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Der Föderalismus in der deutschen Geschichte
Thomas Nipperdey
Ich beginne mit einigen Vorbemerkungen.
1. | Föderalismus ist kein systematischer und kein normativer, sondern ein historischer Begriff. Natürlich denken wir bei Föderalismus an eine Gestaltung des staatlich-politischen Lebens, die eine Vielheit einzelner politischer Gebilde zu einer Einheit, einem zusammengesetzten politischen Gebilde verbindet, Staaten zu einem Bund vereint, aber was eine solche vage Angabe konkret bedeutet, das lässt sich nur historisch, in jeweils anderen Situationen mit jeweils anderen Funktionen und Aufgaben erfassen. Anders als in der amerikanischen Tradition von federal, anders auch als in der national-deutschen Tradition zwischen 1871 und 1945 muss man darum die Wörter im Umkreis von ‘Föderalismus’ neutral benutzen, sie bezeichnen zunächst weder die Tendenz zur Einheit und Einigung der Glieder, noch die Tendenz zur Vielheit und Selbständigkeit der Glieder, weder Zentralismus noch Partikularismus. |
2. | Föderalismus ist als historischer Begriff kein statischer Begriff, der einen zumeist rechtlich fixierten Zustand beschreibt; es handelt sich vielmehr um einen Prozessbegriff, einen Begriff für eine dynamische Bewegung, zwischen Einheit und Vielheit, für ständig neu und wechselnd sich verstellende Integration und Desintegration. |
3. | Föderalismus mag ein allgemeines Prinzip des menschlichen Daseins und des Gesellschaftsaufbaus sein, wie zum Beispiel in der Theorie Proudhons; im historisch relevanten Sinn, und nur davon soll die Rede sein, meint der Begriff ein Verhältnis zwischen politischen, und zwar staatsähnlichen Gebilden. (Gemäss dem deutschen Sprachgebrauch lasse ich das Problem der Kommunen unberücksichtigt.) |
4. | Ich beschäftige mich nicht primär mit Ideen und Theorien über den Föderalismus, sondern mit der politischen Wirklichkeit des Föderalismus und den politischen Bewegungen, die ihn geprägt, entwickelt oder bekämpft haben. |
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I
Ich beginne mit der politischen Struktur Deutschlands im späten Mittelalter. Denn hier liegt die Wurzel für die Geschichte des Föderalismus in Deutschland, die Wurzel für die Tatsache, dass in Deutschland, anders als in Grossbritannien oder Frankreich, Föderalismus bis heute eine Tatsache und ein Problem von erstrangiger politischer Bedeutung gewesen ist.
Das Ergebnis der mittelalterlichen Verfassungsentwicklung in Deutschland ist es bekanntlich gewesen, dass das Reich sich partikularisiert hat, nicht nur aufgegliedert in grössere Territorien, sondern zersplittert in ein Gemenge von zahllosen kleinen und grossen einheitlichen oder sich überkreuzenden oder geteilten Herrschaften, ja Herrschaftsrechten, die Tatsache der partikularen Territorialherrschaften hat sich erst langsam aus diesem Zustand herausentwickelt. Die Lehnsherrschaft des Königs hatte in Deutschland ihren realen Inhalt, zum Beispiel Einzug und Heimfall von Lehen fast ganz verloren. Es war den Königen nicht gelungen, das Lehenssystem in einen einheitlichen Instanzenzug zu überführen, in dem sie das letzte Verfügungsrecht besessen hätten. Die Könige verfügten nicht, wie in Frankreich, über ein sich vergrösserndes Hausgut und auch nicht, wie in England, im Verein mit ihren Vasallen über durchsetzbare Kompetenzen und Rechte. Und das war - anders als zu Zeiten in Westeuropa - nicht nur ein Faktum der Machtverteilung, sondern das war rechtlich, gewohnheitsrechtlich oder statutarisch fixiert und institutionalisiert. Diese bleibende Partikularisierung von Macht und Herrschaft war die Folge des mehrfachen Aussterbens der Königshäuser, des Wahlkönigtums, besonderer politischer Konstellationen, und vor allem die Folge der Überanstrengung dieser Königsherrschaft durch das Kaisertum, die Auseinandersetzung um Italien und mit dem Papst. Charakteristisch für das partikularisierte Deutschland ist einmal das, was wir verfassungsrechtlich Dualismus nennen können: Kaiser und Reich auf der einen Seite, die Herrschaften, die sich erst langsam und nur zum Teil zu Landesherrschaften verdichten, die Reichsstände, wie sie dann heissen, andererseits. Und es ist charakterisiert dadurch, dass es diesen Ständen weniger um
Mitbestimmung in zentralen Angelegenheiten, etwa der Besteuerung ging, als um ihre Autonomie. Partikularisierung, Dualismus und Autonomie - das hält als Strukturmerkmal des Reiches bis zu Napoleon durch; das ist der Grund warum die Auseinandersetzungen zwischen Zentralgewalt und Partikulargewalten um ihr gegenseitiges Verhältnis wie um die Organisation der Zentralgewalt selbst, Föderation und Bund beherrschende Themen der deutschen Geschichte geworden sind und nicht: Zentralisierung und Bürokratisierung, nicht: selfgovernment und Adelsparlament.
Das Problem des Föderalismus begegnet uns im spätmittelalterlichen Deutschland auf zwei Ebenen, einmal in der Verfassung des Reiches, zum anderen in be- | |
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sonderen Föderationen: Einungen oder Bünden. Es ging zunächst um eine föderale Verfassung des Reiches, dass heisst eine Verfassung, die die Autonomie der (Glied) Stände, ihre Mitwirkungsrechte und das Funktionieren einer Zentralgewalt zugleich installieren und gewährleisten sollte. Das war das Thema der sogenannten Reichsreform. Eine solche Reform war notwendig, weil angesichts der territorialen Gemengelage und der sich daraus ergebenden Konflikte weder das Reich noch ein einzelner territorialer Grossstaat das leisten konnte, was Untertanen wie Herren von staatlicher Ordnung erwarteten, die Wahrung von Frieden und Recht, nach aussen und vor allem nach innen, gegen Fehde und Selbsthilfe. Die Stände wollten dabei ihre ‘Freiheit’ gegenüber dem König-Kaiser, wie überhaupt gegenüber einer Zentrale nicht aufgeben; sie wollten darum nicht eine Stärkung der kaiserlichen Zentrale, sondern eine von ihnen bestimmte oder doch wesentlich mitbestimmte Zentrale, das war das Programm des ständischen Reichsföderalismus. 1495 gelang es, auf einem Reichstag in der Form einer gegenseitigen Verpflichtung der Stände und des Kaisers, den ‘Allgemeinen Landfrieden’ zu erlassen und auf Dauer auch zu sichern, ein föderatives Zentralorgan, das ständisch bestellte Reichskammergericht, einzurichten und die Reichstage, quasi föderative Organe neben dem Kaiser, stärker zu institutionalisieren.
Und ein weiteres Element der - nun dezentralisierten, regionalen - Föderation: 1500 wurde das Reich in territorienübergreifende Reichskreise eingeteilt, um so Friedenswahrung und Verteidigung organisieren zu können. Das von den Ständen zweimal zustande gebrachte ständische, also nicht-kaiserliche, Reichsregiment, das wir als föderativ bezeichnen können, freilich hatte keine Dauer. Im ganzen aber ist weder das Gegeneinander von Kaiser und Ständen abschliessend (etwa im Sinne der Föderation) entschieden worden, noch waren die Stände in der Lage, ihre eigenen Gegensätze institutionell zu ordnen, einen gemeinsamen Willen gegen den Eigenwillen von Teilgewalten zu bilden oder gar durchzusetzen. Der Reichstag wurde nicht zum souveränen, neutralen und einzigen Repräsentanten der Stände. Das Reich war - auch wenn man die Randgebiete ausser Acht lässt - zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts kein politisch handlungsfähiges Gebilde, es hatte keine festen Grenzen, keine eigenen Truppen, keine durchgängige Verwaltung und kein gleiches Recht, es war in diesem Sinne nicht ein Staat.
Neben dem Dualismus von Kaiser und im Reichstag vertretenen Ständen einerseits, der Selbständigkeit der vielen Herrschaften andererseits war die Wirklichkeit und auch die Rechtsordnung des Reiches um 1500 bestimmt von Bünden, Einungen, Föderationen der Stände und Herrschaften untereinander. Solche Bünde abzuschliessen, war das anerkannte Recht der einzelnen Stände, das weder vom Kaiser noch vom Reichstag je in Frage gestellt wurde. Weil die Stände einzeln zu schwach waren, ihre Rechte und Interessen durchsetzen zu können und weil insbesondere der Friede durch das Reich nicht effektiv gesichert war, schlos- | |
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sen sie sich zu grösseren Aktionseinheiten zusammen, zum Verein der Kurfürsten, zu Einungen der Fürsten, Gesellschaften der Ritter, Bünden der Städte, also Bünden zwischen gleichrangigen Ständen, aber auch zu Bünden zwischen Fürsten, Rittern und Städten wie den drittelparitätischen Schwäbischen Bund, zu regionalen oder überregionalen Bünden und zuletzt um 1500 im Bundschuh gar zu Bünden revolutionär konservativer Bauern. Diese Bünde beruhten auf gegenseitiger Anerkennung und Gleichberechtigung, sie waren genossenschaftlich organisiert, auch wo sie die lehensrechtlichen Hierarchien berührten, auch wo es zwischen den Gliedern ein Machtgefälle gab. Die Bundesgenossen verpflichteten sich zu gegenseitiger Hilfe und zu gemeinsamen Aktionen für die jeweils festgelegten Zwecke, sie unterwarfen sich gemeinsamen Beschlüssen und bildeten gemeinsame Institutionen: Reiter, Heere, Schiedsgerichte. Das war das ‘institutionelle Minimum’ (Koselleck) eines solchen Bundes. Der Zweck umfasste im allgemeinen nicht das Ganze der politischen Herrschaft, sondern war spezifiziert, darum waren die Bünde im allgemeinen nicht ‘ewig’,
sondern auf Zeit geschlossen, also kündbar. Solche Bünde sicherten in ihrem Bereich Frieden und Recht, organisierten Verteidigung und dämmten das Fehderecht ein, suchten zwischenständische Konflikte friedlich zu regeln. Sie verbanden das Partikularinteresse der einzelnen Glieder mit dem gemeinsamen Interesse aller, sie nötigten zu Kompromissen und Kooperation. Sie mochten gegen den Kaiser, ohne ihn oder mit ihm abgeschlossen sein, sie sicherten jedenfalls eine relative Unabhängigkeit vom Kaiser, ein potentielles föderatives Widerstandsrecht, und nahmen zugleich Aufgaben des Reiches wahr, setzten wie der Schwäbische Bund gerade im Auftrag des Kaisers den Landfrieden durch. Freilich, die Bünde umfassten nie das ganze Reich, es gab ein ‘territoriales Maximum’, das man nicht überschreiten konnte, ohne eine entscheidende Voraussetzung jedes Bundes, die relative Homogenität der Bundesglieder, zu vernichten. Aus Bündnissen und Vereinbarungen wurden Bünde und Einungen mit einem institutionellen Charakter; das Reich war neben seiner lehensrechtlichen Organisation von einem Netz solcher Föderationen durchzogen. Karl V. hat, interessant genug, versucht, das Reich als Bund zu organisieren, also diese föderative Form auf das Gesamtgebilde zu übertragen, um so zu erreichen, was anders nicht möglich schien: den Frieden. Aber damit ist er nach 1547, nicht nur an den Protestanten, sondern an den Fürsten gescheitert. Das Reich war räumlich zu gross, um als Bund organisiert, durch die eidlichen Verpflichtungen der Beteiligten befriedet werden zu können.
Freilich, auch die Möglichkeiten der regionalen Bünde darf man nicht überschätzen. Es gelang im allgemeinen nicht, auch vor 1517 nicht, die ständische Vielfalt, die zwischenständischen Spannungen, die Machtunterschiede, die Interessendifferenzen, die Heterogenität der Bundesglieder so zu bändigen, dass gemeinsames Handeln auf Dauer institutionalisiert wurde. Nur in Randgebieten ge- | |
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wannen Bünde wie die Eidgenossenschaft Dauer. Sonst zerbrachen auch die starken regionalen Bünde, selbst der Schwäbische Bund ging, vor der Reformation schon, durch seinen Konflikt mit dem württembergischen Herzog Ulrich seiner Auflösung entgegen.
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II
Die Reformation hat die quasi-föderative Reichsverfassung und die föderalen Einungen entscheidend modifiziert. Die gewohnheitsrechtlich legitimierte Form der Einung wurde zur konfessionellen Kampforganisation. Der Schmalkaldische Bund und das Gegenbündnis des Kaisers, und dann die Liga und die Union vor Ausbruch des dreissigjährigen Krieges, zum Beispiel waren überlieferte Einungen, so sehr sie sich ihrem Zweck nach unterschieden: nicht mehr um den Frieden, sondern um den Kampf ging es Ihnen. Koselleck hat mit Recht betont, dass ein wesentlicher Unterschied zu England und Frankreich ist, dass sich in Deutschland der konfessionelle Bürgerkrieg in föderalen Formen reichsrechtlicher Legitimität vollzog; das ist der Grund, warum das Reich sich als konfessionell zweigeteiltes Gemeinwesen erhielt, ja diese Teilung zum Verfassungsrecht machte; ja die Möglichkeiten des späteren Dualismus des katholischen Österreich, des protestantischen Preussen ist hier begründet. Die revolutionären Möglichkeiten einer Föderation, der religiöse Bund, wie er sich in Grossbritannien aus der Covenanttheologie entwickelt hat, ist in Deutschland nicht zum Zuge gekommen. Luther hat die linksreformatorischen Ansätze der Chiliasten, der Täufer, der Bauern zu einer föderaldemokratischen Organisation abgewehrt. Sein Begriff des religiösen Bundes war spirituell: nur Gott schickt einen Bund, der Mensch kann ihn nicht machen; ja selbst das Übergreifen einer Obrigkeit auf fremde Untertanen im Namen des Glaubensschutzes galt ihm als unstatthaft, weil es zu totaler Konfusion führen würde. Luther wehrte die utopische Umdeutung des Bundesbegriffes ab, im Ergebnis konservierte er damit die Tradition föderativer Verfassungsformen. Die Schmalkaldener nannten sich gerade nicht Bund, sondern Verständigung, sie bewegten sich im gegebenen
Rahmen des Föderationsrechts und die Juristen überzeugten Luther davon, dass die reichsunmittelbaren Stände und nicht der Kaiser Obrigkeit im paulinischen Sinne seien. Das Föderationsrecht war das der Fürsten und Obrigkeiten. Es wurde religiös intensiviert, die religiöse Innerlichkeit wurde ein neues treibendes Element solcher Organisation, sie setzte sich deshalb über die traditionelle Treuepflicht gegenüber dem Kaiser, die formal für alle bisherigen Bünde gegolten hatte, hinweg. Und zugleich waren die religiösen Föderationen von der Rechtstradition der Einung her legitimiert. In und durch solche Einungen, Föderationen, Bünde hat sich in Deutschland die Konfessionsbildung und die territoriale Konsolidierung
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der Konfessionen vollzogen, durch sie sind die Konfessionen rechtlich wie faktisch in die Reichsverfassung hineingewachsen.
Das hatte nun eine paradoxe Folge. Wenn es die Funktion der Glieder eines religiösen Bundes war, religiösen Schutz zu gewähren, so verstärkte das den staatlichen Charakter der Herrschaft dieser Bundesglieder; zuletzt konnten nur die Landesherren wirklich solchen Schutz garantieren. Darüber hinaus erweiterte sich unter dem Druck der politischen Lage der Handlungsraum dieser Bünde ins Europäische, der deutsche Konfessionskampf verflocht sich mit dem gemeineuropäischen Konfessionskampf und damit zugleich natürlich mit dem europäischen Macht- und Hegemonialkampf der Dynastien und Staaten. Frankreich, dann Spanien, dann Schweden wurden zu Teilnehmern an den deutschen Konflikten und Bündnissen. Damit aber blieben letzten Endes nur noch die Partner eines Bundes vollwertig, die auf europäischer Ebene mithalten konnten. Die Anforderung an Bundesgliedschaft stieg, nur noch die grossen Reichsstände, die Fürsten im Grunde, waren bundesfähig. Mit diesem Eintritt der konfessionellen Bünde in das Feld der europäischen Machträson beginnt paradoxerweise die Entkonfessionalisierung der Bünde, wie sich das in der Zeit des dreissigjährigen Krieges dann allgemein durchgesetzt hat. Das Ergebnis von 1648 ist darum nicht zufällig: aus den Bünden hat sich das Bündnis oder Allianzrecht der Fürsten herauskristallisiert, ein föderatives Verfassungsprinzip schlägt um in die Maxime souveräner Aussenpolitik (in dem Sinn, in dem Locke federative power als aussenpolitische Gewalt definieren konnte).
Die Möglichkeiten, das Reich im ganzen noch föderativ zu organisieren, die Reichsverfassung zu stabilisieren oder im Sinne grösserer Handlungsfähigkeit der Gesamtheit auszubauen, sind durch die konfessionelle Frontbildung - quer zu räumlichen Zusammenhängen - und die europäische Verflechtung endgültig reduziert worden. Im dreissigjährigen Krieg haben die Schweden mit der Heilbronner Conföderation von 1633 versucht, das von ihnen beherrschte Reich bündisch zu organisieren - unter Führung einer auswärtigen Macht nun, eben Schwedens. 1635 hat der Kaiser, durch Kriegsglück und Friedensbereitschaft der Protestanten begünstigt, beinahe eine monarchische Führung des Reiches mit Bündnis-und Rüstungsverbot für die Gliedstaaten erreicht. Aber in der Endphase des Krieges hat Frankreich - von der Fortdauer der Konfessionsspannungen begünstigt - diese Lösung endgültig abgeblockt. Es erzwang die Teilnahme der Stände an den Friedensverhandlungen und sicherte mit ihnen die ‘teutsche Libertät’.
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III
Das Reich von 1648 war wesentlich lockerer organisiert noch als bis dahin, es war nur noch sehr begrenzt eine handlungsfähige Einheit. Das Schwergewicht lag
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bei den Ständen, den Herrschaften und Territorien, die zu Staaten wurden, Landeshoheit besassen. Ausdruck der territorialen Souveränität war die fast unbegrenzte Bündnisfreiheit mit Reichs- wie Nichtreichsangehörigen, das ius foederis und damit verbunden das ius belli ac pacis (dass sich ein Bündnis nicht gegen Kaiser und Reich richten durfte, war nicht mehr als eine formale Einschränkung). Die Gliedstaaten wurden Völkerrechtssubjekte. Aus dem Einungsrecht der Tradition wurde das Bündnisrecht der Moderne, aus den institutionalisierten Bünden zur Erhaltung des Friedens und des Glaubens wurden wechselnde aussenpolitisch-militärische Allianzen zur Erhaltung oder Ausweitung der eigenen Macht. Und es ist charakteristisch, dass der Ausdruck Bund ein ungebräuchlicher, allenfalls historischer Begriff wurde. Die Glieder solcher Bündnisse wuchsen weiter aus dem Reich in das System der europäischen Kabinettspolitik hinein. Das war de facto nur noch den grösseren Ländern möglich, die ein Heer aufstellen und/oder finanzieren konnten, und die Grösse solcher Heere hatte ausserordentlich zugenommen - um 1500 war der Schwäbische Bund mit 17.000 Mann noch eine erstrangige Macht, Ludwig XIV aber mobilisierte 350.000 Mann: der Machtstandard hatte sich verschoben; und damit war die finanzielle Schwelle, Partner eines Bündnisses zu werden, natürlich stark angehoben. Die Zahl der Bündnispartner wurde geringer, ihre Homogenität nahm zu.
Die Bündnisse waren durch Verfassung und Recht des Reiches gedeckt. Sie verzehrten seine Substanz und hielten es - paradoxerweise - zugleich aufrecht, weil es die Bedingung dieser Art von Bündnispolitik war. Der von Friedrich dem Grossen und seinen süddeutschen Verbündeten errichtete Fürstenbund von 1780 etwa richtete sich gegen österreichische Machterweiterung und prätendierte, die Reichsverfassung zu schützen, aber faktisch hiess das nur, dass die Beteiligten die schwache Verfassung im eigenen Interesse weiter nutzen wollten.
Die föderativ verbindenden Strukturen des Reiches waren schwach, seine Kompetenz gering; der Kaiser war als Kaiser sogar in seinen Bündnisentscheidungen an den Reichstag gebunden, der Reichstag durch Organisation, Abstimmungsmodalitäten (Vetorechte) und die vielen bestehenden Gegensätze wenig handlungsfähig. Auch die Wiener Zentralinstanzen und das Kammergericht waren nicht sonderlich effektiv im Sinne zeitgenössischer Staatlichkeit. Präsenter war zeitweise das Reich noch in den Reichskreisen und den Versuchen, Assoziationen zwischen solchen Kreisen zu bilden; das waren föderative Organisationsformen, die ètwa der Verteidigung und der Wahrung von Unabhängigkeit und Neutralität dienten. So interessant diese Versuche für das Fortleben des Reiches und der föderalistischen Strukturen sind, sie sind gescheitert. Es gelang nicht, die kreisübergreifenden und grossen Territorien in solche Organisation einzufügen, sie behielten ihre eigene bewaffnete Macht und/oder tendierten dazu, hegemoniale Vormacht eines Kreises (als ihres Klientelsystems) zu werden. Es gelang auch nicht,
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die Vielzahl kleiner und mittlerer Territorien assoziativ zu einem politisch handlungsfähigen Subjekt zu machen, einen gemeinsamen Willen zu konstituieren. Die Möglichkeit, das Reich bündisch zu organisieren, war nicht mehr gegeben - nicht nur weil die europäische Lage, die Souveränität, die Machträson und -ambition der Staaten das verhinderte. Vielmehr erfüllte einerseits ein Teil der deutschen Herrschaften nicht mehr die Minimalbedingungen frühneuzeitlicher Staatlichkeit, zum anderen konservierte die lehensrechtliche hierarchische Tradition des Reiches, die die Souveränitäten einschränkte, die Heterogenität der Teilgebiete. Um ein Bund zu werden aber mussten die Staaten wenigstens prinzipiell homogen werden.
Dennoch war das föderative Gebilde Reich nicht ein Nichts, und die Forschung, die sich von der einseitig nationalen Perspektive des neunzehnten Jahrhunderts abgekehrt hat, hat das sehr deutlich herausgebracht. Vor allem im sogenannten ‘dritten Deutschland’, jenseits der grösseren Territorialstaaten, im Deutschland der geistlichen Fürstentümer, der Ritterschaften, der Städte und der kleinen Territorialherren, im Südwesten, am Rhein, in Franken, war das Reich trotz seiner Immobilität noch eine schützende und erhaltende Macht, von der Privilegien und Herrschaft, Frieden und Ordnung und Konfliktlösung abhingen, und dieses Reich war zumeist, wenn auch immer labil, von der Hausmacht des Kaisers von Österreich dominiert. Das Interesse Österreichs am Reich, der Versuch stärkerer Territorialmächte wie Preussen oder zeitweise Bayern, oder ausserdeutscher Mächte wie Frankreich, Einfluss auf das Reich zu nehmen, zeigt, dass es hier noch eine quasi staatliche Realität und ein Stück politische Macht gab, um das zu ringen sich lohnte. Und bis ins späte achtzehnte Jahrhundert können wir bei vielen Deutschen eine Mentalität belegen, die man als Reichspatriotismus bezeichnen kann. Insofern lebte die Frage, wie sich staatliche Einheit und staatliche Vielheit in Deutschland verhalten, als Problem fort. Der Gegensatz, der die deutsche Geschichte freilich fortan bestimmte, der Machtdualismus zwischen Österreich und Preussen, der sich seit der Errichtung des preussischen Königtums 1701 und zumal unter Friedrich dem Grossen ausbildete, war freilich nicht eigentlich ein Dualismus im Reich, denn Preussen bildete sich als Grossmacht ausserhalb und gegen das Reich, Friedrich der Grosse wollte Österreichs Stellung als europäische Macht schwächen, nicht um seine Hegemonie im Reich konkurrieren oder sie durch eine
geteilte dualistische Hegemonie ersetzen. Hier schien sich der föderative ‘Überbau’ aufzulösen, wenn auch die Rechtsformen und -mittel des Reichsföderalismus von beiden Seiten taktisch und ideologisch genutzt wurden.
Wichtig für das Problem des Föderalismus in dieser Zeit ist schliesslich neben der politischen Realität die politische Theorie. Das merkwürdige Reich stellte für das frühneuzeitliche Staatsdenken ein Problem dar. Es passte nicht in die aristotelische Staatsformenlehre und nicht unter den seit Bodin sich ausbildenden Be- | |
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griff der Souveränität. Bodin bestand darauf, dass Bündnisse entweder die Souveränität der Bundschliessenden erhielten oder einer anderen höheren Gewalt unterordneten: entweder ein völkerrechtliches Bündnis souveräner Staaten oder ein neuer Staat. Vor dieser Alternative lösten sich letzten Endes alle Zwischenformen auf, ein Bund hatte keinen staatlichen Charakter, wie nach Bodin die Eidgenossenschaft keinen hatte, und das deutsche Reich wurde dann notgedrungen als Aristokratie der Stände, die einen Kaiser wählen, der ihren Gesetzen unterworfen war, klassifiziert. Die auf empirischer Beschreibung oder auf der Lehre von den gemischten Verfassungen beruhenden juristischen Definitionsversuche konnten sich damit nicht begnügen - denn das Reich war so etwas wie eine Einheit, obwohl es das souveräne Bündnisrecht der Glieder gab. 1661 unterschied der Staatsrechtslehrer Hugo ein superior res publica und die inferiores rei publicae und erklärte Majestätsrechte für teilbar. Leibniz, der 1670 noch einmal einen Plan entwickelte, das Reich als Bund neu zu organisieren, meinte polemisch, wenn man eine Union (unio) nicht als ein einziges Gemeinwesen, als Einheit also, definieren dürfe, und also an der Unteilbarkeit der Souveränität festhalten müsse, dann - allerdings - müsse man Deutschland als Anarchie beschreiben. Pufendorf hat das Reich bekanntlich als Monstrum beschrieben. Er erkannte
einerseits, dass die aristotelischen Kategorien für das Reich nicht anwendbar seien: Das Reich sei weder Monarchie noch Aristokratie noch ein Mixtum. Er erkannte andererseits die Realität von Staatenbünden, deren Glieder ihre Souveränität zwar zum Teil, nicht aber gänzlich aufgaben; das nannte er ‘System’ (foedus systema producens). Aber das Reich, so meinte er, sei auch kein ‘System’, es sei zwischen regnum und systema ein irreguläres, monströses corpus. In der Tradition des Althusius entwickelten sich Theorien über die res publica mixta mit einer duplex potestas civilis. In diesem Sinne hat dann 1777 der Jurist Pütter, indem er auf Geschichte und Erfahrung rekurrierte, das Reich als zusammengesetzten Staat, immerwährende Vereinigung definiert, und in seiner Nachfolge nennt Gönner dann Deutschland einen Staatenverein, der sich vom blossen Staatenbund durch ein Mehr an Einheit unterscheidet. Aber zu einem Konsens über eine Definition der Reichsverfassung kam es nicht. ‘Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr’, meinte Hegel im Blick auf diese Verfassung. Ein politisches Modell für das erwachende politische Bewusstsein der Nation stellte diese Verfassung nicht dar.
Ich kann nicht auf die politische Ideengeschichte des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts eingehen, die für die Theorie des ‘Föderalismus’ besonders interessant ist, auf die Übernahme des Wortfeldes ‘föderal’ während der französischen Revolution, auf die zuerst religiöse, dann allgemeinmenschliche Intensivierung der Bedeutung von ‘Bund’, auf Kants Verbindung der Idee des Bundes mit übernationalen Organisationen der Friedenswahrung,
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woher dann Völkerbund wie Heilige Allianz an diesen Ideenstrang anknüpfen. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts werden Bund und Föderation zum Gegenstand politischer Hoffnung. Der Fürstenbund von 1785 sollte ein Bund des Kaisers und der ganzen Nation werden, meinte Dalberg; Johannes von Müller schrieb 1787 eine Geschichte des Reiches als Geschichte von Assoziationen, die alle Krisen überwunden hatten; auch für ihn sollte der Fürstenbund führen zu einer ‘Bundesrepublik’, in der Fürstenmacht und Nationalfreiheit zusammen bestehen, die Deutschen eine Nation sein dürften. Aber realiter ist erst durch die napoleonïsche Flurbereinigung, die Vernichtung der kleinen Herrschaften, die Auflösung des lehnsrechtlich konservierten Reiches, die Entstehung souveräner Einzelstaaten, die Möglichkeit zu einem realen Bund eröffnet worden. Erst als die Staaten formal gleichberechtigt und homogen waren, konnten sie einen Bund bilden.
Das Zwischenspiel des Rheinbundes braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Bei dem Versuch, dieses Gebilde begrifflich zu erfassen, haben die Juristen den Unterschied des Staatenbundes zum Bundesstaat herausgearbeitet. Aber die Wirklichkeit blieb dadurch bestimmt, dass die gemeinsamen Organe des Rheinbundes, zumal auf Betreiben Bayerns, nicht zustande kamen und die napoleonische Hegemonie übermachtig war. Von einer Föderation konnte letzten Endes doch nicht die Rede sein. Der Rheinbund wurde für das entstehende Nationalbewusstsein eine Schimpf- und Spottgeburt.
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IV
1815 ist Deutschland nach dem entgültigen Zerfall von 1800 politisch als etwas Ganzes wiederhergestellt worden. Freilich nun in einer ganz neuen Form: als Deutscher Bund. Dieser Bund, der schon durch seinen Namen dem Prinzip des Föderalismus zugehört, hat für mehr als ein halbes Jahrhundert die realen politischen Erfahrungen der Deutschen mit dem Föderalismus, dem Leben in zwei politischen Ordnungen, der einzelstaatlichen und den gesamtdeutschen bestimmt, daran ist er - so ruhmlos seine Existenz gewesen ist - von entscheidender Bedeutung für die neuere deutsche Geschichte. Der Deutsche Bund war ein Bund der Staaten und Regierungen, primär ein Staatenbund auf der Souveränität der Einzelstaaten aufruhend, mit schwachen bundesstaatlichen Elementen, Kompetenzen und Institutionen. Der deutsche Bund war nicht das Staatswesen, das die entstehende Nation sich wünschte, kein Nationalstaat, kein Bundesstaat, nicht der Bund der deutschen Völker und Stämme. Kein Staat der Konstitution, der Repräsentation der Nation, der Verfassung, des Parlamentes, der Grundrechte, kein Staat mit starker zentraler Gewalt, mit einheitlichen Gesetzen, mit einheitlicher Wirtschaft. Der deutsche Bund war die Organisation eines obrigkeitlichen, eines
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restaurativen Föderalismus, der sich der nationalen und liberalen Bewegung des Jahrhunderts entgegenstellte, der Gegentypus zum Programm des Nationalstaates. Das ist das Ergebnis der Konstellation von 1814/15, Ergebnis der Machtverteilung der Zeit. Nicht die Völker, nicht politische Bewegungen oder öffentliche Meinungen, sondern die Regierungen der Staaten entschieden. Das Interesse der europäischen Mächte war gegen einen neuen Nationalstaat, war für die Selbständigkeit der deutschen Einzelstaaten. Das Interesse und das Machtbewusstsein der dynastisch-bürokratischen Rheinbundstaaten widersprach jeder Einschränkung ihrer neu gewonnenen Souveränität (und darum schon kam eine Erneuerung des alten Reiches nicht in Frage). Auch das Eigeninteresse des übernationalen Gesamtstaats Österreich war einem nationaldeutschen Bundesstaat entgegen; in gewisser Weise gilt das schliesslich auch für Preussen, dessen europäische Stellung bei Einordnung in einen Bundesstaat neben Österreich gelitten hatte. Der Wiener Kongress hat sich mit vielen Zwischenlösungen zwischen Staatenbund und Bundesstaat beschäftigt - direktoriale Zentralgewalt, plurale Hegemonie - Stein und auf andere Weise Humboldt haben eher bundesstaatlichnationale Verfassungspläne vorgelegt - darauf können wir nicht eingehen. Letzten Endes sind die Zwischenlösungen - nach der sächsisch-polnischen Krise des Kongresses - am Souveränitätsanspruch der süddeutschen Staaten gescheitert.
Ehe wir die föderative Struktur dieses Bundes und sein Verhältnis zur liberalnationalen Bewegung ins Auge fassen, muss man ein Wort über seine europäische Funktion sagen. Der Bund war, nach der Intention Metternichs wie nach seiner faktischen Wirkung, ein System zur Sicherung von Frieden, Gleichgewicht und Stabilität in Europa. Der Partikularismus der Einzelstaaten gerade hielt ein deutsches und damit das europäische Gleichgewichtssystem aufrecht; er neutralisierte durch seine blosse Existenz Spannungen in Deutschland, zumal zwischen den Hauptmächten und zwischen Deutschland und Europa. Der Bund habe die Aufgabe, so meinte Humboldt, zu verhindern, dass Deutschland ein erobernder Staat werde, das sei seine defensive Bestimmung. Gerade darum sei er ein Staatenbund. Die staatenbündische Existenz war also nicht nur ein Ziel in sich selbst, das der einzelstaatlichen Souveränität und ihrer Aufrechterhaltung entsprach, sondern sie war zugleich ein Mittel für ein übergeordnetes europäisches Ziel, die Aufrechterhaltung von Gleichgewicht, Stabilität und Frieden. Das ist der Grund, warum Historiker und Publizisten im neunzehnten wie im zwanzigsten Jahrhundert, die davon überzeugt waren, dass das nationale Prinzip und die Bildung von Nationalstaaten eine dauerhafte Ordnung Mitteleuropas wie Europa überhaupt sprengen würden, dem Deutschen Bund trotz seiner restaurativen Züge mit Verständnis und Sympathie gegenüberstanden.
Welcher Art war der Föderalismus, mit dem der Bund das deutsche Problem
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von Vielheit und Einheit löste? Der Bund war, kann man im Anschluss an Humboldt, den preussischen Bevollmächtigten auf dem Wiener Kongress, sagen, ein Staatenbund mit eingesprengten bundesstaatlichen Elementen, noch immer, wie er meinte, ‘monströs’ im Sinn überlieferter Staatslehre. Er war mehr als eine Allianz, denn er war ewig und unauflöslich. Er verband die selbständigen Staaten zu einer lockeren Einheit. Sein Zweck war begrenzt: Er sollte die innere und äussere Sicherheit Deutschlands und die Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit seiner Staaten erhalten, also äussere und innere Gefahren abwehren. Im Inneren, so hiess es 1820, bestehe der Bund aus einer Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten, in seinen äusseren Verhältnissen als eine in politischer Einheit verbundene Gesamtmacht. Nur soweit die Existenz des Staatenbundes und sein Zweck es nötig machten, mussten die Glieder Teile ihrer Unabhängigkeit aufgeben; das Mass an Einheitlichkeit, wir können sagen: an bundesstaatlichen Elementen, war dadurch begrenzt, dass es nichts war als ein Mittel zur Erhaltung des Staatenbundes auf der Basis der einzelstaatlichen Souveränitäten. Das zeigt sich an der institutionellen Ausgestaltung.
Es gab kein Oberhaupt und keine selbständigen zentralen Organe, zum Beispiel Gerichte, eine Militärverwaltung oder eine Instanz für Aussenpolitik. An der Spitze stand ein Gesandtenkongress, der Bundestag, bei dem für die wichtigsten Sachen Einstimmigkeit vorgeschrieben war, also ein Vetorecht galt. De facto wurde der Bund durch die Hegemonie der beiden ihm zugehörenden europäischen Grossmächte, Österreich und Preussen, bestimmt, man kann von einer Doppelhegemonie sprechen. Die Staatsräson der beiden Grossmächte und ihre latente Konkurrenz erlaubten mehr noch als das Vetorecht nur eine lockere Bundesstruktur, auch und gerade in der Zeit bis 1848, als Österreich und Preussen den Bund in Kooperation leiteten. Preussens potentielles Interesse an einer Intensivierung des Bundes hätte nur seiner eigenen Hegemonie gedient und zu einem Herausdrängen Österreichs führen können, das wurde durch Österreichs Desinteresse an solcher Intensivierung konterkarriert. Preussen war zu sehr, Österreich zuwenig am Bund interessiert, die Doppelhegemonie hielt das Gleichgewicht wie die lockere Struktur des Bundes aufrecht. Im ganzen lebte der Bund weniger durch institutionelle Einheit als durch moralisch politische Einigkeit seiner Staaten.
Die Verfassungswirklichkeit des Bundes lässt sich dann in zweifacher Hinsicht charakterisieren. Einmal, der Bund beschränkte selbst seine Aktivität, ja blieb in vieler Hinsicht untätig. Eine eigene Aussenpolitik hat er nicht getrieben, und selbst die Gemeinsamkeit der Verteidigungsorganisation blieb schwach. Zu möglichen einheitlichen Regelungen, vor allem auf den Gebieten der Wirtschaft (Zoll, Handel, Schiffahrt), des Rechts oder der Kirchenpolitik, oder gar zu einer einheitlichen Normierung von Grundrechten oder Verfassungsnormen ist es nicht
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gekommen. Die Erwartungen der Zeitgenossen in dieser Hinsicht wurden enttäuscht, die ‘Bedürfnisse’ der Nation nach Pflege und Mehrung der Wohlfahrt nicht erfüllt, der Bund erwies sich wegen seiner Inaktivität als schwach, ja als Hindernis für Weiterentwicklung und ‘Fortschritt’. Das war die eine grosse Erfahrung und Enttäuschung, die die Zeitgenossen mit diesem Bund erlebten. Zum anderen aber wurde der Bund aktiv als Vehikel der Restaurationspolitik. Seit den Karlsbader Beschlüssen wurde er zum aktiven und repressiven Verteidiger des Status quo: der dynastischen Legitimität, der territorialen Souveränität, der föderativ staatenbündischen Ordnung gegen die liberale, die demokratische, die nationale Bewegung. Mit der Ausformung des sogenannten ‘monarchischen Prinzips’ als Norm des Bundesrechts begrenzte er sogar die Verfassungshoheit der Einzelstaaten. Paradox genug: Um die staatenbündische Existenz zu sichern, verstärkte der Bund zum Beispiel über die Massnahmen der Bundesexekution und der Bundesintervention die bundesstaatlichen Elemente. Das war die andere grosse Erfahrung der Zeitgenossen: der Bund, das Organ des Föderalismus, als Inkarnation der Restauration, des Systems Metternich, der Gegnerschaft gegen den liberal-nationalen Geist der Zeit, gegen den politischen Willen der Nation, den Willen zur Verfassung.
Man muss freilich sehen, dass die Einzelstaaten noch durchaus Rückhalt in grossen Teilen der Bevölkerung hatten. Die föderative Struktur war nicht nur ein restaurativer Oktroi souveränitätsbesessener Obrigkeitsstaaten, sondern ruhte auf volkstümlicher Grundlage. Nicht nur das aristokratische und bürokratische Establishment der Einzelstaaten, nicht nur die mit traditionellen Institutionen verbundenen Kirchen, sondern weite Teile der am Rande der Politik lebenden Bauern und kleinstädtischen Bürger lebten im Einzelstaat, fühlten sich primär als Bayern, Hannoveraner, Badener und Preussen, und erst dann als Deutsche. Und auch die neuen Staaten von Napoleons Gnaden haben zum Teil erstaunlich rasch einen eigenen Staats- und Landespatriotismus erzeugt. Der ‘Partikularismus’ war eine soziokulturelle Realität. Die Nationalbewegung der Gebildeten ist erst langsam zur Massenbewegung, mindestens der Bürger geworden; dabei hat er sich - merkwürdig genug - mit mächtigen und traditionsreichen Regionalismen wie dem rheinischen in Preussen, dem pfälzischen und dem fränkischen in Bayern, verbunden, dieses Regionalbewusstsein war gegen die neuen Partikularstaaten gerichtet: wenn man nicht mehr Franke sein konnte, wollte man nicht Bayer, sondern Deutscher sein. Auch die Nationalbewegung ging von der Wirklichkeit der regionalen und partikularstaatlichen Mentalität aus; sie übernahm die offiziöse Rhetorik, die den Bund der deutschen Staaten in einen Bund der deutschen Stämme umdeutete, und das wurde, wie man am liberal nationalen volkstümlichen Lied ablesen kann, durchaus populäre Meinung.
Neben dem Deutschen Bund entstand in diesen Jahrzehnten freilich noch eine
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andere föderative Organisation Deutschlands, der Zollverein. Schon 1815 hatte es Stimmen gegeben, die neben der chimärischen Einheit des mächtigen Bundes einen kräftigen Sonderbund unter preussischer Führung, ein Abdrängen Österreichs nach Europa, forderten. Aber daraus wurde zunächst nichts. Der Bund war nicht in der Lage, das Bedürfnis nach handelspolitischer Einheit, nach Zolleinheit zu befriedigen - letzten Endes weil die Teilstaaten (zumal Österreich und das übrige Deutschland) wirtschaftlich zu heterogen, in ihrem Entwicklungsstand zu unterschiedlich waren - umgekehrt wiederum ein Grund dafür, dass damals ihre Einheit nur als Staatenbund möglich war. In dieser Lage hat Preussen, dessen Interessen innerhalb des Bundes nicht zu erfüllen waren, dann in einem langwierigen Prozess den Zollverein (1834) begründet, diesen Bund im Bund, diesen Staat im Staat. Rechtlich war dieser Zollverein noch staatenbündischer organisiert als der Bund; Gleichbereichtigung aller Mitglieder, Einstimmigkeitsgebot, also Vetorecht, Abschluss auf Zeit, also Notwendigkeit der Verlängerung und damit Möglichkeit der Kündigung. Gerade darin freilich verbarg sich die Hegemonie Preussens; de facto war angesichts seines materiellen Gewichts eine solche Kündigung durch andere unmöglich, und Preussen konnte die Kündigungsdrohung benutzen, Änderungen durchzusetzen. Politisch war der Zollverein (schon im Bewusstsein der Politiker) der Kristallisationskern eines neuen und festeren preussisch geführten Deutschland. Es musste aus dieser zollpolitischen Einheit nicht eine neue politische Einheit folgen, wir kennen dergleichen aus der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft, aber eine solche Lösung war immerhin angelegt. Es ist kein Zufall, dass es das sogenannte Zollparlament von 1867 war,
dass die erste Nationalrepräsentation im kleindeutschen Sinn darstellte. Wie immer: Für die Zeitgenossen seit den 1830er Jahren stellte der - offenbar funktionierende - Zollverein ein Alternativmodell für eine deutsche Föderation bereit, und 1848 hat man darauf zurückgegriffen.
Gegen den Deutschen Bund, den Bund der Restauration, stand die deutsche Opposition, die liberal-nationale Bewegung. Das prägte auch ihre Haltung zum Föderalismus, freilich in sehr unterschiedlicher Weise. Es gab einen kleinen radikaldemokratisch-republikanischen Flügel gegen die Fürsten, gegen die Klein- und Vielstaaterei mit dem unitarisch-nationaldemokratischen Ziel der nation une et indivisible. Aber es gab auch Radikaldemokraten, die nach Abschaffung der Fürstenstaaten, der ‘historischen’ Staaten doch, geleitet von antizentralistischen und antibürokratischen Vorstellungen unmittelbarer Demokratie, inspiriert vom - oft missverstandenen - Modell der USA oder der Schweiz, eine neue demokratisch-föderative Republik erstrebten. Die Mehrheit der Opposition aber war liberal konstitutionell, sie wollte nicht Revolution, sondern Evolution, und das bedeutete: Erhaltung der Einzelstaaten, aber Umformung des Bundes, wesentliche Verstärkung der Einheit, der zentralen Institutionen und Kompetenzen, gesamt- | |
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staatliche Verfassung, gesamtstaatliche Bürgerrechte und - das war das wichtigste - gesamtstaatliches Parlament, ein Oberhaupt und eine Regierung. Gegen den Föderalismus der Regierungen, den Deutschen Bund, den Staatenbund, stand der Föderalismus der Nation, der liberalen Demokratie stand - wie man nun zu sagen anfing - das Modell des Bundesstaates.
Im Bundesstaat sollte der Bund des Volkes den Bund der Fürsten und Regierungen oder Staaten ersetzen oder/und ergänzen (der Begriff Bundesstaat lässt offen, wer die Subjekte sind, die den Bund schliessen). Staatenbund war das Symbol des status quo, Bundesstaat der Begriff der Hoffnung, der Zukunft. Der Bundesstaat ging von einer Teilung der Souveränität zwischen Gesamtstaat und Einzelstaaten aus, im Gesamtstaat sollte die Nationalrepräsentation das unitarische Organ darstellen, dem die Regierung verantwortlich sein sollte. Bundesstaat, das war die oppositionelle Verfassungsparole, die Parole der friedlichen Revolution. Die Motive der Liberalen liegen auf der Hand. Sie waren gegen den Staatenbund, weil sie liberal waren, die bürgerlichen Freiheiten durchsetzen wollten, das bedeutete Rechtsgleichheit, gemeinsame Bürger- und Grundrechte. Ein Staatenbund konnte in ihrem Verstande nicht freiheitlich sein. Sei waren gegen den Staatenbund, weil sie (in dieser Hinsicht) demokratisch waren; denn wenn der Staat auf der Souveränität des Volkes, der Bürger jedenfalls mit gegründet war, so kam als dieses Volk nur die deutsche Nation, nicht die ‘Völker’ der Einzelstaaten in Frage. Sie waren gegen den Staatenbund, weil sie national waren, die wirtschaftliche, die rechtliche, die militärische, die aussen- und machtpolitische Einheit der Nation wollten: Nur sie konnte die objektiven Bedürfnisse der Gesellschaften und ihre subjektiven Ideale erfüllen.
Die Minimalbedingungen, unter denen ein Territorium und eine Wirtschaftseinheit im Zeitalter von Industrialisierung und Bürokratisierung, Nationalisierung und internationaler Verflechtung handlungsfähige Einheit sein konnten, waren von den meisten Bundesgliedern nicht mehr zu erfüllen, darum - so meinte man - brauchte man eine neue grössere Einheit; aber jenseits solcher funktionaler Erwägungen war natürlich die Idee, dass eine Nation ein Staat sein müsse, eine unableitbar mächtige Idee der Zeit. Die Liberalen hielten am Föderalismus fest und wurden nicht zu unitarischen Zentralisten, weil sie ‘historisch’ orientiert waren; sie wollten an Bestehendes, an Kontinuitäten, an das Erbe der deutschen Staatstradition anknüpfen. Sie blieben Föderalisten, weil sie konstitutionell waren, neben der demokratischen Legislative die monarchische Exekutive wollten - und eine Monarchie konnte man nicht machen, auch nicht cäsaristisch, man musste die bestehenden, die gewachsenen Monarchien in den Staat integrieren. Die Liberalen blieben föderalistisch, weil sie realistisch und nicht revolutionär waren; weil sie ihre Ziele über Vereinbarungen mit den bestehenden Gewalten erreichen wollten, knüpften sie an das Faktum bestehender Dynastien und Einzelstaaten an.
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Paul Pfizer zum Beispiel hat 1831 in dem berühmten ‘Briefwechsel zweier Deutscher’ argumentiert, dass ein republikanisches Föderativsystem die Vorstellung eines politischen ‘Idealismus’ sei, real sei die Tatsache Preussen, realistisch die Vorstellung eines von Preussen geführten Bundes.
Natürlich gab es unterschiedliche Gewichtung der Motive und unterschiedliche Schattierungen in der Bestimmung des Verhältnisses von Einzelstaaten und Gesamtstaat, es gab den unitarischen Bundesstaat mit einem Höchstmass an Kompetenz für die Gesamtheit und den föderativen Bundesstaat mit einem Höchstmass an Kompetenz für den Einzelstaat. F.V. von Gagern zum Beispiel, der 1825 zuerst die Anhänger des Bundesstaates als Föderalisten bezeichnet hat, sah im Bundesstaat nur eine Durchgangsstufe zu einer zentralistischeren Staatsbildung, freilich die einzige Form, die man ohne Bürgerkrieg realisieren könne, und mit der monarchisch regierte Staaten zusammengefasst werden könnten. C.Th. Welcker sah im Bundesstaat, anknüpfend an das Modell der USA, auch deshalb ein Ideal, weil er die rechtsstaatliche Idee der Gewaltenteilung in besonderer Weise stabilisiert - ein funktionaler Föderalismus können wir sagen. Andere waren ganz genuin Föderalisten, weil sie von der natürlichen Vielheit der deutschen ‘Stämme’ ausgingen. Die Stunde der Opposition war die Revolution von 1848/49, der Versuch der Paulskirche einen Staat zu gründen und zugleich eine Verfassung zu geben. Freilich, der Begriff Bund schien restaurativ verbraucht, die Massen sahen auf ihn mit Verachtung herab; man wählte den mit geschichtstheologischen und mythischen Erinnerungen aufgeladenen Begriff ‘Reich’. Mit diesem Begriff sollte - vor aller Verfassungskonstruktion - die ‘geteilte und geeinte’ Natur des neuen Staates festgelegt werden: Die Länder des Deutschen Bundes, so hiess es, ‘bilden fortan ein Reich (Bundesstaat)’. Die Verfassung orientierte sich am Modell des Bundesstaats, sie suchte, das nationale Element der Gemeinsamkeit mit dem Element partikularer Eigentümlichkeit zu verbinden: Die
Selbständigkeit der deutschen Staaten, so hiess es im Entwurf des sogenannten siebzehnter Ausschusses wird nicht aufgehoben, aber so weit es die Einheit Deutschlands erfordert, eingeschränkt; Einzelstaatlichkeit und Nationalsouveränität waren gleichermassen anerkannt, und G. Waitz hat dann 1853 in diesem Sinn eine Theorie des monarchischen Bundesstaates entwickelt und von der ‘Doppelsouveränität’ von Bund und Ländern, der Selbständigkeit der Bundeswie der Ländergewalt gesprochen.
Auch in der liberalen Mehrheit der Paulskirche gab es starke Unterschiede, Anhänger des mehr föderativen wie des mehr unitarischen Bundesstaates, Anhänger des Bundesstaates mit monarchischem Schwergewicht, die rechte Mitte, die in der nationalen Monarchie den eigentlichen Integrationsfaktor sah, und Anhänger des Bundesstaates mit demokratisch parlamentarischem Schwergewicht, die linke Mitte, die im nationalen Parlament den massgeblichen Integrationsfaktor sah.
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Die Verfassung war ein Kompromiss. Das Reich hatte eine gewisse Priorität, es war ein Nationalstaat, gebildet nicht aus dem Zusammenschluss der Länder, sondern aus dem souveränen Willen des Volkes. Es war ein Bundesstaat mit stark unitarischen Elementen: der Kompetenz zur Erfüllung eines nicht nur negativ defensiven Staatszwecks (wie im bisherigen Bund), sondern einer positiven gestalterischen Wohlfahrt und allgemeine Lebensbedingungen einschliessenden Staatszwecks mit einheitlicher Gesetzgebung, mit zentralen Organen: Parlament, Reichsoberhaupt, Regierung und Gerichten - und zugleich mit einem durchaus mächtigen föderativen Zentralorgan, dem Staatenhaus, das zur Hälfte von den Regierungen, zur Hälfte von den Landesparlamenten besetzt wurde.
Aber nicht in diesen Bestimmungen lag das Problem des deutschen Föderalismus von 1848. Das eigentliche Problem war die Art, wie Österreich in dieses Reich einbezogen werden sollte. Der bisherige Deutsche Bund konnte mit der österreichisch-preussischen Doppelhegemonie bestehen, auch in föderaler Form, und er konnte die deutschen (und böhmischen) Teile Österreichs einschliessen, die nicht-deutschen ausschliessen, ohne Österreich zu zerstören: Das war der Vorteil seiner staatenbündischen Struktur. Der neue Bundesstaat musste ein Nationalstaat sein, der Österreich entweder sprengen, seine deutschen von seinen nicht-deutschen Teilen trennen, oder aber zum Ausschluss des ganzen Österreich aus Deutschland führen musste. Diese Alternative hat sich freilich erst im Laufe der Revolution und im Scheitern vieler Versuche, Zwischenlösungen, wie die eines engeren und eines weiteren Bundes, zu finden, so klar herausgebildet. Der Föderalismus geriet in den Strudel des grossdeutschen Problems. Österreich und die Österreicher sahen nur im Staatenbund, der Österreich als Gesamtstaat die Zugehörigkeit erlaubte, eine akzeptable und grössere deutsche Einheit, Preussen - und die Preussen - sahen nur im Bundesstaat, der Österreich ausschliessen musste, eine Verwirklichung grösserer Einheit. Zugleich aber war das Problem der deutschen Föderation ein Problem der Hegemonie. Die Einbeziehung Österreichs, seiner deutschen Teile oder des Gesamtstaats, hätte die faktische dualistische Doppelhegemonie der beiden deutschen Grossmächte innerhalb des neuen Reiches erhalten oder re-institutionalisiert. Die historische Erfahrung aber schien zu lehren, dass der hegemoniale Dualismus kaum eine handlungsfähige Zentrale zuliess: Wenn man also eine gestärkte Zentrale wollte, so schloss das realistischerweise eigentlich
die Doppelhegemonie aus. Dann aber schien wiederum der Ausschluss Österreichs, also auch Deutschösterreichs, und die preussische Hegemonie übrig zu bleiben - gegen die es wiederum viele liberal-demokratische, föderalistische, nationale Einwände gab.
Auch diese Alternativen hegemonialer Lösung sind erst im Laufe der Revolution klar geworden. Übernationaler Staat oder Teilung Deutschlands (Abtrennung Österreichs), schwache Zentrale mit einer Doppelhegemonie oder preus- | |
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sische Hegemonie, das waren die Pole, zwischen denen das Dilemma der Revolution entstand. In diesem Doppeldilemma fingen die Positionen der Parteien an sich zu überkreuzen: Welche Art Föderation man wollte, das war auch davon abhängig, welche Antwort man auf das grossdeutsche Problem und das Problem der Hegemonie gab, welche Präferenz man setzte. Ein Teil der Liberalen und der Grossteil der Katholiken waren primär grossdeutsch, sie wollten die Abspaltung (Deutsch) Österreichs auf jeden Fall verhindern, sie waren antiborussisch und wollten darum keine preussische Hegemonie; die demokratischen Gegner einer erbkaiserlichen, dass heisst preussisch-kleindeutschen Lösung schlugen sich auf ihre Seite. Man konnte darum notgedrungen nach einer Föderation suchen, die für Gesamtösterreich erträglicher, also lockerer, weniger zentralistisch, ja weniger nationalstaatlich war.
Auf der anderen Seite waren diejenigen Liberalen, die notgedrungen da - Deutschösterreich sowenig wie Gesamtösterreich aus unaufhebbaren Gründen einem deutschen Reich nicht mehr zugehören konnte - Kleindeutsche wurden, von der Sorge von der preussischen Hegemonie bewegt. Das färbte ihre Föderationspläne, und zwar in einem zentralistischen Sinn. Der Föderalismus sollte nicht den preussischen Partikularismus stärken, sondern das ermöglichen, was man letztendlich wollte. Preussen sollte in Deutschland aufgehen. Anfangs hatte man Preussen dezentralisieren wollen (ja für viele war das revolutionäre Sonderparlament Preussens in Berlin ein Stein des Anstosses), in der Verfassung sollte Preussen, um sein Gewicht zu verringern, im Staatenhaus auch durch seine Provinzen vertreten werden. Das bundesstaatliche System im ganzen sollte Preussen nicht nur integrieren, sondern seine Führungsgewalt relativieren, die Position des preussischen Königs als Kaiser sollte von der Machtbasis des hegemonialen preussischen Staates so weit wie möglich gelöst werden. Und die Versuche, eine Art Doppelbund - einen engeren Bund unter preussischer Führung, einen weiteren Bund mit Österreich - zu installieren, sollten nicht nur das grossdeutsche Dilemma lösen, einen Nationalstaat zu gründen und das unteilbare Österreich mit seinen deutschen Gebieten an ihn zu binden, sondern auch der preussischen Hegemonie im engeren Bund Grenzen setzen.
Der Versuch, anstelle eines staatenbündischen Deutschen Bundes einen bundesstaatlichen Nationalstaat zu errichten, ist bekanntlich gescheitert. Das hat eine Reihe von Gründen, auf die wir hier nicht einzugehen haben. Zwei Punkte müssen im Zusammenhang des Föderalismusproblems erwähnt werden. Es ist - sicher nicht primär, aber doch auch - die föderale Struktur Deutschlands gewesen, an der die Revolution gescheitert ist. Dazu gehört nicht die Gegnerschaft der Mittelstaaten gegen die unitarisch föderative Lösung der Reichsverfassung, das war überwindbar. Wohl aber die Tatsache, dass eine Koordination und Konvergenz der Revolutionen im polyzentralen Deutschland, in Frankfurt, Berlin und Wien
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vor allem, nicht zustande kam: Nichts verband sich potenzierend zu grösserer Stärke, viel Gegeneinander hemmte ‘die’ Revolution, die Prozesse der Radikalisierung waren isoliert, die Gegenrevolution gewann ihre besonderen Siege über eine aufgeteilte, eine regionalisierte Revolution. Das Faktum der Pluralität deutscher Regionen, ja partikularer Staaten erwies auch in der Revolution im Namen des nationalen Prinzips seine Macht. Entscheidend freilich war, dass im deutschen föderativen System das Problem der beiden Grossmächte, des übernationalen Österreich, des hegemoniebeanspruchenden Preussen und ihres Dualismus 1848/49 nicht lösbar waren. Auch der preussisch monarchische Versuch von 1849/50, eine dynastisch föderative engere ‘Union’ ohne Österreich zu bilden, viel monarchischer und weniger liberal-demokratisch, weniger zentralistisch und weniger preussisch hegemonial, als die Paulskirchenverfassung es wollte, scheiterte am Widerstand Süddeutschlands und vor allem Österreichs und des auf seiner Seite stehenden Russlands. Der deutsche Dualismus und das Ziel einer engeren Föderation schienen in unaufhebbarem Gegensatz zu stehen.
Die Restitution des Deutschen Bundes konnte zwar juristisch, nicht aber faktisch den Zustand der Föderation von vor 1848 wieder herstellen. Das Problem einer Reform der föderativen Verfassung Deutschlands im Sinne stärkerer Einheit war auf Dauer nicht mehr von der Tagesordnung zu bringen. Die bürgerlich liberale, die nationale Bewegung mit ihrer Forderung nach Nationalrepräsentation, Nationalstaat, nationaler Gesetzgebung, die Forderung nach demokratisch nationaler Legitimation des Staates und nach Erfüllung der wirtschaftlichen, rechtlichen und machtpolitischen Minimalbedingungen eines modernen Staates, konnte auf Dauer, zumal seit dem Ende der fünfziger Jahre nicht ignoriert werden. Die Spaltung zwischen politischer Verfassung, dem Bund und ökonomischer Verfassung, dem Zollverein, schuf immer neue Probleme - und die grossösterreichischen Zollpläne, die sie überwinden sollten, sind bekanntlich gescheitert. Schliesslich war nach 1850 zwischen Österreich und Preussen nichts mehr so wie vorher, aus der Doppelhegemonie wurde der Hegemonialkampf und er verflocht sich ganz und gar mit der nationalen und föderativen Frage.
Seit der Gründung des kleindeutschen Nationalvereins (1859) und der Gegengründung des grossdeutschen Reformvereins (1862) war die öffentliche Meinung ein organisierter politischer Machtfaktor, nahm an dem Ringen um die Neugestaltung der Föderation teil. Diskussion und politische Versuche knüpften an die Alternativen von 1848/49 an; es ging um das Verhältnis Österreichs und Preussens zu Deutschland, es ging um das Mass an föderativer Bindung und Einheit, es ging um das Verhältnis von Nation und Staat, es ging um das Verhältnis von Monarchie und Volkssouveränität. (Die berühmte Debatte der Historiker Ficker und Sybel sogar war nicht nur eine Debatte zwischen Grossdeutschen und Kleindeutschen, sondern auch um lockere Föderation oder feste Staatsbildung.)
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Österreich war der Protagonist der lockeren Föderation, es versuchte zwar die Kompetenzen und die Organe des Bundes zu verstärken, eine Bundesleitung kollegialer Art und Repräsentation, in direkter Art, etwa einzurichten, aber was darüber hinausging - einheitliche Spitze und direkt gewähltes Parlament - musste seine Stellung in Deutschland vernichten. Die Gegner Preussens, die Grossdeutschen, auch Demokraten und Liberale, mussten sich mit diesen konservativen Prinzipien einer lockeren Föderation zufriedengeben, denn sie waren das Maximum dessen, was Österreichs Existenz ertrug. Nur ein lockerer Föderalismus konnte die Teilung Deutschlands durch den Ausschluss Österreichs und damit die preussische Hegemonie vermindern. Preussen hingegen tendierte einerseits auf Teilung oder hegemoniale Parität mit Österreich, was dieses aus machtpolitischen Erwägungen nicht einräumen zu können glaubte, andererseits und letzten Endes aber auf einem Übergang zur bundesstaatlichen Föderation mit direkt gewähltem Nationalparlament. Angesichts des preussischen Antiparlamentarismus war das natürlich auch antiösterreichische Strategie, aber wie immer es mit den Motiven steht, hier bahnten sich Bündnis und Kompromiss mit dem Gros der liberalen Nationalbewegung an, so sehr diese lange zwischen antipreussischem Misstrauen und dem ‘Realismus’ nur mit Preussen zum Ziel kommen zu können, schwankte.
Ich habe die umwegige Geschichte der Reformdiskussion und der Reformversuche im Kampf um die Vormacht in Deutschland hier nicht zu schildern. Für unser Thema wesentlich ist, dass sich der Sprachgebrauch verschiebt und fixiert: Das Begriffsfeld föderalistisch gerät in die Nähe der grossdeutschen proösterreichischen Orientierung und damit der Idee der lockeren Föderation - und zwar sowohl im Selbstbewusstsein dieser Gruppen wie in der Bezeichnung durch die Gegner. Die kleindeutsch-propreussische Orientierung galt jedenfalls ihren Gegnern schon als unitarisch, ihre Anhänger als Unionisten oder Cäsarianer, obschon sie selbst zunächst noch in Kategorien des Bundesstaates dachten.
Zwei besondere Ausprägungen der Argumentation verdienen Erwähnung. Einer der Ideologen des staatenbündischen Föderalismus, Constantin Frantz, hat das Argument entwickelt, der Föderalismus sei in Mittel- und Südosteuropa das einzige Mittel, die Konflikte der Nationen und Nationalitäten zu bewältigen, ja die deutsche Gesamtmacht für Europa erträglicher zu machen, ruhig zu stellen. Das war ein neuer - internationaler - Föderalismus, der, wenn auch nur sektiererhaft, nach 1871 in Gegensatz zum Nationalismus des Bismarckreiches treten musste. Im kleindeutschen Nationalliberalismus auf der anderen Seite entwickelte sich wirklich eine antiföderativ-unitarische Tendenz, deren früher klassischer Exponent etwa Heinrich von Treitschke ist. Er protestiert - 1865 - nicht nur wie üblich gegen den Bund und seine Mediatisierung der Nation, sondern lehnt überhaupt eine von Einzelstaaten abhängige Zentralgewalt ab. Das Beispiel der USA und
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das der Schweiz, so argumentiert er historisch, seien für Deutschland nicht anwendbar: denn ihre Voraussetzungen seien: Demokratie und selfgovernment, lange Geschichte, Gleichheit der Gliedstaaten und eine relativ geringe Staatstätigkeit - all das aber sei in Deutschland nicht gegeben. Der Einheitsstaat sei das Ziel der Geschichte Deutschlands (wie der Italiens), nur der Einheitsstaat unter preussischer Führung könne die partikularistischen Tendenzen der kleinen Monarchen bezwingen, dem Bedürfnis der Nation - Nation, eine unteilbare Nation zu sein - zentralisierend gerecht werden. Das ist sozusagen das frühe Signal der unitarischen Parteirichtung, die im Nationalstaat von 1871 dann anwächst.
Die Versuche der sechziger Jahre, den Bund zu reformieren, indem man die bundesstaatlichen Elemente verstärkte, waren unausweichlich, sie führten zur Krise des Bundes: Der Dualismus machte die Reform unmöglich, der Dualismus und die bürgerliche Opposition zusammen liessen eine Weiterexistenz der bisherigen Form deutscher Föderation nicht zu. Sie sprengten den Bund, der nicht mehr im Sinne der Zeit Staat sein konnte. Der restaurative und staatenbündische Föderalismus, auch in der österreichisch-grossdeutschen Reformversion der sechziger Jahre war gescheitert, gescheitert waren die Liberalen mit ihrer Bundesstaatsidee und der Bändigung der preussischen Hegemonie. Der bestehende Bund zerbrach, einmal weil der preussisch-österreichische Dualismus in seinem Rahmen nicht mehr aufgefangen werden konnte, zum anderen weil das Ziel der bürgerlichen Bewegung, die Errichtung eines Nationalstaates mit der Existenz Gesamtösterreichs als einer deutschen Teilmacht föderativ nicht mehr auszugleichen war. Der Krieg von 1866 und der preussische Sieg bei Königrätz beendete die Existenz des Bundes; er teilte Deutschland, indem er Österreichs Ausscheiden erzwang. Er begründete zugleich eine neue politische Organisation Deutschlands, die über den Norddeutschen Bund von 1867 im Deutschen Reich von 1871 feste Gestalt gewann. Diese ‘Lösung’ der deutschen Frage beruhte auf der Verbindung der preussischen Grossmachtspolitik mit der liberal-nationalen Bewegung, freilich waren es die Siege der preussischen Militärmonarchie, die diese Lösung durchsetzten: Ihre Präponderanz hat die neue politische Gestalt Deutschlands entscheidend geprägt.
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Das Reich von 1871 war - wie sein unmittelbarer Vorläufer, der Norddeutsche Bund - eine neue Form föderativer politischer Ordnung. Es war keine verbesserte Neuauflage des alten primär staatenbündischen Bundes, und es war kein Einheitsstaat, es war nicht der Bundesstaat, von dem die Liberalen 1848/49 geträumt hatten, aber es war auch nicht eine blosse Fassade preussischer Herrschaft. Bismarck hat 1866/67 auf die weitergehende Annexion Norddeutschlands ebenso
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verzichtet wie auf einem stark zentralisierten Bundesstaat; die Verfassung, so meinte er, sollte sich in der Form mehr an einen Staatenbund halten, aber praktisch solle man ihr die Natur des Bundesstaates geben, mit ‘elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken’. Der unmittelbare Sinn dieses Konzepts war es, den Beitritt der süddeutschen Staaten offen zu halten, ja zu ermöglichen - und die Reichsverfassung von 1871 ist bekanntlich im wesentlichen von der norddeutschen Bundesverfassung von 1867 übernommen worden. Aber das Konzept entsprach, wie wir sehen werden, auch in sehr viel allgemeinerem Sinn den Anund Absichten Bismarcks. Der neue Staat verband unterschiedliche Traditionen und Prinzipien der mächtigen Kräfte der Zeit in einer kunstvollen, vielleicht künstlichen Synthese: Die national-unitarischen, die föderativen, die hegemonialen, die liberalen und die obrigkeitlich-antiparlamentarischen Prinzipien, Art und Funktion des deutschen Föderalismus von 1871 werden erst in diesem Zusammenhang deutlich.
Auf der einen Seite also die unitarischen, national-unitarischen Elemente: die unitarische Reichsspitze in der nationalen Monarchie, mit dem Deutschen Kaiser (nicht dem cäsaristischen Kaiser der Deutschen, nicht dem antiföderalen Kaiser von Deutschland) an der Spitze einer Reichsexekutive, Herrn der Aussenpolitik und - faktisch, wenn auch mit Einschränkungen - der bewaffneten Macht, die unitarische Spitze im Reichskanzler, der vom Kaiser ernannt, zwar nicht juristisch und nicht parlamentarisch, wohl aber politisch, öffentlich ‘verantwortlich’ für die Reichspolitik war. Dazu gehörte das wiederum unitarische nationaldemokratische Element: die einheitliche Vertretung der einen Nation im Reichstag des allgemeinen Wahlrechts und seine Kompetenz als nicht zu übergehender Teil der Legislative. Bismarck war sich der unitarischen Funktion des Reichstags - als Gegengewicht gegen einen Partikularismus der Einzelstaaten - sehr wohl bewusst und hat ihn in dieser Hinsicht durchaus benutzt.
Neben diesen Elementen der Einheit standen die Elemente der Vielheit, die man sich angewöhnte, föderativ oder föderalistisch zu nennen. Das Reich war ein Bundesstaat. In der Präambel der Verfassung ist es sogar als ein Bund der Fürsten und Städte stilisiert worden. Daraus haben Juristen, Politiker und Historiker gelegentlich abgeleitet, das Reich sei nichts als ein Fürstenbund, die Souveränität ruhe bei den Souveränen seiner Gliedstaaten. Bismarck hat, als er anfing, mit dem Gedanken eines Staatsstreichs zu spielen, behauptet, das Reich beruhe auf einem Verfassungsvertrag zwischen den Landesherren und insofern sei eine Auflösung und Neugründung durch die souveränen Regierungen durchaus möglich - eine quasi - staatenbündische Interpretation. Aber das war eine Fiktion, eine bündlische obrigkeitliche Legende, die die national-unitarischen und national-demokratischen Züge des Reiches verdecken und verhüllen sollte, die dynastisch-föderale und die unitarisch-liberale Doppellegitimation dieses Reiches in
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eine obrigkeitliche Legitimation zurückverwandeln sollte. Reich, Reichsverfassung und ihre Organe (der Reichstag etwa) beruhten auf dem Zusammenwirken von Fürsten, Regierungen und einzel- und gesamtstaatlichen Parlamenten. Hätte Bismarck seine zeitweilige Auslegung zur Grundlage seines Handelns gemacht, so wäre das, darüber ist das Urteil einhellig, der Staatsstreich, der Umsturz des Reiches gewesen, insofern ist diese Auslegung falsch. Das Reich war kein Fürstenund Städtebund.
Auch in einer anderen Beziehung ist zunächst auf eine Einschränkung der Stellung der Gliedstaaten hinzuweisen. Ursprünglich hatte Bismarck die bevollmächtigten Minister der verbündeten Regierungen, die im ‘Bundesrat’ vereint waren, zum eigentlichen Träger der Regierungsgewalt machen wollen, also ein wenig zentralisierte Reichsexekutive. Der Kanzler wäre eine Art Geschäftsführer der verbündeten Regierungen gewesen, diese wären von Preussen hegemonial dominiert worden. Ein Reichsministerium lehnte er ab, zunächst weil er darin eine unitarisierende Tendenz, eine Tendenz zur Mediatisierung der Länder sah, die er aus politischen Gründen, aus Rücksicht auf die Machtlage wie auf die künftige Integration der Länder vermeiden wollte. In den Parlamentsverhandlungen über die Verfassung des norddeutschen Bundes ist dann auf Antrag des Führers der Liberalen die sogenannte lex Bennigsen zustande gekommen: Sie etablierte die Verantwortlichkeit des Kanzlers (im beschriebenen Sinn), damit machte sie dieses Amt zu einem der selbständigen zentralen Ämter des Reiches und drängte den Bundesrat aus seiner Rolle als zentrale Exekutive heraus. Es gab zwar keine zentrale ‘Regierung’, sondern nur einen Kanzler, aber es gab eben auch keine föderalisierte Exekutive mehr.
Trotzdem bleibt nun ein staatsrechtliches wie politisches Hauptfaktum, dass das Deutsche Reich ein Bund, eine Föderation von Gliedstaaten, ein Bundesstaat war. Die Existenz der Gliedstaaten, ihre Verfassungshoheit, ihre eigene Verwaltung und ein bestimmtes Mass an Gesetzgebungsautonomie, ja ein Stück Militärund Verkehrshoheit war ihnen garantiert, Bayern und Württemberg hatten zudem noch bestimmte Sonderrechte. Zudem lag, und das ist für die Machtverteilung in einem Bundesstaat entscheidend, das grössere Mass an Finanz- und Steuerhoheit bei den Ländern, sie erhoben die Masse der Steuern und bestimmten ihre Art; die direkten Einnahmen des Reiches waren im wesentlichen auf Zölle - und seit der Schutzzollgesetzgebung - auf eine begrenzte Summe der Zölle beschränkt, im übrigen wurde das Reich durch eine Umlage, die sogenannten Matrikularbeiträge der Länder, finanziert. Das Reich war, wie man gesagt hat, der Kostgänger der Länder; diese Form der Finanzverfassung war eine der stärksten Bastionen eines nicht zentralistischen Föderalismus.
Neben dieser - relativen - Eigenständigkeit der Gliedstaaten stand ihr Recht auf Mitwirkung and der zentralen Willensbildung, das sie in dem Verfassungsorgan
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Bundesrat ausübten. Die im Bundesrat organisierten verbündeten Regierungen waren, wenn man von einigen Restfunktionen der Exekutive und Judikatur absieht, vor allem das eine entscheidende Organ der zentralen Legislative mit Initiativ- und absolutem Vetorecht. Ohne den mehrheitlichen Konsens der Gliedstaaten, dass heisst ihrer Regierungen, war das Reich gesetzgebungsunfähig, ja letzten Endes handlungsunfähig. Die Tradition des seitherigen staatenbündischen deutschen Föderalismus und seiner einzelstaatlichen Souveränität war im Bundesrat aufgehoben und lebte in ihm fort. Bismarck hat sich darum 1871 entschieden und erfolgreich dagegen gewehrt, den Bundesrat in Reichstag umzubenennen, mit dem Namen Bund wollte er die föderative Tradition erhalten, das einzelstaatliche Selbstbewusstsein schonen. Denn obwohl in dem Wort ‘Reich’ auch das Moment des Antizentralismus steckte und die Partikularisten sich in einem Reich besser als in einem Bundesstaat aufgehoben wussten, war es doch in der Zeit noch stärker ein liberal-nationaler Begriff, der historische Symbolik und das stärkere Organ, das Imperium, gegenüber dem diskreditierten Bund zugleich ansprach.
In dieser föderativ-unitarischen Organisation hatte nun drittens Preussen eine hegemoniale Stellung. Der grosspreussische Zug von Reichsgründung und Reich ist ja - wenn auch nicht alleinbestimmend - ganz unverkennbar. Im Bundesrat war Preussen führend - auch wenn es nicht über die Mehrheit der Stimmen verfügte: Das Vetorecht in einzelnen Fragen, die Anlehnungsbedürftigkeit der kleineren Staaten und die Möglichkeit Preussens, Druck auszuüben, etwa in Fragen des Verkehrs, der Steuerverwaltung, des Militärs, kurz, sein politisches Gewicht sicherten diese Überlegenheit - in der Praxis ergab sich daraus eine Art Konsenszwang, das Prinzip der Einmütigkeit. Die preussischen Ministerien übernahmen die Federführung im Bundesrat, die preussischen oder präsidialen Initiativen dominierten bei der Gesetzgebung, preussische Behörden übernahmen zum Teil (und zunächst) die Funktion von Reichsbehörden, Preussen war de facto für die schwierigen Kompromissverhandlungen mit dem Reich ausschlaggebend. Der Reichskanzler war - fast immer - der preussische Ministerpräsident, es war der preussische König, der Deutscher Kaiser, Herr über Aussenpolitik und bewaffnete Macht war und den Reichskanzler ernannte. Formell wie informell war der Föderalismus hegemonialer Föderalismus - der Titel Kaiser sollte unter anderem gerade die Hegemonie einer Partikularmacht verhüllen und erträglich machen. Dabei nahm Preussen nun eine merkwürdige Doppelstellung ein. Als stärkster Einzelstaat garantierte es die Vorbehalts- und Einflussrechte der Staaten, die föderalistische Struktur. Als Hegemonialmacht, als Mitträger des Reiches hatte es zugleich eine unitarische Funktion, es hielt den Föderalismus in Grenzen und sicherte das Funktionieren der zentralen Organe, kurz, gerade
die Stellung Preussens garantierte das Gleichgewicht zwischen Einzelstaaten und Reich, Partikula- | |
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rismus und Unitarismus, das den deutschen Föderalismus von 1871 charakterisierte. Darum hatte es Gegner auf beiden Seiten, die Unitaristen bekämpften den preussischen Partikularismus, die Partikularisten bekämpften den preussischen Reichsunitarismus.
Der Föderalismus also verband relative Autonomie und Mitbestimmung der Gliedstaaten und die preussische Hegemonie mit den Elementen der bundesstaatlichen Einheit. So wichtig das für die Lösung von überlieferten Problemen war, für die Zukunft wurde etwas anderes noch, das vierte Verfassungselement, wichtiger. Der Föderalismus, genauer die Institution des Bundesrates, fixierte das konstitutionell-monarchische System, also den Antiparlamentarismus. Der Bundesrat war mehr noch als der König-Kaiser die Barriere gegen jede Parlamentarisierung der Reichsmonarchie und von Bismarck bewusst als solche aufgebaut. Ursprünglich hatte der Bundesrat - allein anonym und nicht verantwortlich - dem Reichstag gegenüberstehen sollen, so dass dessen Angriffe ins Leere gelaufen wären. Aber auch nach der Schaffung des Amtes des verantwortlichen Reichskanzlers blieb der Bundesrat das Gegenüber des Parlaments, der den Kanzler, der Mitglied und Vorsitzender dieses Gremiums war, in seiner Unabhängigkeit gegenüber dem Parlament schützte. In einer unscheinbaren Bestimmung war die Trennung der Regierungsgewalt von der parlamentarischen Gewalt mit Hilfe des Föderalismus gewährleistet: Mitglieder des Bundesrats konnten nicht zugleich Mitglieder des Reichstags sein, beide Funktionen waren inkompatibel. Und das System war so konstruiert, dass die föderalistischen Rechte der Einzelstaaten mitzuregieren an eine konstitutionelle, also nicht parlamentarische Reichsleitung gebunden waren und durch eine Parlamentarisierung des Reiches in Gefahr geraten wären. Die liberaldemokratische Linke wusste bei den Verfassungsberatungen von 1867 sehr gut, dass unter den gegebenen deutschen Bedingungen eine Parlamentarisierung nur über eine stärkere Unitarisierung möglich wurde, gerade damit aber scheiterte sie. Kurz, die besondere Struktur des Föderalismus der
monarchischen Einzelstaaten sicherte die konservativmonarchische, die nicht-parlamentarische Machtstruktur des Reiches, Föderalismus und Konstitutionalismus wurden Bundesgenossen, der Föderalismus eine Barriere gegen eine vorankommende Parlamentarisierung.
Was waren die Ergebnisse dieser Synthese unterschiedlicher Prinzipien, dieses föderalistischen Kompromisses und wie hat er sich fortentwickelt? Zunächst, es gelang ein Ausgleich unitarischer Erwartungen, partikularer Befürchtungen, ein Ausgleich von gesamtstaatlichen und einzelstaatlichen Interessen und Notwendigkeiten. Die bis dahin unterschiedlichen und selbständigen Staaten sind ohne Probleme in den Gesamtstaat hineingewachsen, integriert worden; gerade weil die föderativen Elemente der Verfassung ihre Eigentraditionen bewahrten, jede Uniformierung vermieden, konnte sich eine neue Einheit ausbilden. Es bleibt er- | |
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staunlich, wie schnell sich der bis dahin so dominante Gegensatz des deutschen politischen Lebens, der Gegensatz zwischen Gesamtstaat und Einzelstaaten, zwischen Unitarismus und Partikularismus aufgelöst hat: Das Verhältnis von Reich und Einzelstaaten entwickelte sich - von der Finanzverfassung abgesehen - relativ konfliktfrei.
Dieser föderalistische Ausgleich von Einheit und Vielheit, Pluralität und Integration lässt sich auch auf der Ebene der politischen Kultur und der allgemeinen Lebensverhältnisse beobachten. Es gab den modernen Zug zur Vereinheitlichung der nationalen Gesellschaft: Verkehr, Wirtschaft, Mobilität (noch nicht die der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts) wirkten dahin, im Bereich von Kultur und Wissenschaft gab es eine Tendenz zur überregionalen Angleichung, ja zur Nationalisierung. Parteien und Verbände organisierten sich national und unitarisierten sich. Die Bruchlinien und die Gegensätze in der deutschen Gesellschaft zwischen den Konfessionen, den politisch-ideologischen Lagern und den Klassen blieben erhalten oder verschärften sich, aber die überlieferten partikularstaatlichen regionalen gingen entscheidend zurück. Auf der anderen Seite aber blieb in Deutschland eine regionale Pluralität unterschiedlicher Kultur und politischer Kultur zumal erhalten. Die Residenzen zumal blieben unterschiedliche Zentren der Kultur, und diese Vielfalt hat die Entstehung der Modernität zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wesentlich gefördert. Auch politisch war Deutschland föderal pluralistisch - man kann es nicht einfach als Obrigkeitsstaat, Untertanengesellschaft beschreiben, wie Heinrich Mann das auf Grund der Atmosphäre bestimmter Teile Preussens getan hat. In Süd- und Südwestdeutschland waren die Parteien zumeist liberaler, demokratischer als im Norden, die Sozialdemokraten revisionistischer und wenig radikal: Das hing mit anderen politisch-sozialen Erfahrungen, mit einer anderen politischen Kultur zusammen; das berühmte antimilitaristische und antiobrigkeitsstaatliche satirische Organ Simplizissimus konnte in Bayern ungehindert erscheinen. Für die westlichen Provinzen Preussens, in denen die Industriekultur
eine ähnliche Wirkung hatte wie die eigenstaatlichen Traditionen im Süden gilt ähnliches. Und die Rückwirkungen dieser Bewegungen auf Zustände und Entwicklungen in Preussen kann man keineswegs verkennen.
Der Ausgleich also wurde relativ selbstverständlich. Auch auf der Ebene der Parteien söhnten sich die Anhänger des alten Bundes, der lockeren Föderation, die Partikularisten im grossen und ganzen mit dem Reich aus. Die politischen Gruppen, die Bismarck schrecklich genug ‘Reichsfeinde’ nannte, kamen nicht aus dem Lager der alten ‘Föderalisten’: Weder die nationalen Minderheiten gehörten dazu, noch gar die zentralistisch gesonnenen Linksliberalen und die Sozialdemokraten. Die hannoveranischen Gegner der preussischen Annexion, die Welfen, mag man als wirkliche ‘föderalistische’ Opposition bezeichnen, und bei den schwäbischen Demokraten und den bayerischen (katholischen) ‘Patrioten’
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spielte ein antiborussisch geführter Antizentralismus eine wichtige Rolle. Aber entscheidend war das nicht. Entscheidend war die Haltung der katholischen Zentrumspartei. Das Zentrum gehörte in die Tradition der proösterreichischen, antiborussischen Besiegten von 1866 und es war ewige Minderheit. Aus beiden Gründen war es ‘föderalistisch’ und durch die katholische Sozialphilosophie, das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, wurde das theoretisch abgestützt. Aber das bedeutete gerade, dass das Zentrum die föderative Reichsverfassung verteidigte, so wie sie war. Es stand gerade darin nicht in Opposition zur Verfassung, sondern auf ihrem Boden. Es organisierte sich als Reichspartei (und das galt auch für Bayern), es hat das Hineinwachsen der Katholiken in den neuen Staat, ihre ‘Nationalisierung’ nicht gehindert, ja es wurde zur tragenden Partei dieses Reiches. Indem das Zentrum diese Rolle übernahm, hat es die partikularen Traditionen in das neue Reich integriert - auf der Basis des föderativen status quo von 1871. Das hat für die Folgezeit freilich eine negative Rückwirkung gehabt: Weil das Zentrum den föderativen status quo verteidigte, geriet die Sache des Föderalismus, die man mit der gegebenen Verfassung identifizierte, bei den Liberalen und Linken in den Geruch des politischen Katholizismus; offenbar wollte das Zentrum nur aus ‘konfessionellen’ Gründen einen starken Einheitsstaat verhindern, das schlug bei der weitverbreiteten antikonfessionalistischen Stimmung gegen den Föderalismus zu Buche.
Wenden wir uns nun noch einmal der Entwicklung der Verfassungspraxis zwischen 1871 und 1914 zu, so wird man vor allem das Vordringen der unitarischen Institutionen feststellen müssen. Das Reich (im Unterschied zu den Ländern) spielte zunehmend eine grössere Rolle als die Verfassung das ursprünglich vorgesehen hatte. Die Reichsgesetzgebung nahm stark zu, es entstanden eigene Reichsverwaltungen. Militär- und Flottenpolitik, Aussen- und Kolonialpolitik, die - zoll- und wirtschaftspolitischen - Anfänge des Interventionsstaates und die Anfänge des Sozialstaats - das wurden die entscheidenden staatlichen Aufgaben und sie erhöhten zwangsläufig das Gewicht des Reiches ganz gewaltig. Subjektiv gewann das nationalunitarische Kaisertum an Selbständigkeit, Prestige und Integrationswirkung. Die Reichsbürokratie löste sich von der preussischen Bürokratie und gewann an Initiative und Gewicht, auch und gerade im Bundesrat. Das Reich gewann - als Institutionen- und Entscheidungsgefüge - gegenüber Preussen an Gewicht. Die Staatssekretäre wurden häufig zu preussischen Ministern ernannt, Preussen wurde zeitweise für die Zwecke des Reiches instrumentalisiert oder mediatisiert. Man könnte geneigt sein, das als eine relativ gleichgültige Verschiebung im Herrschaftsestablishment von einer Bürokratie zu einer anderen anzusehen, die den föderativ hegemonialen status quo nicht entscheidend verändert habe und darum allenfalls für Juristen interessant sei: Aber so ist es nicht. Denn die Reichsleitung war an Reichsaufgaben orientiert und auf den Reichstag
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des allgemeinen Wahlrechts angewiesen, der moderne Staat konnte nur bestehen, wenn die Gesetzgebung funktionierte, Kompromisse mit dem Reichstag waren notwendig. Die preussische Regierung dagegen basierte auf einem Dreiklassenparlament und auf einer konservativen Staatsstruktur, und sie hatte nur begrenzte Aufgaben. Der Kompetenz- und Führungskonflikt zwischen Preussen und dem Reich hatte darum eine wesentliche politische Dimension, er war Teil eines grossen Veranderungsprozesses. Die Hegemonialmacht Preussen geriet unter den Druck des Reiches, ja fast in eine Defensive. Schliesslich änderten sich Struktur, Gewicht und Funktion des Bundesrates. Aus einer Ministerkonferenz wurde ein Organ der Elite der höheren Bürokratie. Seine Initiative und seine Aktivität gingen zurück, ohne seine Zustimmung ging nichts, aber er spielte seine Rolle eher zurückhaltend. Er war exklusiv, unverantwortlich, nicht-öffentlich, gegenüber Kaiser, Kanzler oder Reichstag unpopulär, ja seine Aufgabe eigentlich unverständlich. Und das bedeutete auch im Wilhelminischen Deutschland im Zeitalter der Öffentlichkeit auf die Dauer ein Stück Machtverlust. Was blieb war politisch die Barriere gegen die Parlamentarisierung, gegen eine Veränderung des machtund gesellschaftspolitischen status quo.
Das prekäre Verhältnis von Reichsleitung, Preussen, Bundesrat und Reichstag war in den Jahren vor 1914 in Bewegung. Einer der wesentlichen Gründe dafür war die Misere der föderativen Finanzverfassung. Eine immobile Steuerverfassung und -verteilung erwies sich als ungeeignet, die Aufgaben des imperialistischen Industriestaates zu finanzieren. Um das föderative Prinzip zu wahren, hatte man ein System von Überweisungen und Rücküberweisungen zwischen Reich und Ländern eingeführt, dass immer absurder und irrationaler wurde. Die Länder, einschliesslich Preussens, wie die konservativen Parteien widersetzten sich lange einem eigenen Steuersystem des Reiches, vor allem dem Zugriff des Reichstags auf Besitz- und Einkommensteuern. Der Föderalismus geriet finanzpolitisch in eine schwere Krise. Erst zwischen 1906 und 1913 sind dann Finanzreformen zustande gekommen, die direkte Reichssteuern einschlossen und also ein Reichsfinanzsystem anbahnten, ohne dass freilich eine funktionsfähige endgültige Lösung erreicht worden wäre.
Will man Lage und Probleme des Föderalismus vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beurteilen, so lässt sich etwa folgendes sagen:
1. | Föderalismus war relativ erfolgreich: Er hatte das Reich zu einer Einheit integriert und die regionale Pluralität auch politisch erhalten. Die Eigenständigkeit der Länder hatte sich erhalten und war ein Stück akzeptierter politischer Wirklichkeit. Der Föderalismus der Reichsstruktur war weithin zur eingebürgerten Selbstverständlichkeit geworden. Föderalismus als politisches Gestaltungsprinzip war aber nicht in dem Sinne populär, dass er als bewegendes, zukunftgestaltendes Prinzip erlebt worden wäre - wie Nationalismus und Imperialismus, Libera- |
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| lismus oder Sozialismus. Der bürokratisch-obrigkeitliche Charakter des Bundesrates und die komplizierte Finanzverfassung des Reiches stellten potentielle, wenn auch nicht aktuelle Belastungen des Föderalismus dar. |
2. | Das Machtgewicht an der Spitze des Reiches hatte sich von den föderalen zu den unitarischen Instanzen hin verschoben, das galt auch für die hegemoniale Position Preussens. Das hat vor 1914 die Struktur der Herrschaft in diesem Reich nicht geändert; trotz der Differenzen zwischen dem Reich und Preussen war und blieb das Kaisertum mit der militärisch-junkerlich-konservativen Welt Preussens aufs engste verflochten, damit blieb die Reichsleitung an ihre preussische Machtgrundlage gebunden. Der Bundesrat, auch wenn er an Gewicht verloren hatte, blieb der Reichsleitung im Kern bürokratisch-konservativer Gemeinsamkeit verbunden, hier drohte kein Konflikt. Und der Bundesrat blieb einstweilen eine Bastion des bestehenden Systems, ein Hindernis auf dem Weg einer Parlamentarisierung oder Liberalisierung des Reiches; damit stützte er letzten Endes trotz allem auch die relative Hegemonie Preussens. |
3. | Gegenüber den heute weit verbreiteten Thesen von der hoffnungslosen Stagnation des Reiches musste man freilich die Möglichkeit eines Wandels zur Geltung bringen. Die Angewiesenheit der Reichsleitung auf den Reichstag konnte zu einer Auflockerung der preussischen und der föderalen Barrieren führen. Auch der Föderalismus schloss trotz allem eine allmähliche Parlamentarisierung der Reichsmonarchie nicht gänzlich aus. Das zeigte sich im Ersten Weltkrieg. |
Der Weltkrieg hat in dreifacher Hinsicht den Föderalismus beeinflusst.
a) | Der Krieg erwies sich als grosser Gleichmacher und Vereinheitlicher. Er war eine fundamental gemeinsame, ebenso politische wie soziale wie menschliche Erfahrung, eine Folge gemeinsamer Erlebnisse, gemeinsamer Belastung, der gegenüber die regionalen Unterschiede gering wurden. Die Notwendigkeiten des Krieges führten über die Rüstung zur Planung und Steuerung von Wirtschaft, Ernährung und Arbeitsleben, führten zur bürokratischen Zentralisierung, das Reich übernahm mehr Kompetenzen und führte sie einheitlicher durch als je zuvor. |
b) | Demgegenüber gab es gegen Ende des Krieges den Widerstand gegen ein um sein Prestige gekommenes establishment, gegen Not und Zwang, gegen ‘Berlin’ und gegen die Zentralisierung. Das war eine proföderalistische Stimmung, am stärksten im Erzland des Föderalismus, in Bayern. Aber sie erwies sich als kurzfristig, die föderalistischen Tendenzen der Not hatten keine Dauer. |
c) | Vor Ende des Krieges wurde die Verfassung parlamentarisiert: Der Druck der Demokratisierungswelle, der Integration der Sozialdemokratie, zuletzt und vor allem die drohende Niederlage überwanden auch die föderativen Hindernisse der Parlamentarisierung. Der Reichstag wurde nun gegenüber dem Bundesrat zum eigentlichen Machtzentrum, ohne dass damit die bundesstaatlich-föderative
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| Struktur des Reiches beseitigt worden wäre. |
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VI
Im ganzen war die allgemeine Stimmung 1918/19, waren die Tendenzen der politischen Parteien, die jetzt zum ersten Mal allein über die Struktur Deutschlands entschieden, zentralistischer geworden als 1871. Das schlug sich in der Weimarer Verfassung nieder. Der Schöpfer des Entwurfes dieser Verfassung, Hugo Preuss, ging davon aus, dass nun endlich die Demokratie, der Volksstaat sich durchsetzen könne, und ihr Subjekt, Träger der Souveränität, war die Nation. Die historischen Staaten galten ihm demgegenüber als zufällig, ohne eigentliche Legitimität. Was er als das einzig legitime Erbe des Föderalismus ansah, das sollte im Aufbau des Staates auf kommunaler und provinzialer Selbstverwaltung gewährleistet werden: im ‘dezentralisierten Einheitsstaat’ als einem Gegenmodell zur französischen Demokratie. Darin hatte dan auch eine von provinzialen Landtagen (nicht von Regierungen) proportional zur Bevölkerungszahl gewählte, gleichberechtigte Zweite Kammer, ein ‘Staatenhaus’, ihren Platz. Revolutionäres Kernstück des Konzeptes war die Auflösung Preussens, nur so könne man, so meinte Preuss, das antiföderative Prinzip der Hegemonie endgültig beseitigen. Die Nationalversammlung von Weimar war an sich ähnlich unitarisch gesinnt. Aber in den demokratisch revolutionierten Einzelstaaten traten die neuen republikanischen Regierungen zum Teil in die föderalistischen Positionen ihrer monarchisch-konservativen Vorgänger ein; und sie hatten während der Verfassungsberatungen ein Mitsprache-, ja in der Frage von Gebietsänderungen eine Art Vetorecht. Sie wehrten sich gegen die Herabdrückung der Länder zu Provinzen. Die Aufteilung Preussens schien ihnen ein zu teurer Preis für das Ende der preussischen Hegemonie. Denn die Auflösung der stärksten
historischen Partikularmacht (das war Preussen eben auch) hätte die Legitimität aller anderen historischen Partikularmächte geschwächt. Die Forderung nach Auflösung Preussens war eine Forderung des Zentralismus wie des ‘reinen’ Föderalismus, der nur gleiche Partner einer Föderation anerkennen möchte. Sie scheiterte am wirklichen Föderalismus, an den am Föderalismus interessierten Einzelstaaten, die, paradox genug, zu Rittern Preussens wurden. Und die Mehrheitsparteien hatten einesteils manche Interessen an der Erhaltung Preussens als Basis von Parteimacht oder als Integrationsfaktor für gefährdete Grenzgebiete im Osten und Westen, anderenteils hatten sie zuviele andere Sorgen, als dass sie diesen grossen Schritt hätten tun und die dadurch provozierten Widerstände hätten tragen können. Sie begnügten sich mit halben Massnahmen und vertagten andere.
Das Ergebnis von Weimar war ein Kompromiss zwischen dem Konzept von Preuss und diesen Widerständen: ein gegenüber 1871 stark unitarisierter Bundes- | |
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staat (oder wie strenge Föderalisten es ansehen mochten, ein Einheitsstaat mit bundesstaatlichen Einsprengseln). Die Länder, so hiessen die Einzelstaaten jetzt auch offiziell, bestanden fort, sie behielten ein gewisses Mass von Gesetzgebungskompetenz (Schulwesen), sie behielten ihre eigene Verwaltung und hatten über Personal- und Polizeihoheit durchaus ihren eigenen Wirkungsraum, ihr eigenes Gewicht. Freilich, die Gesetzgebungskompetenz des Reiches nahm in der Konsequenz der Kriegsfolgen, der wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die nur zentral zu regeln, deren Lasten nur zentral zu verteilen waren, gewaltig zu und auch die Reichsverwaltung dehnte sich aus. Vor allem wurde das Finanz- und Steuerwesen nun durch die in der Verfassung vorbereitete Erzbergersche Finanzreform zentralisiert. Das Reich erhielt den Löwenanteil der Steuern, es finanzierte praktisch die Länder, die Länder wurden zu Kostgängern des Reiches: Das war die Umkehr der bisherigen Verteilung der (Finanz) Macht. Auch die Mitwirkung der Länder bei der zentralen Willensbildung wurde eingeschränkt. Es gab ein Verfassungsorgan, den Reichsrat, eine Vertretung der Länder, die bei der Gesetzgebung mitwirkten; diese Mitwirkung war teils beratend, teils hatte sie ein Einspruchsrecht zum Inhalt, das nur mit qualifizierter zwei Drittel Mehrheit des Reichstags zu überstimmen war. Aber die Machtstellung des alten Bundesrates war - auch in republikanischer Form - nicht wiederhergestellt. Die preussische Hegemonie war - trotz der Stärke Preussens - dahin. Das republikanische Preussen stand nicht mehr in einem besonderen Immediatverhältnis zur Reichsmacht, weder zum Reichsoberhaupt, noch zum Reichskanzler und seiner Regierung, noch zur
Reichsbürokratie. Im Reichsrat waren die Stimmen Preussens unterproportional auf zwei Fünftel begrenzt, die Hälfte sollte überdies - dezentralisiert - von Provinzialinstitutionen wahrgenommen werden. Das war gleichsam der Preis, den Preussen für seine, eben beinahe systemwidrige, Erhaltung zahlen musste, der Preis auch, den die anderen Länder für die Verstärkung des Unitarismus erhielten. Eine unbeabsichtigte Folge war freilich, dass Preussen gerade nach dem Verlust der Hegemonie zu einem der Wortführer der Länder, einem potentiellen Protagonisten des Föderalismus werden konnte.
Es gab während des Entstehens der Verfassung auch - neben den beschriebenen Länderwiderständen und den zentralistisch-dezentralisierenden Tendenzen zur Neueinteilung, neben dem sozusagen altmodischen, traditionellen Föderalismus - neue föderalistische Motive und Argumente. Alle Weimarer Parteien zum Beispiel befürworteten (wie die Parteien in Wien) den Anschluss Österreichs, und es war jedem Kenner klar, dass ein solcher Anschluss nur in den Formen einer starken Föderalisierung vor sich gehen konnte. Aber bei der Auseinandersetzung um die Verfassung spielt dieses Argument dann doch keine wesentliche Rolle. Es gab einen linken Föderalismus, vor allem den der radikal sozialistischen (USPD) bayerischen Regierung unter Kurt Eisner, der die Verfassung an die Zustimmung
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der Einzelstaaten binden wollte, der, antizentralistisch, weil antiborussisch und enttäuscht über die Weimarer Mehrheit, die Kompetenzen des Reiches beschränken wollte. Aber im ganzen waren das Ausnahmen. Dominierend war der stärkere Unitarismus, aus wie verschiedenen Motiven er auch kommen mochte. Der unitarische Zug der Verfassung war nicht nur ein Kind des Zentralismus, sondern ein Kind der Demokratie, die sich gegen den obrigkeitlich konstitutionellen Föderalismus durchgesetzt hatte, und ein Kind der Not, der Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Charakteristisch ist die Wandlung des Zentrums: Bis dahin Garant des bestehenden Föderalismus, haben seine Politiker die Weimarer Republik mitgeschaffen und getragen, überzeugt davon, dass der ‘dezentralisierte Einheitsstaat’ dem Gesetz der Geschichte und der Forderung der Zeit entspreche, die föderalistische Tradition ‘aufhebe’.
Aus der Geschichte des Föderalismus in der Weimarer Republik sind zwei Komplexe wichtig:
a) Während der zwanziger Jahre gab es eine fortdauernde, zuletzt anschwellende Debatte über die Reichsreform. Sie hatte verschiedene Ursachen und verschiedene Probleme. Einmal gab es die föderalistische Kritik an der Reichsverfassung, die, wenn man von eher sektenartigen Bünden absieht, vor allem von der bayerischen Regierung und der bayerischen Volkspartei vorgetragen wurde. Die Basis dieser Kritik war paradoxerweise die Erhebung der Verfassung von 1871, die Bayern früher bekämpft hatte, zur Norm eines gesunden Föderalismus. Der bayerische Föderalismus vermochte freilich kaum über Bayern hinauszuwirken. Seit den Anfangsjahren der Republik galt er der Mitte und der Linken als Föderalismus des Legitimismus und der Restauration; der Hitlerputsch vom November 1923 in dem von Bayern aus - und anfangs, so schien es, nicht ohne Wohlwollen der bayerischen Regierung - im Namen eines besseren Deutschland die Revolution gegen Verfassung und Reichsgewalt proklamiert wurde, diskreditierte mancherlei Föderalismus als verkappten revolutionären Nationalismus. Bei der von Bayern eingeleiteten Reichsreformdebatte Mitte der zwanziger Jahre wurde deutlich, dass Bayern mindestens zeitweise vornehmlich bayerische Interessen verfocht und bereit war, gegen die Einräumung von Sonderrechten für Bayern und Süddeutschland, Preussen zu erhalten, ja zu stärken. Das zweite grosse Thema war das Problem Preussen, die Frage, ob man den sogenannten Dualismus zwischen dem weitaus grössten und stärksten deutschen Land, Preussen, und dem Reich auflösen könne und solle, ob, wie man noch immer und wieder sagte, Preussen im Reich aufgehen sollte. Pläne einer Aufteilung Preussens wurden weiter diskutiert und auch Pläne, ganz Nord- und Mitteldeutschland mit Preussen zu vereinen, um gerade dadurch eine Dezentralisierung und Regionalisierung Preussens zu
erzwingen. Schliesslich wurden die Probleme der Finanzverfassung und eines besseren Finanzausgleichs
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diskutiert und dabei spielte das rational-funktionale Argument der Zentralisten eine besondere Rolle, dass die Verwaltung eines dezentralisierten Einheitsstaates billiger und effektiver sei als das Nebeneinander von Reichs- und Länderverwaltung. In gewisser Weise verschob sich die Föderalismusdebatte zu einer Debatte über Zentralisierung oder Dezentralisierung. Die föderative Struktur war nicht mehr selbstverständlich, die Umorganisation Deutschlands war ein aktuelles Thema, der Föderalismus schien eher in der Defensive, der ‘Unitarismus’ im Vordringen. Die weitläufige Debatte, die bis in amtliche Kommissionsberatungen reichte, ging im Strudel der Wirtschaftskrise unter, aber auch vor 1929/30 waren im Grunde keine mächtigen Gruppen für eine Veränderung der politischen Gesamtstruktur wirklich zu mobilisieren, insofern hatte die faktische Verfassung eines stark unitarisierten Föderalismus doch Bestand.
Das bestätigt sich, wenn man nun b) einen Blick auf die föderative Realität, auf das politische Gewicht der Länder, die Bedeutung der Tatsache, dass Deutschland in Länder gegliedert war, wirft. Die Länder behielten - das wird von Historikern manchmal verkannt - trotz der unitarischen Tendenzen in der öffentlichen Meinung eine ganz erhebliche Bedeutung im politischen Gesamtgefüge Deutschlands. Eine zentralistische ‘Errungenschaft’ der Weimarer Verfassung, die Kompetenz des Reiches in Fragen der Schulgesetzgebung, konnte das Reich de facto nicht nutzen, entsprechende Versuche scheiterten. Denn die hier tangierten konfessionellen Traditionen Deutschlands waren mit dem Föderalismus verflochten, Schulgesetze waren letzten Endes nur im Rahmen der Länder möglich, das entsprach nicht nur der institutionellen Machtverteilung, sondern durchaus der Mentalität und den unterschiedlichen Willensrichtungen des deutschen Volkes. Die Personalhoheit der Länder, zumal in der Innen- und der Justizverwaltung, und die Polizeihoheit gab ihnen in dem aufhaltsamen Prozess der Demokratisierung, beziehungsweise der Erhaltung vordemokratischer Strukturen, und dann in der Auseinandersetzung mit den Gegnern der Republik ein ganz erhebliches Gewicht. Dazu kam, dass es in den Ländern vielfach andere parteipolitische Koalitionen gab als im Reich. In Preussen etwa behauptete sich im wesentlichen die Weimarer Koalition (Sozialdemokraten, Demokraten, Zentrum), auch als im Reich eine Mitte-Rechtskoalition, ein ‘Bürgerblock’ regierte, Preussen war ‘linker’ als das Reich. Solche Unterschiedlichen Koalitionen waren weniger ein Element der Spannung als der Stabilisierung der Republik: Sie hielten unterschiedliche Koalitionsmöglichkeiten offen, wie die zwischen Zentrum und Sozialdemokratie, und sie beteiligten demokratische
Oppositionsparteien im Reich an der Regierungsverantwortung in den Ländern, sie wirkten ausgleichend. Als in der Krise der Demokratie seit 1930 die parlamentarischen Regierungen scheiterten, als Brüning mit Hilfe des Notverordnungsrechts zum System der bürokratisch
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abgestützten Präsidialregierung überging, gewannen die in der Krise durchhaltenden Länderregierungen, wie etwa die preussische, erneut einen den Gesamtstaat mittragenden Einfluss. Es ist darum alles andere als ein Zufall, dass die letzte Phase des Untergangs der Republik mit einem Schlag gegen den Föderalismus begann, mit dem Staatsstreich der Regierung Papen in Preussen im Juli 1932, der Absetzung der preussischen Regierung und der Einsetzung eines Reichskommissars. Polizei und innere Verwaltung, bis dahin noch Machtmittel einer demokratischen Regierung, wurden dem autoritären Kurs unterworfen und zwar auf dem Weg eines zentralistischen Staatsstreichs. Die Existenz der Regierung des Landes Preussen, jetzt eines Bollwerks des Reichsföderalismus, war dieser Reichsregierung unerträglich geworden - das zeigt aufs deutlichste das politische Gewicht der Länder. Historisch wurde durch die direkte Unterstellung Preussens unter die Reichsleitung und ihren Reichskommissar das Wilhelminische Modell der Verquickung von Reichsleitung und preussischer Regierung wiederhergestellt, nun freilich so, dass die stillgelegte Hegemonie Preussens, seine potentiell ausschlaggebende Macht, gewissermassen vom Reich okkupiert zugunsten einer autoritär rechten Reichsregierung reaktiviert wurde. Die Verfassungswirklichkeit wurde dadurch revolutioniert. Das ist der Grund, warum die anderen Länder, das ‘rechte’ Bayern nicht ausgenommen, sich mit der abgesetzten preussischen Regierung verbündeten in dem Versuch, vor dem Staatsgerichtshof die alte Rechtssituation wiederherzustellen; sie suchten, jetzt im Geist einer anti-nationalsozialistischen Koalition, die Länderrechte gegen einen Reichsübergriff zu bewahren und wiederherzustellen. Aber das war in der Krise von 1932 vergeblich.
Ob eine stärker föderalistisch strukturierte Republik Hitler besser widerstanden hätte, ist trotzdem zweifelhaft. Stärkere Länder hätten vielleicht die Regierung Brüning stärker stützen können; aber rechtlich wie faktisch beruhte sie auf dem Vertrauen des Reichspräsidenten, und das war unabhängig vom Mass des Föderalismus. In den Ländern haben sich demokratische Regierungen als Minderheitsregierungen länger gehalten, aber das hing damit zusammen, dass die Länder nicht so unter dem konzentrierten Druck der Gegner der Republik im Reichstag und in der Öffentlichkeit standen und dass hier - ohne die Institution des Reichspräsidenten - Ausweglösungen für eine Weile eher möglich waren. Den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Koalition der Deutschnationalen mit Hitler hätten auch Länder mit stärkerer Selbständigkeit und stärkerem Gewicht in der politischen Willensbildung des Gesamtreiches, von Bayern vielleicht abgesehen, nicht verhindern können.
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung vom 30. Januar 1933 gelang es Hitler und den Nationalsozialisten relativ rasch, auch die Länder ‘gleichzuschalten’, der nationalsozialistischen Führung zu unterwerfen. An sich stellten die föderativen Verfassungselemente - die Bestandsgarantie für die Länder und
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ihre legalen Regierungen und die Existenz des Reichsrates - ein starkes Hindernis dar, in Deutschland eine Diktatur zu errichten. Aber diese Barriere brach schnell zusammen. Die Übernahme der preussischen Regierung durch das Reich hatte die stärkste Bastion eines föderalistischen Widerstands gegen eine Diktatur, die sich insbesondere auf die Polizei hätte stützen können, bereits gebrochen: Am 30. Januar konnte Hitler durch Göring die ganze preussische Polizei und Verwaltung, und damit einen effektiven staatlichen Machtapparat, ohne besondere Mühe übernehmen. Die anderen Länder (und der Reichsrat) haben nicht entschieden und nicht energisch ihre Position verteidigt. Zumeist handelte es sich um geschäftsführende Minderheitsregierungen. Der Doppelstrategie der Nazis, dem quasi revolutionären Ansturm von Partei und SA von unten und den Interventionen der Berliner Regierung von oben, der Einsetzung von Polizeikommissaren, die fälschlich mit den Notverordnungen begründet wurde, waren sie nicht gewachsen: Sie gaben auf.
Ideologisch waren die Nazis zentralistisch, für ihren Nationalismus war die Einheit der Nation, die Zusammenfassung aller ihrer Kräfte, ein oberster Wert, Führerstaat, Diktatur, totaler (oder totalitärer) Staat, das verwies alles auf Zentralisierung, und die Eroberungsziele natürlich erst recht. Föderalismus galt als schlechte Tradition der deutschen Geschichte, als Relikt der Weimarer ‘System’-Zeit, als antinational, klerikal, bonzenhaft. Demgegenüber spielten Ansätze zu einem nebulosen ‘wahren’ germanischen Föderalismus, die sich auf den Mythos von ‘Blut und Boden’ und den darin implizierten Heimatregionalismus berufen konnten, keine wesentliche Rolle. Aber in der Realität des nationalsozialistischen Herrschaftssystems entwickelte sich, erstaunlich genug, ein neues Föderalismusproblem, eine neue Spannung zwischen Zentralisierung der Macht und regionalen Machtzentren. Das hing mit dem komplexen Verhältnis von Staat und Partei zusammen. Im Frühjahr 1933 schien es durchaus möglich, dass sich aus dem Machtanspruch lokaler und regionaler NS-Führer in den Ländern und Provinzen starke Machtzentren bildeten, dass die NS-Führer in die Tradition der deutschen Länder eintreten würden. Sie entwickelten sich zu revolutionären ‘Gaufürsten’. Hitlers Ziel war es 1933, eine selbständig werdende Parteirevolution von unten abzuwürgen und damit auch die Möglichkeit eines regionalen Polyzentrismus. Das ist ihm mit Hilfe einer Reihe von besonderen Gesetzen und Massnahmen gelungen, besonders durch die Einsetzung von Reichsstatthaltern. Aber beides - die regionale Machtergreifung der Nazis wie das zentralistische Statthaltersystem haben 1933 die Gebietsordnung Deutschlands, den territorialen Bestand der Länder gerade erhalten. Die NS-Revolution und die
unmittelbaren Machtinteressen von 1933 konservierten insofern auch die bestehenden Zustände, ja befestigten sie neu, Gegebenheiten, die ihre eigene Resistenz gegen die vielberedete Neueinteilung des Reiches entwickeln mussten. Insbesondere die Übernahme und Erhal- | |
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tung Preussens durch die Nazis, unmittelbar aus der Notwendigkeit von Machterwerb und Machtsicherung, war ein Eintreten in Traditionen, das eine Neuordnung der Regionen und des Verhältnisses von Regionen und Zentrale wesentlich erschweren musste. Anfang 1934 wurden die Länder dem Reich unterstellt, die föderative Verfassung aufgehoben, der Einheitsstaat proklamiert.
Die revolutionär chaotische Phase war zu Ende, auch die lokalen Parteigewalten, die alten Kämpfer, sollten stärker an die zentralen Weisungen gebunden werden. Der autoritäre bürokratische Einheitsstaat und sein Zentralismus wurde immer stärker. Gesetzgebung und Verwaltung gingen ganz an das Reich über, Reichsministerien und preussische Ministerien wurden zusammengelegt, die Einheit von Reichsverwaltung und preussischer Verwaltung wurde hergestellt. Der Zentralismus aber war nur eine Seite der Wirklichkeit. Auf der anderen Seite blieben regionale Machtbastionen bestehen. Man kann am besten von einem Schwebezustand, von einem Neben- und Gegeneinander des autoritären Zentralismus und der Position machtbewusster Regionalherren sprechen, Gauleiter und - auch manchmal mit ihnen identisch - Statthalter, die keineswegs nur als Funktionäre der Zentrale, sondern als Repräsentanten ihrer Region fungierten. Hitler hat dieses Gegeneinander bewusst aufrechterhalten und damit seine eigene, sozusagen superzentrale Macht befestigt. Er hat zum Beispiel keine zentralistischen Kompetenzregelungen zugelassen, sondern sich bei Konflikten von politischer Bedeutung, etwa zwischen Statthaltern und Reichsministern selbst die Entscheidung vorbehalten. Er hat auch die Pläne zu einer systematischen nationalzentralistischen Reichsreform abgestoppt. Er wollte zum einen keine Festlegung innerer Verfassungsverhältnisse, die seine Entscheidungsfreiheit einschränken oder späteren Änderungswünschen entgegenstehen könnten. Zum anderen hätte eine solche Reform die konservativ autoritären Kräfte der Bürokratie gestärkt, das widersprach seinem originären Antietatismus.
Nachdem die Gefahr einer Parteirevolution vorüber war, gewann die Tendenz, letzten Endes und in Zukunft die Partei dem Staat überzuordnen, zum Befehlshaber, zum Herren des Staates zu machen, wieder ganz erheblich an Gewicht, und damit auch die Rücksicht auf ‘seine’ Gauleiter. Aber noch brauchte er den effektiven bürokratischen Staatsapparat. Die Sicherung seiner Führerstellung, die Instrumentalisierung des Staates zur zentralisierten Kriegsvorbereitung und zugleich das revolutionäre Misstrauen gegen den Staatsapparat, die Tendenz zur Parteiherrschaft - das begründet das für das System so typische Gegeneinander von Instanzen und Machtträgern, in unserem Fall von zentralen und regionalen Instanzen, von Staat und Partei.
Im Krieg hat sich diese Situation eines organisierten Gegeneinander noch verschärft, auf der einen Seite eine kriegsbedingte Zentralisierung, die sich zum Teil freilich zu einer Anarchie konkurrierender Zentralbehörden entwickelte, auf der
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anderen Seite die Verstärkung und Ausdehnung von Partikularherrschaft. Bei der Expansion, den Annexionen des Reiches arbeitete Hitler - im Saargebiet, in Österreich, im Elsass und in Lothringen und vor allem dann im Osten - mit Gauleitern und Kommissaren aus der alten Parteigarde, die ihm direkt unterstellt, die ‘führerunmittelbar’ waren. Die ‘Reichsgaue’ waren der zentralistischen Staatsverwaltung entzogen, man kann geradezu vom Ende der Rechtsund Verwaltungseinheit in Hitlers Staat oder von neuen ‘Satrapien’ sprechen. Sonderkompetenzen und Sonderherrschaft (wie die der SS) durchkreuzten zusätzlich einen zentralisierten Staats- oder/und Parteiaufbau. Das Motiv blieb das alte und gerade im Krieg hat Hitler das oft genug ausgesprochen: die Abneigung gegen die alte Bürokratie, auch in ihrer nationalsozialistisch gewordenen Form, gegen Juristen, Experten, Bürokraten; für Hitlers eigentliche Ziele: Nazifizierung und Germanisierung neuer Gebiete verliess er sich lieber auf die Partei und ihre alten Führer. Schliesslich wurden ganz generell die Gauleiter und Statthalter zu Reichsverteidigungskommissaren.
Der Staat des Dritten Reiches war zuletzt nicht autoritärer Ordnungsstaat mit bürokratischer Herrschaft und bürokratischer Zentralisierung. Es war der Staat Hitlers und der Staat der Partei, der Staat personaler Herrschaft und personaler Zentralisierung und deren Begleiterscheinung war notwendigerweise eine faktische relative Anarchie. Im ganzen wird man die Zeit zwischen 1933 und 1945 als ein Nebeneinander von Staatszentralismus und Partikularherrschaft charakterisieren können. So ungeheuer und einschneidend die Bedeutung der Nazizeit für die deutsche Geschichte im allgemeinen ist, für die Geschichte des Föderalismus in Deutschland war sie eher ein Zwischenspiel, ein Zwischenspiel freilich, das in gewisser Weise zu der Renaissance des Föderalismus in Deutschland nach 1945 beigetragen hat.
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VII
Bekanntlich ist der westliche Teil Deutschlands nach 1945 föderalistisch, als Bundesrepublik organisiert worden. Das war weniger ein Rückgriff auf historische Traditionen als eine eigentümliche Neugründung. Dass diese Neugründung föderalistisch war, beruht auf einer Reihe von Ursachen, die man in drei grossen Komplexen bündeln kann.
Zunächst und am wichtigsten: es waren die Besatzungsmächte, die die föderale Struktur des neuen Staates bestimmt haben. Bei ihnen lag nach der bedingungslosen Kapitulation, dem faktischen Untergang des Deutschen Reiches, Souveränität und Organisationsgewalt, sie haben den Anstoss zur Gründung der Bundesrepublik gegeben. In den Kriegsplänen der Alliierten, vor allem der Westmächte, spielte die Aufteilung (dismemberment) oder Dezentralisierung Deutschlands
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durchgängig eine entscheidende Rolle. Macht- und sicherheitspolitische Gründe verlangten eine endgültige Zerschlagung der deutschen Grossmachtstellung, eine langfristige Schwächung des deutschen Angriffspotentials denn die deutsche Gefahr, die deutschen Revisions- und Angriffsgelüste hielt man für eine konstante Gegebenheit. Darum musste man diesen Staat aufteilen oder aber entscheidend schwächen, die Föderation war dann das Mittel, einen nach aussen schwachen, einen ungefährlichen Staat zu restituieren. Dazu kamen, zum Teil durch die Analysen deutscher Emigranten beeinflusst, ideologische Gründe - man wollte ein faschistisches, ein totalitäres System ein für allemal verhindern und womöglich eine Demokratie errichten. Unter diesem Aspekt erschien der Zentralismus, der auf Akkumulation von Macht tendierte, gegenüber dem Missbrauch der Macht anfälliger als ein föderatives System, ein System föderativer cheques and balances. Dem entsprach auch die historische Deutung der deutschen Frage: Hitler und der Nationalsozialismus wurden in der Kontinuität Preussens, der Kontinuität von Militarismus, Autoritarismus, Zentralismus und Grossmachtpolitik gesehen. Die Zerschlagung Preussens war darum ein Kernstück der alliierten Friedenspläne, bei Churchill auf eigentümliche Weise mit der Vorliebe für eine Donauföderation verbunden. Es ist hier nicht darzustellen, warum die Teilungspläne, wie sie etwa Frankreich oder das US-Schatzamt noch längere Zeit hindurch favorisierten, nicht realisiert wurden.
Die Tatsache, dass sich die Alliierten über Deutschland nicht einigen konnten, die Notwendigkeit, das wirtschaftliche Chaos zu bewältigen, der Beginn des Kalten Krieges, der Entschluss der USA, die westlichen Besatzungszonen in das amerikanische Wiederaufbauprogramm für Europa einzubeziehen - das waren wesentliche Gründe. Die Sowjetunion hatte schon kurz nach dem Kriege ihren Kurs geändert. Sie setzte auf ein einheitliches Deutschland, weil nur so ihre Reparationswünsche wie ihre Vorstellungen von einem potentiell ‘sozialistischen’ Deutschlands zu erfüllen waren. Sie wandte sich dann auch gegen einen oktroyierten ‘Zwangsföderalismus’ und versuchte als Anwalt eines einheitlichen Deutschland ihre Position bei den Deutschen selbst propagandistisch auszubauen. Auf der Moskauer Aussenministerkonferenz vom Frühjahr 1947 spielte die Frage des Föderalismus eine wichtige Rolle; die Sowjetunion forderte ein Plebiszit der deutschen Wähler über diese Frage, die Westmächte lehnten das ab. Entscheidend für das Scheitern der Konferenz war das freilich nicht, entscheidend waren die Reparations- und die Ruhrfrage. Unter sich waren sich die Westmächte, auch nachdem der Gedanke einer Aufteilung zurückgetreten war, über das Ausmass einer Föderalisierung Deutschlands keineswegs einig. Frankreich wollte eigentlich höchstens einer lockeren Konföderation zustimmen, England war einer stärkeren Einheitlichkeit nicht abgeneigt. Der eigentliche Protagonist einer bundesstaatlich-föderalistischen Regelung wurde die Regierung
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der USA, die sich auch über gewisse interne Bedenken - ein oktroyierter Föderalismus könne die (west)deutsche Demokratie belasten, der Föderalismus sei zur Bewältigung der ökonomischen Probleme des Wiederaufbaus weniger geeignet - hinwegsetzte. Ihre Mittelposition, vor allem aber ihr Machtgewicht, gab dann den Ausschlag. Im Winter 1947/48 zog die Sowjetunion aus dem alliierten Kontrollrat aus, eine Verständigung über Deutschland war unmöglich geworden. Die USA entschieden, dass der Wiederaufbau Europas und die dazu notwendige amerikanische Hilfe die Einbeziehung Westdeutschlands und die Errichtung eines westdeutschen Staates notwendig mache, Frankreich musste seinen Widerstand aufgeben. In den den westdeutschen Ministerpräsidenten übergebenen sogenannten Frankfurter Dokumenten, die die Handschrift der US-Militärregierung trugen, formulierten die Westmächte die Rahmenbedingungen für das Grundgesetz des neu zu konstituierenden Staates, insbesondere hinsichtlich seiner föderalistischen Struktur. Zugleich bestimmten sie das verfassunggebende Organ, einen aus den Ländern zu beschickenden Parlamentarischen Rat, und den Modus der Ratifikation durch zwei Drittel der (west)deutschen Länderparlamente. Auch die Art, wie die Verfassung zustande kommen sollte, war also föderalistisch geprägt.
Der zweite Ursachenkomplex dafür, dass der neue Staat sich föderalistisch organisierte, war die simple Tatsache, dass es 1948/49 deutsche Länder gab. Das Potsdamer Abkommen hatte Dezentralisierung und Wiederaufbau der Demokratie von unten nach oben gefordert. In diesem Prozess haben die Besatzungsmächte, auch um ihre Kontrolle zu konzentrieren und effektiver zu machen, oberste administrative Einheiten, im Ergebnis: Länder gebildet. Dabei konnte man nur zum Teil auf ehemals bestehende Länder (Bayern, Hamburg, Bremen) oder Provinzen (Schleswig-Holstein) zurückgreifen, ansonsten musste man, den Zufällen der Abgrenzung der Besatzungszonen folgend, Länder, Provinzen und zumal Teile von beiden neu konstituieren oder zusammenfügen (zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, Südbaden). Diese Länder, für die es eingesetzte Ministerpräsidenten gab, wurden dann, nachdem Parteien zugelassen und Wahlen abgehalten worden waren, aus administrativen zu politischen Grundeinheiten, mit eigenen Parlamenten und eigenen Verfassungen. Die amerikanische und die sowjetische Militärregierung gingen damit 1945 voran, die britische und zuletzt auch die französische folgten später.
Es gab freilich Unterschiede, die für unser Problem von Bedeutung sind. In der Sowjetzone wurden gleichzeitig mit den Ländern Zentralverwaltungen gebildet, die Länder hatten hier nur eine geringe eigenständige Bedeutung, die sie im Zuge der Sowjetisierung dieser Besatzungszone bis 1949 überhaupt verloren. In der US-Zone wurde im Herbst 1945 ein Koordinierungsgremium der drei Länder, der sogenannte Länderrat, gebildet, ein erstes Gremium föderativer Koordination.
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In der britischen Zone schliesslich gab es, bevor die Länder politisch konstituiert wurden, schon eher zentralistische Zonenverwaltungen und einen nicht von Ländervertretern (und später von Parteivertretern) besetzten zentralen Zonenbeirat, und hier haben sich dann manche Konflikte zwischen den zentralen Gremien und den politischen Parteien einerseits, den Ländern andererseits entwickelt. 1946/47 wurden die föderal organisierte amerikanische und die eher zentral organisierte britische Zone zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet, der sogenannten Bi-Zone, zusammengeschlossen; die Institutionen, eine Legislative aus Abgeordneten der Länderparlamente, ein Verwaltungsrat aus Vertretern der Länderregierungen, und der Wirtschaftsrat, die Direktoren der fünf Verwaltungen, zeigen einen föderativen Charakter und waren auf der Existenz der Länder aufgebaut. Im ganzen kann man sagen, dass die Länder im Westdeutschland der Nachkriegszeit eine der wesentlichen politischen Realitäten geworden sind. In ihnen hatte das politische Leben begonnen: sie hatten sich Verfassungen gegeben, sie hatten Parlamente, hier wurde gewählt, wurden parlamentarische Regierungen bestellt. Auch das Parteileben beruhte auf Länderorganisationen. Die Ministerpräsidenten der Länder wurden weit mehr als die Behördenchefs der britischen Zone und der Bi-Zone zu öffentlich herausgehobenen Repräsentanten der Deutschen. Das bedeutet keineswegs, dass die Länderchefs selbst besonders föderalistisch waren, das gilt unzweifelhaft nur für Bayern. Manche waren durchaus zentralistisch und fühlten sich nur als Statthalter eines künftigen deutschen Staates. Aber sie waren die gegebenen institutionellen Repräsentanten der Deutschen und die deutschen wie die alliierten Initiativen, die zur Gründung eines Staates führen sollten,
mussten von dieser Tatsache ausgehen. Darum haben die Konferenzen der deutschen und der westdeutschen Ministerpräsidenten für die Vorgeschichte der Bundesrepublik eine entscheidende Rolle gespielt. Kurz, die Länder und die Ministerpräsidenten waren simpel da. Eine gewisse Kritik und ein gewisses Unbehagen vieler Parteipolitiker, die eher gesamtdeutsch orientiert waren, erklärt sich daraus. Denn die Ministerpräsidenten und die Länder wurden fast zwangsläufig doch zu Repräsentanten dieses vorläufigen Nachkriegsföderalismus. Das war eine wesentliche Weichenstellung. Und auch die nicht in die Landespolitik einbezogenen Politiker konnten sich dem Gewicht jener Grundtatsache nicht einfach entziehen.
Aber es wäre falsch, den Föderalismus von 1949 als Besatzungsföderalismus zu charakterisieren. Obwohl die Länder weitgehend Gründungen der Besatzungsmächte waren, haben sie doch aus eigenem Antrieb auch ihr Eigenleben und ihr Eigengewicht entfaltet. Ganz unabhängig von der Besatzungspolitik ist der dritte Ursachenkomplex für die Tatsache, dass Westdeutschland sich als föderativer Staat konstituierte. Das ist eine quasi föderalistische Renaissance nach 1945, oder vorsichtiger: eine Renaissance von Regionalismus und Dezentralisierung.
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Der Zentralismus und Unitarismus schien durch den Gang der deutschen Geschichte bis 1933 und durch die Verhältnisse im Dritten Reich, die man lange Zeit ja nur unter diesem Aspekt ansah, diskreditiert. Die Abkehr von Nationalismus und Machtstaat, der Antiborussismus, die Tendenz zur nicht nur funktionalen, sondern auch horizontalen Gewaltenteilung, im Sinne mancher Verfassungspläne der deutschen Widerstandsbewegung, der Versuch der Anonymität von Massenorganisationen, Bürokratien und Grossstaaten zu entkommen (eine Folge konservativer Interpretation des Faschismus), das alles gab jedenfalls den Ideen der Dezentralisierung Auftrieb. Die Katastrophe des Reiches konnte zu einer Orientierung an regionalen Traditionen führen; die historische Besinnung zu einer Kritik an den ‘Irrwegen’ der deutschen Geschichte, an der Bismarckschen, der preussischen Reichsgründung.
Föderalistische Theorien, die den vor- und übernationalen Charakter des Föderalismus betonten, katholische Theorien, die den organischen Aufbau der Gesellschaft und das Subsidiaritätsprinzip auch im Verhältnis von Regionen und Zentralen betonten, hatten eine gewisse Konjunktur. Solche föderalistischen Überzeugungen waren im Süden und zum Teil auch im Westen, im katholischen Raum stärker ausgeprägt als im Norden, im protestantischen Bereich, in den Industriegebieten, sie spielten in den entstehenden christlichen Parteien eine weit stärkere Rolle als bei Liberalen und Sozialdemokraten, mit Ausnahme der bayerischen SPD. Freilich, solche föderalistischen Stimmungen hatten keineswegs, weder bei der Bevölkerung noch bei den Politikern, ein eindeutiges Übergewicht. Die ‘Länder’ waren ja, mit Ausnahme Bayerns und der Stadtstaaten Hamburg und Bremen, nicht historische Individualitäten mit lang zurückreichenden Traditionen, sondern künstliche, zum Teil zufällige administrative Schöpfungen der Besatzungsmächte. Ihre Bevölkerung war durch die riesige Wanderungsbewegung im Krieg und bei Kriegsende, durch die Vertreibung vieler Millionen aus dem Osten stark durcheinandergewürfelt, für unzählig viele gab es keine engere Bindung an eine partikulare Heimat.
Die theoretischen und politischen Erwägungen über den Wert des Föderalismus waren zunächst und vor allem Sache derjenigen, die sich nach 1945 legitimerweise allein politisch artikulieren konnten, der Anti-Nationalsozialisten. Es war nicht anzunehmen, dass solche Ideen die Mehrheit eines Volkes ergriffen hätten, das zumindest jahrzehnte-, wenn nicht generationenlang nicht in den Bahnen des politischen Föderalismus, sondern in denen der nationalen Einheit gelebt und gedacht hatte. Eine schweigende Mehrheit war sicher nicht föderalistisch. Aber auch unter den zu Wort kommenden Politikern und Publizisten war der Föderalismus umstritten und dominierte keineswegs. Liberale und Sozialdemokraten kamen aus eher zentralistischen Traditionen. Sie meinten, dass langfristig die ökonomischen und sozialen Probleme einer modernen Industriegesellschaft nur
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zentral zu steuern seien - sei es im Sinne der Fixierung von Rahmenbedingungen einer liberalen Marktwirtschaft, sei es im Sinne der damaligen Lieblingsidee der Sozialdemokraten: der Planung, Verwaltung und Sozialisierung. Für sie hatte die föderalistische Renaissance etwas Restaurativ-Konservatives.
Noch allgemeiner und verbreiteter war die Überzeugung, dass die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges, die Bewältigung der ungeheuren Not, ein Wiederaufbau nur zentral möglich sei. Und schliesslich, das wichtigste, der demokratische Anspruch war nationaler Anspruch, das Gesamtvolk war der Souverän, und seine Gesamtrepräsentanz sollte ungebrochen das letzte Wort in den entscheidenden politischen Fragen - der Verfassung, der Regierungsbildung, der Gesetzgebung - haben. Solche Tendenzen und die darauf fussende Distanz, ja dass Misstrauen gegenüber dem establishment der neuen Länder spielte auch innerhalb der CDU eine wichtige Rolle, so bei Jakob Kaiser, in gewisser Weise auch bei Adenauer. Es gab im Nachkriegsdeutschland eine Föderalismusdebatte, eine Föderalismusrenaissance und starke Tendenzen zu einem föderalistischen Staatsaufbau. Aber angesichts der Gegenkräfte darf man sagen, dass ohne die Vorgaben der Besatzungsmächte und ohne das Insistieren der Amerikaner auf diesen Vorgaben, als der Parlamentarische Rat gerade in föderativen Fragen davon abgewichen war, die Struktur des neuen Staatswesens durchaus weniger föderalistisch geworden wäre, als das 1949 tatsächlich der Fall war. Der eigenständig deutsche Föderalismus freilich machte diese Vorgaben kompromissfähig und letzten Endes akzeptabel.
Bei der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik gab es zwei Konfliktpunkte, die für die Struktur der entstehenden Föderation von grosser Bedeutung waren. Da man von einer Organisation in Bund und Ländern ausging, war die Frage, wie die Länder an der Willensbildung des Bundes mitwirken sollten. Das betraf einmal die Natur einer Länderkammer, die Alternative hiess Senat oder Bundesrat. Ein Senat hätte die Bevölkerung der Länder direkt oder indirekt (und proportional) vertreten, ein Bundesrat die Regierungen der Länder. Die Senatslösung galt ihren Anhängern als demokratischer und als weniger bürokratisch (ein Bundesrat werde das Organ der Länderbürokratien), sie war zweifellos unitarischer und hätte unitarisierend gewirkt, die Bundesratslösung war föderalistischer. Diese Lösung hat sich - auch gegenüber Kompromissversuchen, wie einer Teilung des Senats in Regierungs- und Volksvertreter - zuletzt mit Hilfe der Sozialdemokraten durchgesetzt. In der zweiten Konfliktfrage, nämlich welches Gewicht diesem Bundesrat gegenüber dem Parlament, dem Bundestag zukommen sollte, hat sich dagegen die schärfer föderalistische Lösung: gleiches Gewicht für die Ländervertretung, nicht durchgesetzt. Im Konfliktfall kann das Parlament in einer Reihe von Fällen ein Veto des Bundesrates mit absoluter Mehrheit überstimmen.
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Das Ergebnis: Die Länder haben nach dem Bonner Grundgesetz eine selbständige Existenz mit eigener Gesetzgebungskompetenz und eigener Verwaltung, die allgemeine Verwaltung (und Polizei) liegt bei ihnen. Sie wirken an der Gesetzgebung des Bundes und an der Durchführung der Gesetze, dem Erlass von Verordnungen über den Bundesrat mit, der Bundesrat ist sozusagen das föderative Bundesorgan schlechthin und er besitzt eine relativ starke Stellung - verglichen etwa mit dem Reichsrat der Weimarer Republik. Wie die Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern aufgeteilt ist, so auch die Finanz- und Steuerhoheit. Es gibt Länder - und es gibt Bundessteuern, und vor allem gibt es gemeinsame Steuern, in die sich Bund und Länder in einem jeweils auszuhandelnden Verhältnis teilen. Weder sind die Länder Kostgänger des Bundes wie in der Weimarer Zeit, noch ist der Bund Kostgänger der Länder wie in der Bismarckzeit. Zwischen ‘armen’ und ‘reichen’ Ländern gibt es einen zentral organisierten Finanzausgleich. So viel in aller Kürze zur Ausgangssituation, zu den Normen des Grundgesetzes. Was das praktisch bedeutet, wie dieser Föderalismus funktioniert, lässt sich im historischen Zusammenhang besser als durch eine juristische oder politikwissenschaftliche Analyse, durch einen Blick auf die Entwicklung des bundesdeutschen Föderalismus in den letzten dreissig Jahren, auf das Verhältnis von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit dartun.
1. Die Bundesrepublik ist seit 1949 unitarischer geworden. Die Gesetzgebung hat sich immer mehr, und anders als die Verfassungsgeber wohl meinten, auf den Bund verlagert. Der Bund hat seine Kompetenzen in Sachen der sogenannten konkurrierenden Gesetzgebung, wo auch die Länder tätig werden können, voll ausgeschöpft, ja über sogenannte Rahmengesetze noch ausgedehnt. Die Justizhoheit der Länder ist durch die Gesetzgebung des Bundes auf die Justizverwaltungshoheit beschränkt. Auch die Verwaltung ist stärker unitarisiert worden, indem Verfahren, Organisationsfragen, das Beamtenrecht durch Bundesgesetze und Verordnungen, durch ‘Rahmen’-bestimmungen und durch Finanzmassnahmen geregelt worden sind. Erziehung, Polizei und Kommunalwesen sind die originären Aufgaben der Länder geblieben. Im ganzen: Die staatlichen Aufgaben haben sich stärker als 1949 angenommen beim Bund konzentriert, der politische Inhalt und das politische Gewicht der Länderkompetenz ist geringer geworden. Das hat zwei Hauptursachen. Zum einen, die Aufgaben des modernen Staates, seien sie ihm zugewachsen, seien sie selbst gesetzt, sind in sehr vielen Bereichen ihrer Natur nach nicht im Bereich von Gliedstaaten (Ländern) zu erfüllen, sie erfordern zentrale Lösungen. Und diese allgemeine Tendenz war in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit besonders wirksam, man denke an die Regelung der Kriegsfolgen, Kriegsopferversorgung und den Ausgleich der Schäden und Verluste (‘Lastenausgleich’) zum Beispiel die nur zentral zu bewerkstelligen waren. Dazu gehört etwa die Aussenpolitik im weitesten Sinn: Wiedergutmachung ge- | |
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genüber Israel, Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft, Entwicklungshilfe. Dazu gehört die Verteidigungspolitik und die Zugehörigkeit zur NATO. Dazu gehören die Notwendigkeiten, der modernen
Technik gerecht zu werden, etwa im Verkehrswesen, gehört die moderne Wirtschafts- und Konjunkturpolitik mit ihren Steuerungs- und Planungsinstrumenten. Dazu gehört vor allem schliesslich die Verteidigungs- und Sozialpolitik der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Konsolidierung und der Ausbau des Sozialstaates (das Grundgesetz gebietet, die ‘Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse’ zwischen der Ländern zu wahren). All das hat eine ungeheuer zentralisierende, unitarisierende, egalisierende Wirkung. Die Aufgaben konzentrieren sich - mehr als man je 1949 vorausgesehen hat - beim Bund und damit natürlich Finanzvolumen, Bürokratie und politisches Gewicht.
Wenn ich als erste Ursache dafür die Wandlungen der Staatsaufgaben in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nenne, so ist das eine Tendenz, die in allen modernen Gesellschaften anzutreffen ist. Die andere Ursache ist spezifisch deutsch und hängt mit der Geschichte und Art der Föderation in Deutschland zusammen. Der Sinn des Reichsföderalismus von 1871 war es gewesen, so hat ein berühmter Staatsrechtslehrer, Rudolf Smend, gesagt, dass die Einzelstaaten ‘sich mit der Irrationalität ihrer historischen Eigenart im Leben des Reiches zur Geltung bringen sollten’. Der Bundesstaat von 1871 sollte diese Einzelstaaten, echte gewesene Staaten mit unterschiedlichen Traditionen, Institutionen, ökonomisch-sozialen Strukturen und unterschiedlicher politischer Kultur, erhalten und in den neuen Gesamtstaat integrieren. Diese Voraussetzungen des älteren Föderalismus, Differenz der Gliedstaaten, Notwendigkeit der Integration, sind in der Bundesrepublik nicht oder kaum mehr gegeben. Die Länder sind - mit Ausnahme Bayerns und der Stadtstaaten - nicht historisch, sondern künstlich, ihre Unterschiedlichkeit ist durch Flüchtlinge und generelle Mobilität relativiert worden. Im Grundgesetz gibt es einen Artikel über die Neugliederung des Staatsgebietes, über eine Revision der Ländereinteilung (angesichts der Künstlichkeit 1949 eine ganz selbstverständliche Bestimmung). Da heisst es, das Bundesgebiet sei ‘unter Berücksichtigung’ - erstens - ‘der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge’, und zweitens ‘der wirtschaftlichen Zweckmässigkeit und des sozialen Gefüges neuzugliedern. Die Neugliederung soll Länder schaffen’ (!), ‘die nach Grösse und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben
wirksam erfüllen können’. Nicht Tradition und historische Individualität mehr sind - so sehr sie berücksichtigt werden sollen - primär, wie könnten sie es auch sein, vom Gang der Geschichte selbst zerstört. Primär wird die Funktionsfähigkeit. Der traditionale Föderalismus tendiert, so können wir vorläufig sagen, dahin, sich in einen funktionalen Föderalismus zu verwandeln. Weil die historische Differenz unterschiedlicher Individualitäten in
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der Bundesrepublik kaum mehr oder nur noch schwach gegeben war, ist die von den Staatsaufgaben vorangetriebene unitarisierende Entwicklung der Bundesrepublik so rasch und so reibungslos vor sich gegangen. Das ist freilich nur die eine Seite der Sache. Institutionell ist der Föderalismus mitnichten ausgehöhlt oder auch nur geschwächt worden, er hat sich nur verändert. Und als ein Stück politischer Kultur ist er - trotz Unitarisierung und Egalisierung der ‘Lebensverhältnisse’ - tiefer eingewurzelt als je 1949 vorauszusagen gewesen wäre.
2. Institutionell zunächst hat sich der Föderalismus, wenn auch mit verändertem Charakter, behauptet. Der Verlust an Landesgewalt, an Eigenkompetenz der Länder ist ausgeglichen worden durch die Stärkung des Bundesrats, als der Mitbestimmungskompetenz der Länder im Bund. Der Bundesrat hat seine Zustimmung bei der Gesetzgebung stark ausgeweitet, und zwar zum Teil gerade infolge der Massnahmen, die die Länderkompetenz einschränkten: weil die Gesetzgebung immer detaillierter geworden ist, immer mehr über Verwaltung und Durchführung enthält, bedürfen solche Gesetze der Zustimmung des Bundesrats. Der Bundesrat ist infolgedessen für eine Bundesregierung, die wie bisher zumeist über eine sichere Mehrheit im Parlament verfügt, zum wichtigsten institutionellen Kontrahenten in der Innenpolitik geworden. Dabei haben sich Charakter und Funktion des Bundesrates verändert. Natürlich ist der Bundesrat eine Vertretung der Länder und Länderinteressen. Aber das ist es nicht, was die Realität prägt. Sie wird vielmehr davon geprägt, dass im Bundesrat einerseits der Sach- und Fachverstand der (Länder)Bürokratie zur Geltung kommt, un zwar nicht nur gegenüber der Bundesbürokratie, sondern auch und gerade gegenüber dem Parlament und den Parteien. Das kann man gerade dann beobachten, wenn in Bundestag und Bundesrat dieselbe parteipolitische Mehrheit besteht. Zum anderen kann im Bundesrat eine andere Parteienkonstellation, normalerweise also die Opposition, zur Geltung kommen, die Mehrheit gewinnen. Das ist zum Beispiel gegenwärtig der Fall, und bei den schmalen Mehrheiten, mit denen moderne Demokratien heute gemeinhin regiert werden, den relativ stabilen parteipolitischparlamentarischen Verhältnissen in der Bundesrepublik, der vierjährigen Perioden von Parlament und eben auch
Regierung, ist das keineswegs unwahrscheinlich. Für den Wähler kann der Länderparlamentarismus wegen seiner Bedeutung für die Zusammensetzung des Bundesrats zu einer bundespolitischen Korrekturinstanz (jenseits aller Landespolitik) sich verwandeln. Darum können Landtagswahlen als kleine Bundestagswahlen behandelt oder aufgefasst werden und ein Teil der Wähler tut das sicherlich. Man kann eine Tendenz beobachten, in den Landtagswahlen die Bundesopposition zu stärken. Hier kann man die Veränderung von Wesen und Funktion des Föderalismus besonders deutlich sehen. Der Bundesrat kann daher zu einem Organ mit anderer politischer Mehrheit werden als sie im Parlament (und der Regierung) herrscht. Das führt nicht zur Blockade der Regie- | |
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rung - denn letzten Endes ist sie im Verein mit der Bundestagsmehrheit in der Mehrheit der relevanten Fragen überlegen, wohl aber zu einer Hemmung der Regierung, zu einer Kurskorrektur zur Mitte hin, zu einer grösseren Kompromissbereitschaft. Es ergibt sich, dass der Bundesrat in beiden Fällen in erster Linie zu einem Organ der Gewaltenteilung wird. Das ist umso wichtiger, als die Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament im modernen Parteienstaat dann, wenn es feste Mehrheiten oder Koalitionen gibt (wie in der Bundesrepublik) wenig effektiv ist. Unter diesen Umständen ist der Bundesrat nicht in erster Linie Ländervertretung, sondern eine anders zusammengesetzte demokratisch legitimierte zentrale Gewalt, die Parlament und Regierung gegenübersteht und wie sonst nur noch das Verfassungsgericht das Prinzip der cheques and balances verkörpert. Der Föderalismus ist in dieser Hinsicht heute weniger durch die Zuordnung von historisch individuellen Gliedstaaten und Gesamtstaat charakterisiert, als durch eine zweite Organisation und Repräsentation gesamtstaatlicher gesellschaftlicher
Kräfte (Parteien und Bürokratien), die zu einer horizontalen Gewaltenteilung führt. Dieser Föderalismus sichert unterschiedliche selbständige Entscheidungszentren, Institutionen, Repräsentationen, und verstärkt dadurch Kontroll- und Korrekturfunktion einerseits, ein gewisses Mass von Nötigung zu Kompromiss- und Konsensbildung andererseits.
3. Es wäre nun aber ganz falsch, aus der Einbusse, die die Länder in ihrer politischen Gestaltungsmacht erfahren haben, und aus der eben beschriebenen Transformation des Föderalismus zu einer neuen Form zentraler Gewaltenteilung zu schliessen, dass die ursprüngliche Basis des Föderalismus, die Gliedstaaten, die Länder, keine politische Wirklichkeit und kein Gewicht mehr besässen oder auch nur an Wirklichkeit und Gewicht verloren hätten. Auch das zweite Lebensprinzip des Föderalismus - neben dem der Einigung und Einheit - das Prinzip der relativen Selbständigkeit der Gliedstaaten besteht, wenn auch wiederum in veränderter Gestalt, fort. Gerade in dieser Hinsicht ist der Föderalismus als ein Stück politischer Kultur in der Bundesrepublik fest eingewurzelt. Die Länder von 1948 mögen gegenüber den historisch individualisierten Staaten des Reiches einen einigermassen fiktiven Charakter gehabt haben. In den letzten dreissig Jahren sind die Länder zu lebendigen Realitäten geworden, auch und gerade im Bewusstsein der Bevölkerung. Alle Pläne zu einer territorialen Neuordnung des Bundesgebietes sind, mit Ausnahme der Bildung des Staates Baden-Württemberg durch Wiedervereinigung Südbadens und Südwürttembergs mit ihren nun vereinigten nördlichen Hauptländern, daran gescheitert. Die Ministerpräsidenten der Länder rücken, wie es im politischen Jargon scherzhaft heisst, in die Rolle von ‘Landesvätern’, die Länder sind - wie wir aus Meinungsumfragen wissen - trotz des nationalen Fernsehens dem Wähler nicht ferngerückt, sie sind als politischer Raum von einiger Nähe und Überschaubarkeit akzeptiert. Die fortdauernde Kompetenz
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der Länder in den wichtigsten und grössten Bereichen der Personalpolitik sichert ihnen erhebliche Patronagemöglichkeiten und erheblichen Einfluss auf den Stil und den politischen Kurs der Bürokratie. Die Kompetenz der Länder für Schule und Erziehung hat sich in einem Jahrzehnt, in dem die härteste Auseinandersetzung zwischen Progressiven und Liberalen um die Schule, die Erziehung des ‘neuen Menschen’ und um die Politisierung der Hochschulen tobt, als besonders wichtig und wirkmächtig erwiesen.
Neben der Tendenz, Landtagswahlen als Bundestagswahlen zu betrachten, gibt es sehr wohl die gegenteilige Tendenz, sie von Bundestagswahlen zu unterscheiden. Die politische Selbständigkeit der Länder hat wichtige Rückwirkungen auf die politische Gesamtsituation der Bundesrepublik. Die Tatsache, dass die Parteiorganisationen nach Ländern föderalisiert sind, dämmt die Gefahren des bürokratischen Zentralismus, der Immobilität und der Uniformität ein und begünstigt Pluralität und Beweglichkeit, in gewisser Weise auch Liberalität innerhalb der Parteien. Die relative Selbständigkeit der Länder führt dazu, dass die Opposition im Bunde dennoch ständig politische Ämter innehat; sie hat die Möglichkeit zur Patronage und Klientelbildung, sie kann einen Teil ihres Führungspersonals bewähren, ihre Frustration, zumal wenn die Oppositionsrolle lange andauert, wird erheblich gemindert. Die Tatsache, dass es in der fast zwanzig jährigen Regierungszeit der CDU nach 1949 ständig herausragende sozialdemokratische Ministerpräsidenten gegeben hat, hat die Stabilität der Bundesrepublik wesentlich gestärkt. Zugleich wird durch diese Möglichkeit ein höheres Mass von Kooperation zwischen Regierungspartei und Opposition erzwungen, als das in zentralistischen Staaten möglich ist.
4. Schliesslich: Natürlich bringt die föderalistisch gewaltenteilige Struktur auch in der bundesrepublikanischen Form Schwierigkeiten, Kooperations- und Koordinationsschwierigkeiten mit sich. Daraus hat sich etwas entwickelt, was man jetzt als kooperativen Föderalismus bezeichnet. Wo die Kompetenz der Länder gilt, hat sich zwischen ihnen, um die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu gewährleisten, eine institutionelle Kooperation entwickelt. Sie schliessen Staatsverträge ab, schon 1960 gab es 339 solche Verträge, und sie haben Konferenzen der Ressortminister, die - wie vor allem etwa die Kultusminister - gemeinsame Beschlüsse in Kraft setzen. Zwischen der Ebene Land und der Ebene Bund entsteht eine, so in der Verfassung nicht vorgesehene dritte Ebene, eben die der Länderkooperation. Und zwischen Bund und Ländern hat sich wiederum eine zunächst informelle, später institutionalisierte Kooperation dort ergeben, wo die Kompetenzen ineinandergreifen und die Frage nach der Finanzverteilung sich stellt. Die von der Verfassung intendierte starre Finanzverteilung hat sich angesichts einer dynamischen Entwicklung nicht bewährt und ist durch ein bewegliches System, in harten Verhandlungen umstrittenen immer neu herzustellenden Ausgleichslö- | |
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sungen ersetzt worden. Gemeinsam von Bund und Ländern zu finanzierende Dinge (wie zum Beispiel der Hochschulausbau) sind in die Verfassung als ‘Gemeinschaftsaufgaben’ eingegangen.
Natürlich gibt es weiterhin Streit um den Föderalismus. Die jeweilige Bundesregierung neigt im allgemeinen dazu, die Verfassung extensiv zu Gunsten des Bundes auszulegen, um das Regieren zu erleichtern. Sozialdemokraten und Liberale sind zentralistischer als die CDU/CSU, weil mehr Planung und mehr Egalisierung von Lebenschancen mehr Zentralisierung erfordert. Journalisten und Intellektuelle greifen besonders gern den Föderalismus im Bildungswesen an, weil sie im Namen einer mobilen und egalitären Gesellschaft überall gleichartige Schulsysteme, ja Inhalte wollen; das spöttische Reden vom ‘Postkutschenföderalismus’ zeigt an, dass es eine Tendenz zur Identifizierung von ‘modern’ und zentralistisch-unitarisch gibt. Die deutschen Länder sind, von Bayern vielleicht abgesehen, sozial, ökonomisch, kulturell oder im Lebensstil nicht wesentlich unterschieden, sie sind relativ homogen. Trotzdem: der Föderalismus, die Tatsache der Existenz der Länder und die Rolle in der politischen Willensbildung und der Gewaltenteilung ist im allgemeinen anerkannt, unbestritten. Der Föderalismus hat sich nicht als institutionell juristisches System durchgesetzt, er ist auch eine lebendige - nicht enthusiasmierende, aber selbstverständliche Realität geworden. Die Meinung der grossen Mehrheit in Deutschland heute ist, das wissen wir aus Meinungsumfragen, nicht mehr zentralistisch, sie ist - obwohl das Funktionieren des Föderalismus, des Bundesrats zum Beispiel schwer begreiflich ist - proföderalistisch, gemässigt proföderalistisch. Die relative Stabilität, der relative Erfolg der Bundesrepublik kommt auch dem föderalistischen System zugute.
Was lässt sich über die Zukunft des Föderalismus in Deutschland, in der Bundesrepublik sagen? Auf der einen Seite nehmen die Herausforderungen des Föderalismus zu. Europa, die instabile Balance im Ost-West-Verhältnis, der Nord-Süd-Konflikt, das Atomzeitalter, das verweist auf grossräumige Politik; weder der Nationalstaat noch gar der Partikularstaat sind mehr selbständige politische Handlungseinheiten. Hier entsteht ein anderer, neuer Typ von Föderalismus, der zwischen- und übernationale Föderalismus, der schon lange nicht nur Staaten, sondern Administrationen, Parteien, Verbände, Wirtschaftsunternehmen und Terroristen erfasst. Das scheint die Bedeutung des innerstaatlichen Föderalismus zu verringern. Die gesellschaftliche Mobilität, die Notwendigkeit wirtschaftlicher und technischer Planung und Steuerung, die Tendenz zur Effizienz, der Sozialstaat, die Egalisierung der Gesellschaft - auch das scheint an der Substanz des Föderalismus zu zehren. Und keine föderalistische Nostalgie, keine wie immer geartete Politik kann diese weltgeschichtliche Lage ändern. Aber: Zugleich ist die Erfahrung mit jeder Zentralisierung, jeder Verlagerung von Entscheidungen auf ‘höhere’ Ebenen, mit dem Prinzip der Effizienz immer deutlicher und bedrän- | |
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gender geworden: die Erfahrung von Bürokratie, Anonymität, Entfremdung, Heimatlosigkeit, Indentitätsverlust, Instabilität, Nicht-funktionieren. Der Zug zum Nahen und Überschaubaren, zur Identifikation, Identität und Stabilität, der Zug zur wirklichen (erfahrbaren) Partizipation ist eine Antwort auf jene kritischen Erfahrungen. Und politisch bedeutet das eine starke Tendenz zum gegliederten, erfahrbaren politischen Handlungsraum, zum Handlungsraum auch, der noch erfahrbare Geschichte bietet. Der Föderalismus lebt von dieser
Grundwelle, sie begründet trotz des Gewichtes des gegenteiligen Trends seine Vitalität, seine Funktionsgerechtigkeit. Der Föderalismus hat unter diesem Aspekt in der Bundesrepublik durchaus Zukunft. Zu diesem universalen Aspekt kommen besondere Aspekte der Bundesrepublik. Diese Republik funktioniert einstweilen relativ gut, das Bestehende, und also auch der Föderalismus, das funktioniert, hat die Vermutung für sich, gut zu sein (das ist sozusagen ein eingeborener Konservativismus), das föderalistische System hat sich in der Bundesrepublik - erkennbar - neuen Lagen bisher relativ gut angepasst. Das verbreitete instinktive Bedürfnis nach Machtverteilung, nach Gewaltenteilung wird vom Föderalismus heute besonders gut erfüllt. Niemand weiss natürlich, ob die föderative Ordnung auch in einer existentiellen Krise der Republik ihre Selbstverständlichkeit behalten würde. Aber rebus sic stantibus erwarte ich aus den erwähnten Gründen, dass der Föderalismus in der Bundesrepublik auch in Zukunft dauern und funktionieren wird, dass er neue Situationen bewältigt und dass er mehr sein wird als ein bürokratisches Organisationsprinzip.
Der deutsche Föderalismus hat über die Epochen hin eine jeweils andere Gestalt angenommen, andere Funktionen erfüllt, andere Probleme gehabt. Das gilt erst recht für die Zeit seit 1945. Aber auch der Föderalismus der Bundesrepublik ist nicht ein Kunstprodukt machtpolitischer oder politikwissenschaftlicher Planung, sondern ein Ergebnis seiner eigenen Geschichte.
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Zur literatur
Da es sich um ein Grundthema der deutschen Geschichte handelt, war es in allen bedeutenderen Werken zur deutschen Geschichte behandelt. Im folgenden wurden mir einige wenige, zur Orientierung nützliche allgemeine und spezifische Urkunden genannt.
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1. Allgemein und epochenübergreifend
R. Koselleck, ‘Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat’, in Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, I (Stuttgart, 1972) 583-671: eine umfassende und eindringliche Geschichte der genannten Begriffe im Zusammenhang mit der Geschichte der föderalen Realitäten.
Ernst Deuerlein, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips (Bonn, 1972) behandelt neben Theorien auch die Geschichte des Föderalismus in
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Deutschland im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert; das Buch, aus dem Nachlass herausgegeben, ist freilich mehr eine reiche Materialsammlung als eine schlüssige Analyse; umfassende Bibliographie, die freilich Wichtiges und Unwichtiges ohne Unterscheidung nebeneinander stellt.
F. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Viele Auflagen; zuletzt Stuttgart, 1963).
E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (5 Bände (bis 1919); Stuttgart, 1957-1978). Grundlegend und umfassend, mit genauer Darstellung der Fakten und scharfsinniger problembezogener Interpretation; reiche Literatur. Dazu vom selben Verfasser: Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee (Stuttgart, 1965).
Elinor von Puttkamer, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648 (Göttingen, 1955) eine Quellensammlung, vornehmlich staatsrechtlich.
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Zu Abschnitt 1 - 3: ausser Koselleck und Hartung:
F. Hartung, ‘Der ständische Föderalismus der Neuzeit als Vorläufer des Bundesstaates’, in Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, XVIII - XIX (1960-1961) 347 ff.; K.O. von Aretin, ed., Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen (Wiesbaden, 1975).
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Zu Abschnitt 4 und 5: ausser Huber:
H. Goldschmidt, Der deutsche Reichsgedanke. Unitarismus, Föderalismus, Dualismus 1860-1932 (Leipzig, 1933); idem, Das Reich und Preussen im Kampf um die Führung von Bismarck bis 1918 (Berlin, 1931); R. Dietrich, Föderalismus oder Hegemonialstaat. Studien zur Bismarck'schen Reichsverfassung (1953); M. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich (Düsseldorf, 1973).
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Zu Abschnitt 6: ausser Huber:
W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Neuauflage, München 1964); Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, I (1919-1930) (Berlin, 1963); Martin Broszat, Der Staat Hitlers (München, 1969) (Kapitel 4 zusammenfassend und grundlegend).
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Zu Abschnitt 7:
H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit aussenpolitischer Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft, 1945-1949 (Berlin, 1960); Th. Vogelsang, Das geteilte Deutschland (3. Auflage, München, 1969).
Marie E. Foelz-Schroeter, Föderalistische Politik und nationale Repräsentation. Westdeutsche Länderregierungen, zonale Bürokratien und politische Parteien im Widerstreit (Stuttgart, 1974).
H. Laufer, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland (München, 1973).
Roger H. Wells, The States in West German Federalism. A Study of Federal-State Relations, 1949-1960 (New York, 1961); Neville Johnson, Government in the Federal Republic of Germany (Oxford, 1973); A. Köttgen, ‘Föderalismus und Dezentralisation in der Bundesrepublik Deutschland’, in E. Wolff, ed., Deutsche Landesreferate zum 4. Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung in Paris (Düsseldorf, 1953); K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat (Karlsruhe, 1962).
Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, 21 (Berlin, 1964); R. Kunze, Kooperativer Föderalismus in der Bundesrepublik (Stuttgart, 1968).
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P. Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen (München, 1968).
W. Kewenig, ‘Kooperativer Föderalismus und bundesstaatliche Ordnung’, Archiv für öffentliches Recht, XCIII (1968) 433-84.
Jochen A. Frowein und Ingo v. Münch, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat (Berlin, 1973); Fritz W. Scharf, Bernd Reissert und Fritz Schnabel, Politikverflechtung - Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik (Kronberg, Taunus, 1976); Friedrich Karl Fromme, Gesetzgebung im Widerstreit. Wer beherrscht den Bundesrat? Die Kontroverse 1969-1976 (Stuttgart, 1976).
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