden, wo mit einem absoluten historischen Unverstand seine allerersten Filme plötzlich als unbedingt so genial gepriesen werden, wie seine wirklich tiefen und reifen letzten Grossfilme. Die ewige Klapptür, die ins Gesicht zurückschlägt und andre damals ebenso wie heute abgeschmackte Mätzchen sind fürs Modepublikum Wunder.
Dasselbe Publikum ist aber darüber einig, dass solche Mätzchen in 27er amerikanischer Possen als visuelle Einfälle blöd wirken, und sonst nichts. Und sogar bei den letzten Chaplin-Grossfilmen wiederspricht sich unverständlicherweise die hiesige Film-Avantgarde, die doch sehr auf neue, rein visuelle Eindrücken erpicht ist, nach ‘absoluten’ Filmen, ohne Sujet, nach Sinfonien von Lichteindrücken strebt, indem sie ohne Vorbehalt die Chaplin-Filme beweihraucht. Chaplin ist ein genialer Mensch, einverstanden, aber er ist als Filmmensch, milde gesagt, ausserst konservativ. Im ‘Pilger’ oder ‘Goldrausch’ packen einen das Sujet und die Handlung, die psychologische Entwicklung, so wie z.B. in einen Roman von Upton Sinclair, nicht aber spezifische Filmausdrucksmittel, die ja fast gänzlich dabei fehlen. Ein Chaplin-film ist beste, geniale sozialistische Litteratur, weiter nichts. Eisenstein's ‘Streik’ oder ‘Potemkin’ dagegen ist Film.
Dafür entfaltete sich eine grosse Diskussion über ‘Silvesternacht’. Dieser 23er Film dürfte den Lesern bekannt sein: Im einem Vorstadtviertel, ein Wirtshaus am Sylvesterabend. Die alte Mutter des Wirtes kommt aus dem Lande, um bei ihrem Sohn und dessen junge Frau die Sylvesternacht zu verbringen. Da prallen zusammen Mutter-und Frauenliebe und die ganze Skala der psychologisch äusserst durchdachten Konsequenzen rollt ohne einen einzigen Zwischentitel vor uns ab: Eifersucht der beide Frauen, umgeschwenkt in plötzliche glühende Liebe für einander, dann Neid der Mutter auf die Gattin und Hass der Gattin auf die Mutter, während der Mann, ungewollte Ursache des Konfliktes, fortwaehrend zwischen der Schenke und der Privatwohnung pendeln müss, ohnmächtig die Verschlimmerung der Situation hintanzuhalten, denn bald steht er selber im Banne seiner Frau, bald muss er sogar tätlich seine Mutter gegen letztere verteidigen.