Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden. Deel 94
(1979)– [tijdschrift] Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap– Auteursrechtelijk beschermd
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Der Föderalismus in der Schweiz. Entwicklungstendenzen im 19./20. Jahrhundert
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ging der Schweiz die Dimension der überseeischen Expansion ab, die den Vereinigten Niederlanden in der Frühneuzeit grossmachtähnliche Züge verlieh. Beiden Konföderationen aber ist zuletzt das gemeinsame Schicksal zuteilgeworden, von der Französischen Revolution verschlungen zu werden. Damit bricht die Parallele ab, die wir nicht weiterverfolgen wollen. Vielmehr wenden wir uns nun den Entwicklungstendenzen des schweizerischen Föderalismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zu. Es diene der Klärung, wenn mit einer Definition begonnen wird. Unter Föderalismus versteht man in der Schweiz gemeinhin ein Prinzip, das auf dem staatlichen Selbstbewusstsein der Kantone neben der Zentralgewalt und notfalls auch im Widerspruch zu ihr beruht.Ga naar voetnoot2. Ein Grundsatz, der sich nach unten auch auf das Eigenleben der Gemeinden und ihre relative Autonomie im kantonalen Verbande erstreckt. Es geht also im schweizerischen Wortgebrauch primär nicht um die bundesstaatliche Ordnung und um das Verbindende - was ja Föderalismus auch noch beinhalten kann -, sondern um die Eigenständigkeit der Teile | |
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innerhalb des Ganzen. Karl Ludwig von Haller wollte deshalb schon früh - nämlich 1807 - das damals aufkommende Schlagwort ersetzt wissen durch den Ausdruck ‘Selbständigkeit der Schweizer Kantone’.Ga naar voetnoot3. Seine geschichtlichen Wurzeln hat der Föderalismus denn auch in der alten Eidgenossenschaft und ihrem Staatenbund. Bewusst zum Problem erhoben aber wurde er doch erst an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert, als es sich darum handelte, den durch die französische Okkupation erzwungenen Einheitsstaat der Helvetik zu beseitigen oder doch zu modifizieren. Die helvetische Republik von 1798 hatte die alten Untertanenverhältnisse beseitigt und damit eine soziopolitische Nivellierung geschaffen, die nicht nur in der Französischen Revolution, sondern auch in Neuerungen des aufgeklärten Absolutismus ihre Präzedentien findet. Sie reduzierte die Kantone zu blossen Verwaltungsbezirken und konzentrierte alle Gewalt auf die Zentrale, die ihrerseits Befehlsempfängerin der Besatzungsmacht war. Die Helvetik blieb eine kurze Episode von langer Nachwirkung. Ihre tiefere historische Bedeutung beruht darin, dass sie zum ersten Mal aus der Schweiz einen modernen und konfessionsfreien Staat von gleichberechtigten Staatsbürgern machte und damit spätere Entwicklungstendenzen vorwegnahm. Sie bildete gleichsam eine These, zu welcher die nachfolgende Staats- und Verfassungsentwicklung eine Reihe von Antithesen aufstellte. Wir wollen diese Etappen nicht im einzelnen verfolgen: sie führen nach mehreren Experimenten zur napoleonisch oktroyierten Mediationsverfassung von 1803 und zu dem unter Einflussnahme der Siegermächte zustandegekommenen Bundesvertrag von 1815. Beide Grundgesetze markieren eine Rückkehr zu weitgehender kantonaler Souveränität, bedeuten aber im Vergleich zum ancien régime eine wesentliche Straffung und Modernisierung. Beibehalten wird vor allem eine wesentliche Errungenschaft der Helvetik: die Integration der ehemaligen Untertanengebiete oder der minderberechtigten Zugewandtschaften, die - mit der einen Ausnahme des zum Kanton Bern geschlagenen Fürstbistums Basel - als gleichberechtigte Kantone oder Kantonsteile anerkannt wurden. Freilich blieb der Staatenbund von 1815 nur beschränkt handlungsfähig, da sein oberstes Organ - die Tagsatzung als eidgenössischer Gesandtschaftskongress - kaum eine brauchbare Exekutive abgab. Sie versagte, als zollpolitische Anforderungen herantraten oder dem Druck der Heiligen Allianz zu begegnen war. Nach innen beruhte die Ordnung 1815 zu ausschliesslich auf der Herrschaft der herkömmlichen politischen Führungsgruppen. Diese mangelnde soziale Durchlässigkeit hat mit zur raschen Abnützung des Systems von 1815 beigetragen. Als 1830 der politische Erneuerungsprozess der Regeneration anhob, erfasste der expandierende Liberalismus vor allem die grossen Kantone des Mittellandes mit ihrem demographischen und | |
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wirtschaftlichen Uebergewicht und ihrer bereits fortschreitenden Industrialisierung.Ga naar voetnoot4. Nicht nur den Radikalismus einer empordrängenden politischen Elite von jungen Akademikern und Offizieren, auch wirtschaftliche Organisationen wie der Zürcher Industrieverein oder der Schweizerische Gewerbeverein drängten nach einer ‘vereinten Schweiz’ mit dem Ziel, ‘ihre nationalökonomische Existenz sich zu sichern und in bleibendem Zustand zu erhalten’.Ga naar voetnoot5. Zuletzt hielt nur noch ein Kern überwiegend katholischer Kantone an der alten Ordnung fest. Der Sonderbundskrieg brachte die Entscheidung, das Jahr 1848 mit der Bundesverfassung die politische Lösung. Sie regelte das Verhältnis von Bund und Kantonen in einer Weise, die sich bewährt hat, obwohl sie damals konservativen Beurteilern improvisiert und fremdartig erschien. Der Vorwurf hängt mit dem Modell der amerikanischen Unionsverfassung zusammen, das den schweizerischen Verfassungsschöpfern ein schwieriges Dilemma überwinden half. Dieser spontanen Entscheidung war ein längerer geistiger Annäherungsprozess vorausgegangen. Bereits 1800 hatte ein Waadtländer Pfarrer in einem Essay eine ähnliche Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen vorgeschlagen, wie sie in der amerikanischen Bundesverfassung niedergelegt sei.Ga naar voetnoot6. Die Parallele war aufgezeigt, sie gewann nach der Restauration wieder an Aktualität. 1833, als der erste missglückte Anlauf zu einer Bundesrevision unternommen wurde, und dann wieder 1848 wies der Philosoph Ignaz Troxler ausdrücklich darauf hin. Er betonte, Nordamerika stehe da als ‘grosses leuchtendes und lehrreiches Beispiel einer Eidgenossenschaft mit Bundesverfassung und der Verbindung der Zentralität mit Föderalismus’, zugleich aber als ‘Beispiel einer göttlich-menschlichen Gesellschaftsschöpfung, welche die ganze Welt nicht kannte’.Ga naar voetnoot7. Die damit fast ins Metaphysische entrückte Analogie bestand darin, dass in beiden Fällen ein Bund von Staaten unterschiedlicher Grösse, aber auch divergierender politisch-sozialer Struktur zu einer Einheit zusammenzufassen war.Ga naar voetnoot8. Daher der Gedanke einer | |
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doppelten Repräsentation, wobei dem nach Kopfzahl der Bevölkerung zu wählenden gesamtschweizerischen Nationalrat der sogenannte Ständerat als Vertretung der Kantone gleichberechtigt zur Seite stand. Indessen modifizierte die schweizerische Bundesverfassung das amerikanische Beispiel unter anderem darin entscheidend, dass sie auf eine präsidiale Spitze verzichtete. Die Regierung wurde vielmehr auf sieben Bundesräte verteilt, wobei der Bundespräsident nur als primus inter pares fungierte. Dieses Kollegialsystem kam insofern föderativen Wünschen entgegen, als die Exekutive dadurch nicht zentralistisch personifiziert wurde, sondern eine Berücksichtigung verschiedener Kantone und Landesteile gewährleistete. Das politische Leben pulsierte eben noch ganz vorwiegend in den Kantonen, ihren Hauptorten und Parlamenten; sie bildeten noch auf lange Zeit das Experimentierfeld für Innovationen verfassungsrechtlicher Art. Während die Unterlegenen des Sonderbundskrieges das Ende der kantonalen Selbständigkeit beklagten, sahen es ausländische Zeitgenossen anders. Ein bezeichnendes Beispiel bietet die Berichterstattung eines Arthur de Gobineau, der um 1850 der französischen Gesandtschaft als Attaché angehörte. Er glaubte nicht an die Zukunft des Bundesstaates, weil ihm dessen Regierung - eben der Bundesrat - viel zu schwach erschien. Gobineau spricht von einer impuissance complète dieses Gremiums, das ganz von den Kantonen abhänge. Le conseil fédéral est presque absolument désarmé, en fait et en bonne volonté... Il n'est au fond rien, il ne dispose de rien, il ne peut rien.Ga naar voetnoot9. Das war etwas überspitzt, aus dem Erlebnisbereich des Bonapartismus geurteilt. Soviel aber war klar: Der Bund übernahm nur die staatlichen Aufgaben, denen sich die Kantone nicht unterziehen konnten und wollten. Finanziell war er zunächst auf indirekte Steuern - vor allem Zolleinnahmen - bescl ränkt. Er richtete sich demgemäss auf kleinem Fuss ein; seine Institutionen behielten noch lange etwas Provisorisches. Selbst ein konservativer Beobachter wie Bluntschli konstatierte an der neuen Verfassung ein so auffallendes Schwanken... zwischen Kantonalität, Föderalismus und Nationalität, dass bei ihrer Betrachtung nicht leicht ein Gefühl dauerhafter Gestaltung aufkommen kann.Ga naar voetnoot10. Es gab ja auch keine Präponderanz eines einzelnen Kantons und folglich keine hegemonieähnliche Ausgangslage. Dennoch haben die Tendenzen zur Zentralisierung sehr bald die Oberhand gewonnen und die Kraft des Bundesstaates ge- | |
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stärkt. Dieser Prozess, der wesentlich durch die Nationalstaatsbildungen in Italien und Deutschland vorangetrieben wurde, ist bekannt und braucht hier im einzelnen nicht belegt zu werden: Die Verfassungsrevision von 1874 bezeichnet einen wichtigen Abschnitt dieses Weges. Seither ist die Verfassung als Ganzes nicht mehr revidiert worden, aber die zahlreichen Partialrevisionen, die inzwischen erfolgten, kommen summiert dem Ergebnis einer Totalrevision sehr nahe: die meisten räumten dem Bunde zusätzliche Befugnisse ein. Die grosse Beschleunigung im Ausbau der Bundeskompetenzen trat Ende des neunzehnten und dann im zwanzigsten Jahrhundert ein mit den sachlich gebotenen Vereinheitlichungen im Militär- und Rechtswesen, der Eisenbahnverstaatlichung und der Sozialfürsorge. Ihr stärkster Motor aber wurde - wie in den Vereinigten Staaten auch - das Recht des Bundes zur Erhebung eigener Steuern: diese sind seit dem Ersten Weltkrieg unter wechselnden Benennungen zur permanenten Einrichtung geworden.Ga naar voetnoot11. Damit wuchsen die Mittel und die administrativen Kräfte des Bundes schliesslich ins Grosse an - durch Finanzausgleich und Bundessubventionen hat er heute die Möglichkeit, gerade die finanzschwachen Kantone und damit die traditionellen Stützpfeiler des Föderalismus weitgehend von sich abhängig zu halten. Kann man aber einfach pauschal von einem Abbau des Föderalismus im Bundesstaat sprechen? Sicherlich geht es viel zu weit, die Kantone als souverän zu bezeichnen, wie dies die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 noch übereinstimmend tun - richtiger ist es wohl, mit Fleiner-Giacometti von ‘potenzierten Selbstverwaltungskörpern’ zu sprechen.Ga naar voetnoot12. Denn Souveränität meint oberste Gewalt im Staat und umfasst auch das Recht auf eigene Aussenpolitik. Davon kann seit 1848 keine Rede mehr sein - übrigens war diese Möglichkeit schon vorher den Kantonen nur in beschränktem Ausmass, sozusagen gruppenweise, zugestanden gewesen. Selbst die katholischen Kantone hatten nur zusammengeschlossen eine politische Handlungseinheit - den anderen Kantonen und dem Ausland gegenüber - zu bilden vermocht. Die schweizerischen Kantone waren im europäischen Zusammenhang ganz einfach zu klein, um wirkliche souveräne Gebilde darstellen zu können. Allerdings fiel es nicht allen Zeitgenossen leicht, davon Kenntnis zu nehmen. Man kann dies an zwei Beispielen, nämlich Aeusserungen von Persönlichkeiten verdeutlichen, die verschiedenen Epochen angehören, aber doch repräsentativ sind für das Verständnis dessen, um das es in der grundsätzlichen Auseinandersetzung im schweizerischen Selbstverständnis des neunzehnten Jahrhunderts ging. Ganz an dessen Anfang, nämlich im November 1801, schrieb Frédéric-César Laharpe, gestürzter Direktor der Helvetischen Republik und damit | |
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deren Apologet, seinem früheren Zögling, dem eben an die Regierung gelangten Zaren Alexander I. einen längeren Brief, worin er vor einer Wiederherstellung des Ancien Régime in der Schweiz - die damals durchaus möglich schien - warnte. Auf die Frage ‘Donnera-t-on à l'Helvétie le régime fédératif?’ antwortete er: Ce régime a des avantages incontestables dans une position insulaire, ou pour un pays tel que l'Amérique septentrionale. Dans le cas ou se trouve l'Helvétie, au contraire, dont le territoire placé au centre de l'Europe sépare ceux de grands états rivaux, jamais un gouvernement fédératif n'aurait assez de force et de vitesse pour empêcher que ce territoire ne devînt l'arène de leurs armées.Ga naar voetnoot13. Laharpes Ueberlegung geht also davon aus, dass die Schweiz als ohnehin exponierter Kleinstaat in der Mitte Europas sich den Luxus eines Föderalismus nach nordamerikanischer Art gar nicht leisten könne - ihm stehen die kriegerischen Heimsuchungen von 1799 noch sehr unmittelbar vor Augen. Die andere Aeusserung, ist rund siebzig Jahre später formuliert worden und entstammt den sogenannten Weltgeschichtlichen Betrachtungen Jacob Burckhardts - sie dürfte bekannter sein und lautet: Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind... Denn der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Grossstaates, selbst dessen Macht, ideal völlig aufwiegt; jede Ausartung in die Despotie entzieht ihm den Boden, auch in die Despotie von unten, trotz allem Lärm, womit er sich dabei umgibt.Ga naar voetnoot14. Was Jacob Burckhardt von dem Helvetiker Laharpe unterscheidet, ist keineswegs bloss die Differenz von Zentralismus und Föderalismus. Beide gehen vielmehr von einem ganz verschiedenen Kleinstaatbegriff aus. Für Laharpe ist der Kleinstaat die Schweiz und nichts kleineres. Für Burckhardt hingegen ist es die Polis, oder konkretisiert der kleine Stadtstaat Basel, und nicht etwa der Bundesstaat, zu dem er - wie fast alle Föderalisten seiner Generation - ein gebrochenes Verhältnis hatte. Auch der junge Segesser bekannte, dass die Schweiz ihn nur deshalb interessiere, weil sein Heimatkanton Luzern darin gelegen sei; er ist erst nach und nach in den Bundesstaat hineingewachsen. Was aber bis 1848 noch möglich war, erwies sich nach 1870 in zunehmendem Masse irreal: man konnte nicht mehr von der Polis im Sinne des Kantons ausgehen, schon deshalb nicht, weil die demokratischen Bewegungen deren alte Führungsschicht in die Opposition verdrängt hatten, zugunsten jener ‘Despotie von unten’, die Burckhardt so | |
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argwöhnisch diagnostizierte. Dieser Prozess, ebenso sozial als politisch intendiert, war irreversibel. Infolgedessen standen die Apologeten des kantonalen Kleinstaates - darunter auch Jacob Burckhardt und Philipp Anton von Segesser - zum vornherein auf verlorenem Posten. Ihre kritisch-ablehnende Haltung ist jedoch für den konservativen Föderalismus nicht schlechthin repräsentativ, oder doch höchstens in der ersten Phase des Bundesstaates. Um 1880 beginnt sich ein bedeutsamer Mentalitätswandel und auch eine Verlagerung im Föderalismus abzuzeichnen. Das ist einmal generationsbedingt: die Zeitgenossen der Epoche vor 1848 gehen dahin oder verlieren an politischem Einfluss. Im Katholizismus selbst, der nach wie vor festesten Bastion des Föderalismus, zeichnet sich eine Akzentverschiebung ab. Der Kulturkampf, der die Abwehrhaltung noch einmal verstärkt hatte, verliert an Virulenz. Vor allem bildet sich ausserhalb der katholischen Kantone mit ihren traditionellen und festgefügten Honoratioren-Eliten ein numerisch rasch anwachsender Diasporakatholizismus in den Industrieballungen und grösseren Städten - dies eine Folge der in der Bundesverfassung garantierten Niederlassungsfreiheit und der dadurch ausgelösten Binnenwanderungen. Das alles führte zu einer allmählichen Verjüngung der politischen Kader, einem Wandel der politischen Organisationsformen, es förderte auch die Anpassung an den Bundesstaat.Ga naar voetnoot15. Noch ein weiteres Element trug gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zur Bereicherung und Verstärkung der föderalistischen Tendenzen bei. Die welschschweizerischen Kantone, bis 1848 eher Förderer der Vereinheitlichung, sind bald schon zu Trägern und Sammelpunkten einer antizentralistischen Opposition geworden. Es wäre ein lohnendes Thema, diesen Prozess der Adaptation bzw. Nicht-Adaptation der welschen Schweiz, ihre Opposition gegen Bern und dessen Etatismus im einzelnen zu untersuchen. Sicherlich spielt dabei ein sprachliches Minoritätsbewusstsein mit. Die Mehrsprachigkeit der Schweiz ist zwar seit 1848 verfassungsrechtlich gewährleistet.Ga naar voetnoot16. Diese Sicherungsbestimmung hat wesentlich zum Sprachenfrieden beigetragen, aber eine Präponderanz des alemannischen Schweizertums nicht zu bannen vermocht. Dadurch sind Abwehrreflexe entstanden. Jedenfalls bot die Schweiz um die Jahrhundertwende keineswegs bloss das Beispiel eines reinen und ungetrübten Sprachenfriedens, wie es eine manchmal zu idyllisierende Sicht hat wahrhaben wollen. Es gab ziemlich intensive, obgleich kleinräumige und auch kleinkarierte Auseinandersetzungen, wobei aufs ganze | |
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gesehen die französische Sprache eher expandierte. Sicher ist der vielberufene Graben, der sich nach 1914 zwischen Deutsch und Welsch auftat, bereits in diesen Vorkriegsdiskussionen angelegt gewesen.Ga naar voetnoot17. Die welsche Schweiz empfand sich sehr ausgesprochen als Minderheit, zumal sie während mehrerer Jahre nur mit einem einzigen Bundesrat in der Landesregierung vertreten war. Alte waadtländische Abwehrinstinkte gegen Bern kamen hinzu. Bezeichnenderweise sind die Waadt wie auch etwa Fribourg im zwanzigsten Jahrhundert zu eigentlichen ‘föderalistischen Kampfkantonen’ (U. Meile) geworden.Ga naar voetnoot18. In diesem Zusammenhang muss wohl auch die Entstehung des Kantons Jura gesehen werden. Dieses Gebiet hatte seine geschichtliche Eigenständigkeit - eben die von einer politischen Elite bewusst wachgehaltene Tradition des Fürstbistums Basel - und es war, ähnlich der Waadt im achtzehnten Jahrhundert, der bernischen Herrschaft entwachsen. Die Verstärkung des welschschweizerischen Elements durch einen ganz französischsprachigen Kanton kann aber ebenso als innereidgenössische Ausgleichsübung verstanden werden. Sie verstärkt zugleich das Potential der Sperrminorität gegenüber einem deutschschweizerisch-protestantischen Uebergewicht. Bekanntlich muss seit gut einem Jahrhundert jede vom Bund ausgehende Vorlage auf den Widerspruch sowohl der katholischen als auch der welschschweizerischen Kantone gefasst sein; nicht wenige sind an dieser kombinierten Opposition gescheitert. Ein bedeutender Vertreter der Romandie, nämlich Gonzague de Reynold, hat deshalb von einer tiefen inneren Verwandtschaft zwischen den Welschschweizern und den Innerschweizern gesprochen und den Föderalismus scharf dem sogenannten Kantönligeist als einer Dekadenzerscheinung entgegengesetzt. Föderalismus sei auch nicht dem Regionalismus oder der blossen Dezentralisation vergleichbar, er sei vielmehr die schweizerische Wirklichkeit - ‘la réalité suisse, le caractère constant et unique grâce auquel il existe réellement une Suisse’.Ga naar voetnoot19. Diese ideologische Verklärung macht aus dem Föderalismus fast einen Mythos, signalisiert abert zutreffend den Geist jener föderalistischen Kombination der coincidentia oppositorum, die sich so oft als wirksame Bremse im Bundesstaat erwiesen hat. Das Instrumentarium des Föderalismus hat sich um die Jahrhundertwende bereichert. Die demokratische Bewegung, die sich in verschiedenen Kantonen in den 1860er Jahren durchsetzte und mit der Bundesrevision von 1874 auch auf eidgenössischer Ebene zu einem Teilerfolg gelangte, trug dazu bei. Zwar blieb das Prinzip der Repräsentativdemokratie in der Eidgenossenschaft gewahrt, und | |
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zu einer Volkswahl der Bundesräte ist es weder damals noch später gekommen. Dafür wurden seit 1874 Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse (nicht dringlicher Natur) dem fakultativen Referendum unterstellt, falls 30 000 Stimmbürger dies verlangten. Damit war die direkte Mitwirkung des Volkes bei der Gesetzgebung institutionalisiert. Diese Neuerung war bereits in den meisten Kantonen erprobt und wurde nun auf die höhere Ebene des Bundes übertragen. Sie ermöglichte verhältnismässig kleinen Gruppen, über nicht genehme Gesetze einen Abstimmungskampf zu erzwingen - eine Chance, von der immer wieder und häufig mit Erfolg Gebrauch gemacht worden ist. Ein Beispiel: 1882 scheiterte ein Versuch, das Volksschulwesen zu zentralisieren, an einer solchen Referendumsabstimmung. 1891 kam noch das Initiativrecht für einzelne Verfassungsartikel hinzu. Man sieht, wie demokratische Tendenzen, denen es ursprünglich keineswegs um eine Schwächung der Zentralgewalt ging, den Wirkungsbereich des Föderalismus erweiterten, indem sie unzufriedene Kräfte verschiedenster Richtung in seinem Sinne mobil machen konnten. Daraus ergab sich, dass die Opposition in zunehmendem Masse unberechenbarer und unüberblickbarer wurde, zumal die direkte Demokratie mit ihren Sachvorlagen den Stimmbürger ohnehin intellektuell und emotional strapaziert. Hier wäre überdies an das komplexe Verhältnis von Föderalismus und Parteien zu erinnern. Die Parteien, die sich um die Jahrhundertwende zu organisieren begannen, beruhen durchwegs auf kantonalen Grundlagen, bei oft nur lose organisierten Dachverbänden. Der Bundesrat war bis 1891 von der liberal-radikalen Siegergruppierung monopolisiert, dann hielt der erste Vertreter der katholisch-konservativen Opposition, der zugleich ein Repräsentant des Föderalismus war, Einzug in die oberste Landesbehörde. Sie ist dann sukzessive zu einem Spiegelbild des Machtverhältnisses der grossen Parteien und zu einem Ausdruck der Konkordanzdemokratie geworden - perfekt schliesslich seit 1959, als auch die Sozialdemokratie zu vollberechtigter Partizipation gelangte. Dabei spielte jeweilen weniger politische Konzessionsbereitschaft als vielmehr das Bestreben mit, abseitsstehende Schichten in die politische Ordnung und das Gesellschaftsgefüge des Bundesstaates zu integrieren. Das föderalistische Prinzip, wonach nicht mehr als ein Mitglied des Bundesrates einem Kanton entstammen darf, hat sich bisher aufrechterhalten lassen - es schränkt zwar die Selektion ein, wahrt aber die Vertretungschancen kleinerer Kantone in der Exekutive. Der Föderalismus ist - mindestens indirekt - auch an der ‘Verwirtschaftlichung der schweizerischen Politik’ erstarkt.Ga naar voetnoot20. Mit der politischen ist die wirtschaftliche und industrielle Struktur des Landes dezentralisiert geblieben, indem sie sich | |
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zwar nicht ausgesprochen kantonal, aber doch regional entwickelt hat. Wohl gibt es die grossstädtischen Wirtschafts- und Bankenzentren, aber daneben seit Beginn der Industrialisierung eine Vielfalt kleinerer, wichtiger Industriesiedlungen. Diese Erscheinung hat die politische wie die wirtschaftliche Bedeutung einzelner Kantone - darunter auch ausgesprochener Kleinkantone - gehoben; aus dieser Verbindung von Wirtschaft, Gemeinde und Kanton ist mancher profilierte Politiker hervorgegangen. Erich Gruners Forschungen zur schweizerischen Parlamentariersoziologie geben darüber reichen Aufschluss.Ga naar voetnoot21. Schon der Ausbau des schweizerischen Bahnnetzes in den ersten Jahrzehnten des Bundesstaates liess sich - entgegen ursprünglichen Absichten - nicht auf Bundesebene bewerkstelligen, sondern blieb der Privatinitiative anheimgestellt. Unter der mehr oder weniger straffen Aufsicht der Kantone errichteten die Eisenbahngesellschaften und die hinter ihnen stehenden Bankenkonsortien ein Netz, dessen wuchernde Vielfalt und Ueberdichte man mit Recht als lebendiges Abbild des Föderalismus bezeichnet hat.Ga naar voetnoot22. Wohl sind diese Bahnen nach 1898 verstaatlicht und ist damit der Einfluss der häufig in der Kantonalpolitik verwurzelten Eisenbahnbarone gebrochen worden. Dafür war eine andere Macht im Kommen: die der wirtschaftlichen Interessenverbände, deren Gewicht in den Anfangsjahren des Bundesstaates noch gering gewesen war. Auch hier markieren die Jahre um 1880 eine Zäsur: um diese Zeit beginnt - in der Schweiz wie auch im Deutschen Reiche - der grosse Aufschwung dieser Verbände als einer direkten Folge der Depressionen, Rezessionen und Agrarkrisen.Ga naar voetnoot23. Sie haben sich seither institutionalisiert und einen so starken Einfluss gewonnen, dass jede eidgenössische Gesetzgebung im sogenannten Vernehmlassungsverfahren neben den Kantonen auch die interessierten Verbände - in denen informell ja vielfach auch kantonale Interessen aufgehoben sind - zu begrüssen hat. Vor allem aber erweist sich die Steuerhoheit der Kantone und auch der Gemeinden als Instrument des Föderalismus von andauernder und zunehmender Wirkkraft. Die Attraktivität steuerbegünstigter Zonen hat ein eigentliches Filialnetz von wirtschaftlichen Unternehmen erstehen lassen, sie hat das Gewicht auch marginaler Gebiete und wirtschaftlich benachteiligter Kantone gehoben und ihre Interessen mit denen der Wirtschaftsverbände und mit denen der Banken eng verflochten. Dadurch konnten die von Anfang an vorhandenen Elemente der Dezentralisation trotz zunehmender Urbanisierung und der aufsaugenden Kraft grosser Agglomerationen ihre Bedeutung bewahren. Auch die bereits erwähnten Bundessubventionen haben diese Tendenz nicht wesentlich ver- | |
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ändert. Wohl haben wir die Erscheinung des sogenannten Vollzugsföderalismus, die den Kantonen lediglich die Ausführung von Bestimmungen überlässt, bei weitgehenden Interventions- und Steuerungsmöglichkeiten des Bundes. Die Praxis zeigt jedoch, dass gerade die von den Subventionen am stärksten abhängigen Kantone auch die gegebenen Widerstandszentren des Föderalismus bleiben. Der Ständerat aber ist heute nicht mehr, wie noch zu Beginn dieses Jahrhunderts, ausschliesslich eine Vertretung der Kantone; er vertritt ebensosehr bestimmte wirtschaftliche Interessen und Interessengruppen. Soviel zum historischen Aspekt des schweizerischen Föderalismus. Dass er nach wie vor eine ungebrochene Kraft im schweizerischen öffentlichen Leben darstellt, ist unbestritten. Er wird im internationalen Kontext gestützt durch den wiedererwachenden Trend zur Kleinräumigkeit, zur Beschränkung auf überblickbare politische Lebensformen. Die Entstehung des Kantons Jura ist nur ein Beispiel dafür. Versuche, den Föderalismus etwa durch Beseitigung des Ständerates zu schwächen, haben wenig Aussicht; auch dürfte es kaum gelingen, die traditionelle Bedeutung der Kantone durch eine künstliche Regionalisierung wirksam zu konkurrenzieren. Vor allem aber ist es die eben skizzierte wirtschaftliche und steuerpolitische Bedeutung der einzelnen Kantone, die dem Antizentralismus zugute kommt und eine Systemkorrektur ausschliesst.Ga naar voetnoot24. Eine Folge davon ist allerdings, dass die Schweiz zu einem Steuerrefugium von internationaler Ausstrahlung geworden ist und dass der Föderalismus zum Aushängeschild wirtschaftlicher Interessengruppen zu entarten droht, die sich des föderalistischen Instrumentariums als eines Mittels zum Zweck bedienen. Daraus erwachsen ihm Gefahren und zugleich gestärkte ökonomische Existenzgrundlagen. |
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