Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden. Deel 88
(1973)– [tijdschrift] Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap– Auteursrechtelijk beschermd
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1. Huizinga, Lamprecht und die Deutsche Geschichtsphilosophie: Huizingas Groninger Antrittsvorlesung von 1905
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zur Wiederbegegnung mit einem großen Mann und seinem großen Werk veranlaßt haben. Auf den ersten Blick erscheint uns eine Beschäftigung mit Huizinga, dem noch viele von uns persönlich begegnet sind, mehr als eine Feierstunde des Vergangenen denn als Wegweisung für die Zukunft. Ich entsinne mich eines Vortrages in einem Hörsaal der Berliner Universität am 29. Januar 1933, am Vorabend jenes 30. Januar 1933, den wir Deutschen niemals wieder ungeschehen machen können. Der weltberühmte Gast aus den Niederlanden sprach über ‘Burgund. Eine Krise des romanisch-germanischen Verhältnisses’Ga naar voetnoot3. und versetzte uns ganz in seine Forschungswelt, in eines der geistigen Zentren seines eigenen wissenschaftlichen Lebens. Huizinga konnte begeistern, weil ihm Geschichte selbst Freude machte. Er bekannte sich nicht zum zergliedernden, geradezu auflösenden Moment der Untersuchungen, die nach sozialen Ursachen und politischen Folgen, nach den die Gegenwart formenden Zuständen Ausschau halten, sondern hielt fest an der durch den Geist einer Persönlichkeit gehenden und die Gegenwart wie die Zukunft mitempfindenden und mitgestaltenden Lebenseinheit. Der mitreißende Vortrag machte den eigenen Entschluß, Geschichte als Studienfach gewählt zu haben, zu einer freudeverheißenden Entscheidung. Seitdem hat sich die Welt verändert. Die intellektuelle Jugend hinterfragt und zerfragt das Werk nach seinen Bestandteilen für eine mögliche Veränderung der Gesellschaft und für die Gestaltung der Zukunft. Vom ästhetischen Genuß einer geschichtlichen Betrachtung ist wohl kaum etwas geblieben. Die sozialökonomische Begründung triumphiert. Die Deutung der kulturell-geistigen Vergangenheit wird als Verschleierung der wahren, völlig negativ gesehenen Verhältnisse angeprangert. So ist uns Huizinga ferngerückt, weil er einen Teil des Lebens sah und gestaltete, die gegenwärtig herrschende Geschichtsschreibung aber einen anderen Teil sieht und in den Mittelpunkt rückt. Aber Huizinga ist gleichwohl nicht mit geschlossenen Augen an dieser seine Zeit bereits mehrfach berührenden Erscheinung der über Gegenwart und Zukunft reflektierenden, nach Gesetzen suchenden und Utopien verwirklichen wollenden Geschichtstendenz vorübergegangen.Ga naar voetnoot4. Das lehrt schon seine öffentliche Vorle- | |
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sung, die er bei der Übernahme des Lehrstuhls für Geschichte in Groningen am 4. November 1905 hielt. (VII, 3-28) Sie steht im Mittelpunkt meines Vortrages, der im ersten Teil den Inhalt dieser Vorlesung umreißen wird, sodann in einem zweiten Teil die damalige geschichtstheoretische Situation in deutscher Sicht berührt, in einem dritten Abschnitt die Weiterbeschäftigung Huizingas mit dem Themenkreis mehr andeutet als ausführt und eine kurze Behandlung der weiteren Entwicklung dieser Fragen bis zur Gegenwartsproblematik anschließt.
Huizinga war nach eigener Erzählung ‘durch einen wahren Salto mortale auf ein Universitätskatheder geführt’ worden.Ga naar voetnoot5. Als er ‘plötzlich vor der Aufgabe stand, eine akademische Antrittsrede zu verfassen’, kam er auf einen Gedanken zurück, der ihn seit verschiedenen Jahren beschäftigte, ‘daß die Wahrnehmung des Historikers sich am besten umschreiben lasse als eine Sicht, besser vielleicht als eine Evokation von Bildern, wobei zunächst völlig offen bleiben kann, was dabei unter “Bildern” zu verstehen sei’. So war das Thema gegeben, das er 1942 in seinen Erinnerungen schlicht ‘Geschichte als Bilder’ nennt. Ohne bisherige Beschäftigung mit den Fragen der Geschichtstheorie, ‘mit Ratschlägen und Hinweisen Heymans’,Ga naar voetnoot6. seines künftigen Kollegen für Philosophie, wirklich aufs beste ausgestattet, war Huizinga ‘bald mitten im Stoff drin, völlig gefesselt von Einsichten, die mir ganz neu waren und mir jetzt zugänglich wurden’.Ga naar voetnoot7. | |
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Auf diesem Hintergrund ist seine Bemerkung am Beginn der Vorlesung zu sehen, daß eine geschichtstheoretische Betrachtung nicht an den Anfang einer akademischen Laufbahn gehöre, sondern an ihr Ende. Aber Huizinga fühlt sich doch gedrängt, den Weg aufzuzeigen, den er in Zukunft beschreiten will, und letztlich ein Bekenntnis abzulegen, indem er gerade ‘Über den ästhetischen Bestandteil historischer Vorstellungen’ spricht. Zudem sei der Streit der Meinungen über die Theorie der historischen Wissenschaft gegenwärtig in vollem Gange, ein Streit, der seine Ursache in dem erstaunlichen Aufstieg der Naturwissenschaften im XIX. Jahrhundert habe, in dem dadurch entstandenen Wissenschaftsverständnis, das auch die Historie zu beherrschen versucht. Wenn man die naturwissenschaftliche Methode als die allein wissenschaftliche ansprechen will, muß man auch die Geschichtswissenschaft zur exakten Wissenschaft machen. Das haben, so meint Huizinga, die Gesellschaftswissenschaftler schon seit Comte und Spencer unternommen. Die Soziologen sind energisch dabei, das ganze historische Feld für sich in Beschlag zu nehmen und nach ihren Methoden und Fragestellungen zu bearbeiten. Also nicht nur die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft, sondern auch die mit der Soziologie stellt eine Aufgabe dar, die der Zeitgeist diktiert. Der Einfluß der Soziologie zeige sich in dreifacher Richtung. Sie stellt allgemeine Kategorien auf, um die gesellschaftlichen Ereignisse oder Zustände zu gruppieren; sie stellt für den Geschichtsforscher die Alternative nach dem Interesse für Person oder Masse, und schließlich zwingt sie zur Auseinandersetzung mit dem mächtigen Problem, ob das historische Geschehen durch die Handlungen der Persönlichkeiten oder ob die Persönlichkeit durch die Umgebung und die Zeitumstände bestimmt wird. Dahinter steht letztlich die Aufstellung von historischen Gesetzen, stehen auch die Kulturstufen und Entwicklungsreihen, wie sie Karl Lamprechts vielbändige Deutsche Geschichte zeigt, die seit 1891 erschien.Ga naar voetnoot8. | |
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Huizinga will Lamprechts Wollen nicht generell und im voraus nur auf Grund seiner Deutschen Geschichte verurteilen. Doch im wesentlichen ist für ihn die von jenem angeführte neue Richtung bereits durch die geisteswissenschaftlichen Theorien der unmittelbar aktuellen Philosophie der Deutschen Dilthey,Ga naar voetnoot9. Simmel,Ga naar voetnoot10. Windelband,Ga naar voetnoot11. RickertGa naar voetnoot12. und SprangerGa naar voetnoot13. besiegt. Zwei Überzeugungen gehen aus dieser Diskussion hervor. Erstens kann das historische Leben niemals in der Form von allgemeinen Begriffen erkannt werden, die Individualisierung muß die Hauptarbeit der Geschichtsforschung auch auf dem Wege zur Erkenntnis des Allgemeingültigen bleiben. Und zweitens schadet jede Anwendung einer systematischen | |
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Richtschnur dem universalen Charakter der historischen Wissenschaft. Die Ansprüche der Ökonomie, der Soziologie und der Anthropologie, in ihren historischen Untersuchungen mit der Methode einer isolierenden Abstraktion an die Stelle der Geschichte zu treten, werden von Huizinga kurz abgewehrt. Er erkennt zwar das ökonomische Warum als selbstverständliche erste Frage an, meint aber dennoch, daß die reine historische Auffassung davon unabhängig bleibe. Er bestreitet auch keineswegs den Wert von Regeln, Typen und Kategorien der mehr systematisch arbeitenden Geisteswissenschaften und wendet sich daher gegen Belows Ansicht, wonach es Aufgabe des Historikers sei, allen Konstruktionen der Systematiker zu widersprechen.Ga naar voetnoot14. Huizinga will Konstruktionen gebrauchen, sofern sie sich als Leitfaden zur Gruppierung von Fakten und Zusammenhängen nützlich erweisen wie beispielsweise Büchers Wirtschaftsstufen.Ga naar voetnoot15. Lamprechts berühmte Abfolge der Kulturzeitalter lehnt er vornehmlich deswegen ab, weil Lamprecht sie zum Dogma der Geschichtsschreibung erhoben hat. Dennoch habe er auch von ihnen im einzelnen gelernt. Huizinga aber will bei vollkommener Anerkennung des Wertes der systematisch ausgerichteten Prinzipien der Geschichtsforschung an erster Stelle die einzelnen Ereignisse untersuchen. Er vertritt gegenüber dem Gattungsprinzip das Individualitätsprinzip. Und er erörtert nun in Anknüpfung an Lamprecht das Verhältnis und die Beziehungen von Wissenschaft und Kunst, wobei er sich mit den Ansichten des damals führenden deutschen Geschichtsmethodologen BernheimGa naar voetnoot16. beschäftigt. Huizinga stimmt mit ihm darin überein, daß in der Geschichtswissenschaft und in der Kunst die Phantasie ein unentbehrlicher Faktor ist. Aber die Verwandtschaft zwischen Historie und Kunst liege tiefer, die Rolle der Phantasie sei bedeutsamer als Bernheim meint. Sie trete nicht erst beim Geschichtsschreiber auf, wenn er ‘zijn pen in den inktpot doopt’, sondern längst schon beim Geschichtsforscher. Sie formt das erste historische Bild. An dieser Stelle werden längere Sätze von Eduard Meyer, dem Berliner Althistoriker, und Spranger zitiert. Dazu bemerkt Huizinga ausdrücklich: Het zal niet de laatste maal zijn, dat ik hier de Duitsche geschiedenis-philosophen citeer, want het is mij er om te doen, de overeenstemming te doen opmerken van het | |
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inzicht, dat ik van een aesthetisch gezichtspunt meende te benaderen met de uitkomsten der kennistheorie.Ga naar voetnoot17.
Die Phantasie öffne zwar die Geschichte dem Dilettantismus, wenn sie nicht aus der vollen Tiefe des Geistes, sondern aus Mangel an Untersuchung und Kritik erwächst. Sie unterliege jedoch stets der Forderung nach strikter Wahrheit. Richtiger und tiefer werde daher in der deutschen Geschichtstheorie das ganze Problem unter dem Begriff ‘Darstellung’ erfaßt. Diese bedeutet bei Heinrich Rickert mehr als beschreibende Darlegung, nämlich den Anfang der historischen Geistestätigkeit und umschließt auch das Begreifen der Bedeutung und des Zusammenhanges der Fakten. Man kann dieser Tätigkeit des Geschichtsforschers nicht den wissenschaftlichen Charakter nehmen und sie zur Kunst stempeln. Jedes Erkennen der Wirklichkeit ist ‘nicht Abbilden sondern Umbilden, und zwar immer Vereinfachen’, wird Rickert auf Deutsch zitiert.Ga naar voetnoot18. Daher hat Georg Simmel in seinen Problemen der Geschichtsphilosophie (S.v) die Umbildung als die Aufgabe des Historikers dargestellt. Es handelt sich niemals um ein Fotografieren, sondern jederzeit um ein Ver-Bilden. Dieses Um- oder Verbilden sollte mit Hilfe logisch beschriebener Begriffe geschehen. Bestehen nun solche in logischem Sinne allgemeine, durch Abstraktion gewonnene Begriffe in der Historie? Nein. Man kann sie nur durch Analyse und Vergleich gewinnen. Für Huizinga legt aber der unauflösbare komplexe Zusammenhang des Ganzen hierzu unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg. Daher spricht er von historischen Begriffen nur im Sinne von Denkbildern, die dasjenige zusammenfassen, was von einer Wirklichkeit als wesentlicher Bestandteil erkennbar ist, um es anschaulich zu machen. Huizinga schließt sich dabei wiederum Rickert an, der an die Stelle der strengen Definitionen der Naturwissenschaft ‘die Ausgestaltung möglichst bestimmter individueller Anschauungen’Ga naar voetnoot19. in der Historie setzt. Die historische Begriffsbildung durch Ver-Bilden zeigt also ein sehr subjektives Moment. Naturwissenschaftliches kausales Erklären und historische Interpretation liegen auf verschiedenen Feldern. Und Huizinga beruft sich auf Spranger, für den ‘die Antizipation, die Verknüp- | |
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fungsgabe und das Ahnungsvermögen des Historikers’Ga naar voetnoot20. in einer Reihe mit den rätselhaftesten künstlerischen Intuitionen stehen. Nun wehrt sich Huizinga aber gerade dagegen, die Geschichte unter den Begriff ‘Kunst’ zu bringen und ihr damit die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Er wünschte sich ein anderes Wort für Kunst, zu allererst für das viel mißbrauchte ‘künstlerisch’. Um die ihm vorschwebende Form der Verwandtschaft von Geschichte und Kunst ganz deutlich zu machen, spricht er über den geistigen Schaffensprozeß: Lange bevor der Geschichtsschreiber ans Schreiben geht, lange bevor der Dichter seinen Geist in Maß und Reim spannt, arbeitet die innere Anlage, die sie verbindet. Es liegt nicht an der Form der Hervorbringung, sondern an der Art der Konzeption und an der Ergriffenheit.
Hierfür findet Huizinga in der deutschen Geschichtstheorie in Wilhelm WindelbandGa naar voetnoot21. einen Kronzeugen, der von dem Neubeleben des Gebildes der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit spricht und darin die Wurzel der Verwandtschaft des geschichtswissenschaftlichen Schaffens mit dem Ästhetischen sieht. Der Charakter einer historischen Begriffsbildung steht für Huizinga nicht nur im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen, sondern auch zur soziologischen Begriffsbildung. Geschichtliches ‘Verstehen’ und ‘Begreifen’ heißt mit Windelband und Rickert ‘Nachbilden’ und ‘Nachempfinden’. Die Frage: ‘Was kann man aber nacherleben und nachempfinden?’ beantwortet Huizinga selbst: ‘Nur das Leben von individuellen Menschen und nicht von Gruppen oder Klassen’. So schließt sich der Ring für den jungen Historiker. Die Bedeutung des Individuums wird durch dieses Verfahren der Begriffsbildung gestützt. Auch derjenige, der der historischen Persönlichkeit die freie Tat abspreche, müsse die methodischen Forderungen der Begriffsbildung anerkennen. Schließlich habe man Personen nötig, um Gruppenverschiedenheiten begreiflich zu machen. Und hier bekennt sich Huizinga ganz zu sich selbst: ‘Wat voor een voorstelling heb ik van een tijd, als ik daarin geen menschen zie bewegen! Welk een dorre geschiedenis, als ik enkel groepverschijnselen als belangrijk wil erkennen’, (VII, 15) wendet er sich gegen die Soziologie. In der einseitigen und kurzsichtigen Generalisierung des naturwissenschaftlichen Prinzips, einzelne Personen und Ereignisse lediglich als Nummern einer Materialsammlung zu betrachten, wird gleichsam die Datenbank des historischen Computers vorausgesehen, eine entsetzliche Vision für einen Huizinga! Nicht um Prozesse gehe es, sondern um den Inhalt menschlichen Handelns, das allein Interesse wecke. Huizinga kann sich beispielsweise eine Geschichte des Mönchswesens, | |
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der Benediktiner, der Minoriten nur vorstellen, wenn man die Geschichte des Franziskus selbst in den Mittelpunkt rückt und ihn als Menschen betrachtet, nicht nur als Vertreter seiner Gattung, Unterabteilung Klosterorden. Er weiß, daß unser historisches Wissen in stärkerem Maße als früher auf das Erkennen von Strömungen, Bewegungen und Entwicklungen aus ist, daß der Zeitgeist fordert, alle Spezialkenntnisse in einer Synthese zu vereinigen. Aber wenn wir in den Personen zugleich den Typ, die Geistesrichtung, die Zeit sehen, so heißt das doch nicht, daß uns die Person nur als Typus interessiert. In einem längeren Abschnitt beschäftigt sich Huizinga auch mit dem Nutzen der experimentellen Psychologie für die Geschichte und den Ansichten der Philosophen dazu. Er steht der neuen Wissenschaft im gegenwärtigen Gewande skeptisch gegenüber, worin er sich mit Rickert, Windelband, Dilthey, Simmel, aber auch Spranger einig weiß. Sprangers Glaube jedoch an die Möglichkeit, durch psychologische Typen der historischen Psychologie eines Tages einen systematischen Halt zu geben, ist für Huizinga eine Frage sehr ferner Zukunft. - Und doch hat Huizinga ein Menschenalter weiter neben den Sprangerschen Typus des homo oeconomicus den homo ludens gestellt. - Im Moment interessiert ihn in dieser Diskussion allein die Erkenntnis, daß der Geschichtsforscher in jedem Stadium seiner Geistestätigkeit, bei der Formung seiner Begriffe, bei der Interpretation der Quellen fortdauernd auf psychische Funktionen angewiesen ist, die viel weiter reichen und viel unbegreiflicher sind als reine logische Gedankenverbindungen. So kehrt Huizinga zu einer Revision des Terminus Kunst zurück. Unter ihr faßt er die nichtrationalen Elemente des historischen Erkennens. Eine Verwechslung der Begriffe ‘ästhetisch’ und ‘künstlerisch’ will er ausschließen. Die historische Wissenschaft umfasse die Phantasie und das Ergriffensein durch die Schönheit; daher rühren die großen Variationen in der Beschreibung ein und derselben Sache bei verschiedenen Menschen, auf die der Psychologe Wundt hingewiesen hat. Der irrationale Faktor nun sei in der ästhetischen Anlage begründet. Diese (seine) Anlage sieht Huizinga geradezu als Eigenschaft seiner gegenwärtigen Kultur, ‘die men wel het historisme noemt’. In der Verbindung der höchsterreichbaren Objektivität mit einem starken subjektiven Fühlen liege der letzte Beweis: so wird das gleichzeitige Begreifen verschiedener Zeiten, verschiedener Empfindungen und entsprechenden Denkens, das gleichzeitige Genießen eines van Eyck und eines Rembrandt oder das gleichzeitige Verstehen des Rationalismus und des Calvinismus ermöglicht. Der letzte Teil der Rede nun präzisiert explizit die Huizinga ureigene, ihn das ganze Leben beschäftigende Frage: Wie kann das ästhetische Moment durch die Steigerung der Anschaulichkeit zum besseren Verstehen und Begreifen historischer Zusammenhänge führen?Ga naar voetnoot22. Die Anschaulichkeit ist mit Windelband eine Hauptbe- | |
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dingung historischer Begriffsbildung gegenüber der Neigung des naturwissenschaftlichen Denkens zur Abstraktion. Ihr Ergebnis ist ein anschaulicher Vorstellungskomplex, mit anderen Worten ein Bild. Das gilt sowohl für Persönlichkeiten wie für Gruppenerscheinungen und allgemeine Zusammenhänge. Ein historisches Bild wählt aus der Vielfalt des Gegebenen dasjenige aus, was für das Ganze wesentlich ist. Bei der Schilderung eines menschlichen Charakters ist psychologische Einsicht und psychologische Phantasie vonnöten, aber auch die Formung einer allgemeinen Erscheinung verlangt ästhetische Anschaulichkeit. Wer einmal die Mosaiken zu Ravenna gesehen hat, wird den Untergang der antiken Welt weit besser begreifen. Und nun folgt ein Glaubensbekenntnis: Das Wissen entsteht doch niemals durch verstandesmäßig aneinandergereihte, sorgfältig abstrahierte Begriffe, sondern allzeit durch mehr oder weniger willkürliche Assoziation von Denkbildern. Die Gefahr des Hineindichtens von unwahren Bildern ist nicht größer als die Gefahr, die die unmißverständlich logisch konstruierte historische Reihe von Hypothesen heraufbeschwört, sobald nämlich eine falsche Hypothese als historische Wahrheit angenommen ist (was notwendig immer wieder geschehen muß). Im Gegenteil, die ästhetische Betrachtung schafft zwar subjektiv stark variierende Bilder, doch dessen bleiben wir uns stets bewußt. So weit die geschichtstheoretische Ouvertüre Huizingas, sein logisch-erkenntnistheoretisches, sein methodologisches und sein ästhetisches Bekenntnis zur ‘Geschichte als Bilder’. Wie war nun die allgemeine historiographische Situation besonders in dem von Huizinga beobachteten Deutschland, die deutlich im Hintergrund, ja im Vordergrund seines Denkens stand, unmittelbar ablesbar an der benutzten und sorgfältig zitierten deutschen Literatur? Angesichts der Entwicklung des 19. Jahrhunderts, des Aufschwunges von Wirtschaft und Technik, von Industrie und Verkehr, von Naturwissenschaft und Medizin, angesichts der neuen Industriegesellschaft des ausgebildeten Kapitalismus und der alle Probleme überschattenden und wiederum in sich einschließenden sozialen Frage traten neben den bisherigen Aufgaben der politischen Geschichte die umfassenderen Interessen am menschlichen Zusammenleben hervor. Die Kulturgeschichte als Vorläufer einer Sozialgeschichte trat mit dem Dilthey-Schüler Eberhard Gothein stärker in Erscheinung. Sie war im Zusammenhang mit den sozialen Fragen bereits seit Beginn der 80er Jahre in Deutschland zu einem selbständigen, sehr umstrittenen Arbeitsgebiet der Universitätswissenschaft geworden.Ga naar voetnoot23. Karl Lamprecht wurde einer der großen me- | |
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thodologischen Vorkämpfer der Kulturgeschichtsschreibung. Er setzte die sozialpsychologische Methode an die Stelle der individualpsychologischen der Persönlichkeitsgeschichte und verstieg sich dabei zu dem Satz: Geschichte ist an sich nichts als angewandte Psychologie.Ga naar voetnoot24. 1900 war seine Abhandlung Die kulturhistorische Methode erschienen. Darin bejahte Lamprecht Niebuhrs Methode der historischen Kritik, aber sie war für ihn nur eine unterbauende und vorbereitende Methode. Der Historiker will höhere Kategorien des Denkens finden, um die isolierten historischen Tatsachen, die einfachen historischen Tatsachenreihen in einen höheren Zusammenhang stellen zu können. Der Historiker zerlegte dafür bisher einerseits den Verlauf der Weltgeschichte in Zeitalter und vereinigte andererseits die Tatsachenreihen unter einer Idee zu einem Ganzen. Das erste Verfahren fällt aber nach Lamprecht in sich zusammen. Durch die bisherige Periodisierung kann das Ganze des geschichtlichen Verlaufs nicht erfaßt werden, da die Geschicke der Menschheit nicht überall zu gleicher Zeit unter gleich überwiegend einheitlichen Einflüssen gestanden haben. Auch das zweite, das Rankesche Verfahren der Ideenlehre, für die erstmalige Scheidung der Stoffmassen wertvoll, führt nicht zu einer wissenschaftlichen Durchdringung des historischen Stoffes. Ihre Fehler liegen darin, daß sie die Annahme einer ausnahmslos wirkenden geschichtlichen Kausalität ausschließt, daß sie nur zu Anschauungen, nicht zu Begriffen führt. Das Singuläre ist so nicht ableitbar. Dagegen stellt Lamprecht seine Auffassung von Begriffen als einen ‘Niederschlag von Urteilen, die durch Vergleichung gewonnen’Ga naar voetnoot25. wurden. Für ihn ist Wissenschaft niemals ein Gebäude von Anschauungen, sondern immer nur von Begriffen. Die Anschauung wird vielmehr in das Gebiet der Kunst verlegt. Der Begriff aber wird durch die Feststellung des Gemeinsamen, des Typischen der Kulturzustände gewonnen. So wird das Problem der Findung von historischen Begriffen und der historischen Begriffsbildung in den Vordergrund gerückt, ein Problem, das in der Tat die Arbeit der Zeitgenossen um 1900 beherrschte.Ga naar voetnoot26. So weit so gut. Nur will Lamprecht ‘zu einem Begriff der Kultur im Sinne des jeweils eine Zeit beherrschenden seelischen Gesamtzustandes, eines Diapasons’, kommen, ‘denn alles geschichtliche Geschehen ist seelischen Charakters’.Ga naar voetnoot27. Und so hat | |
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er auch die Begriffe seiner berühmten Kulturzeitalter gefunden - wir würden besser sagen, abstrahiert: die symbolistische, die typistische, die konventionalistische, die individualistische, die subjektivistische und die impressionistische Seelenhaltung. Diese kulturhistorische Methode bezeichnet Lamprecht als die erste wirklich wissenschaftliche Methode der Historie, denn der Ablauf der Kulturzeitalter entspreche der wissenschaftlichen Forderung kausalen Denkens. Die Einführung der kulturhistorischen Methode sei eine Revolution für die Geschichtswissenschaft und die Geisteswissenschaften überhaupt. Eine eigene wissenschaftlich-historische Disziplin wird begründet werden müssen, eine Lehre von den Kulturzeitaltern, um die Begriffe nebst dem ganzen Heer der sich ihnen anschließenden und aus ihnen zu entwickelnden Unterbegriffe durchzubilden mit dem Ziel, innerhalb des durch Vergleich gewonnenen Typus jedem Volk seinen individuellen Anteil am weltgeschichtlichen Geschehen anzuweisen. Als Vorläufer für sein Gedankengebäude beruft sich Lamprecht auf die Theorie der Wirtschaftsstufen und auf Jakob Burckhardt, dessen individualistisches Zeitalter der Renaissance keine Idee sei, sondern ein Begriff. Aber die Wurzeln würden noch viel weiter zurückreichen. Als die ersten schweren Angriffe gegen Lamprechts praktische Kulturgeschichtsschreibung erfolgten, der die 1900 entwickelten Theorien bereits mehr oder weniger deutlich zugrunde lagen, und sich schließlich die Mehrzahl seiner akademischen Kollegen gegen ihn ausgesprochen hatte, lag in Wilhelm Diltheys philosophischen Werken eine Begründung des selbständigen Charakters der Geisteswissenschaften vor. Von Dilthey ausgehend, hatte Windelband 1894 in seiner Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft das ganze Problem beleuchtet. Ihm war Rickert gefolgt, der seine Studien unter dem bezeichnenden Titel Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 1896-1902 vorgelegt hatte. Alle drei traten direkt oder indirekt gegen Lamprecht an und verfochten die Eigenständigkeit der Geschichte und ihrer Methoden. Sie unterstützten gewollt oder ungewollt die konservativen Ansichten eines Großteils der deutschen Fachhistoriker gegenüber dem neue Wege suchenden Lamprecht. Unter ihnen engagierte sich Georg von BelowGa naar voetnoot28. am stärksten. Und sie überzeugten, wie wir sahen, auch den werdenden Kulturhistoriker Huizinga mehr als die gegenteiligen Ansichten Lamprechts. Doch damit war Lamprecht für Huizinga nicht abgetan. Sein Name begegnet in Huizingas Werk immer wieder und fordert dazu heraus, dem Verhältnis beider nachzuspüren.Ga naar voetnoot29. 1905 in seiner Antrittsvorlesung hat Huizinga eine gewisse Dop- | |
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pelstellung bezogen. Er lehnte einerseits klar und prinzipiell Lamprechts Forderungen nach einem naturwissenschaftlichen Verfahren in der Geschichte ab und bekämpfte die Unterwerfung unter das Begriffssystem der Kulturzeitalter - eine Haltung, die Huizinga sein Leben lang beibehielt und verschärfte. Andererseits bekannte er - angesichts der eindeutigen Verurteilung des Geschichtsschreibers Lamprecht durch die verheerende Detailkritik mutig und erstaunlich -, daß sowohl das Aufstellen einer Abfolge von Kulturzeitaltern als auch ihre Begriffsbezeichnung von Nutzen sein könne, daß er für die Erkenntnis des germanischen Mittelalters in der Charakterisierung durch Typismus und Konventionalismus ‘nicht ohne Belehrung’ geblieben sei und daß es sehr unbillig wäre, schon jetzt die Forderung zu stellen, daß die Resultate Lamprechts der erprobten historischen Methode standhalten müssen, ja, daß es ein Unrecht sein würde, Lamprechts Richtung auf Grund der abfälligen Kritik über seine Deutsche Geschichte überstürzt zu verurteilen. Etwas anderes sei es, wenn sich die Logik der Grundprinzipien als unhaltbar erweise. In diesem Sinne aber sei der ‘neuen Richtung’ in den letzten Jahren durch die deutsche Geschichtsphilosophie ‘Schlag auf Schlag’ beigebracht worden. Huizingas Äußerungen über Lamprecht haben von Anfang an etwas auffällig Engagiertes an sich. Er fühlt sich ganz offensichtlich gereizt und herausgefordert und reagiert mit Temperament. Eine seiner ersten ausführlichen Rezensionen als Groninger Professor galt der Darstellung der Niederlande im 17. Jahrhundert im 6. Band von Lamprechts Deutscher Geschichte von 1904. (II, 404-411) Sein Urteil: sehr schlecht unterrichtet, unsolide und unredlich. Er weist dem älteren Leipziger Kollegen nicht nur zahlreiche objektive Fehler nach, sondern auch gerade für die sozialpsychischen Mitteilungen Zitate aus dem Werk eines deutschen Forschers, dessen Namen Lamprecht nicht nur hier, sondern sogar in einem Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift beharrlich verschwiegen hat. Insgesamt könne man das Unternehmen als Vortrag eines hinterpommerschen Gymnasiallehrers vor dem örtlichen Geschichtsverein löblich nennen, aber dieser ‘Blick in die Werkstatt der so streng wissenschaftlichen neuen historischen Methode, für die Lamprecht in seinen Broschüren die Trompete bläst’, diese Einsicht in das Zusammenstoppeln bereitet jedem Kummer, der einmal viel für die Erweiterung seines historischen Horizontes von Lamprecht gelernt habe. Huizingas Enttäuschung ist groß über das Werk angesichts des ‘Schatzes von frischen und forschen Gedanken’. Und so schließt er mit dem spöttischen Bild von Lamprechts Aussichtsturm, an dem er mit Pappe und Kleister arbeitet, statt Bauholz zu nehmen und Nägel mit Köpfen. Deshalb scheuen viele ein solches Gebäude und bleiben lieber unten. Doch Huizinga spricht auch von der Bezauberung und Verführung (bekoring), die Lamprechts Konstruktionen bei der ersten Begegnung ausstrahlen -, so in der | |
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Rezension von Lamprechts Einführung in das historische Denken (1912). Diese Schrift wird letztlich als Verteidigung der spezifischen Lehre der Kulturzeitalter begriffen und völlig abgelehnt. (VII, 233 f.) Und er spricht von der prickelnden Wirkung, ‘solange man sich Lamprecht gläubig ergibt’. Sollte Huizinga nicht als Student in Leipzig im Wintersemester 1895-96 Lamprecht gehört haben, der als gewaltiger Redner, umstritten und umkämpft auf der Höhe seiner Wirksamkeit, auf dem dortigen Universitätskatheder stand und eine Vielzahl von Hörern auch aus anderen Fächern anzog und begeisterte? Huizingas eigener Lehrer P.J. Blok hatte gerade im Jahr zuvor bei seiner Antrittsvorlesung in Leiden ein klares und tiefes Bekenntnis zu Lamprechts Richtung abgegeben. Und Huizinga sollte Lamprecht versäumt haben?Ga naar voetnoot30. Doch darüber schweigen unsere Quellen, soweit ich sehe. Blok hatte für seine Antrittsvorlesung das hochaktuelle Thema ‘Geschichte als soziale Wissenschaft’Ga naar voetnoot31. gewählt. Die damals seit einem Jahrzehnt umstrittene Hauptfrage war die nach dem ‘eigentlichen Arbeitsgebiet der Geschichte’,Ga naar voetnoot32. noch nicht die Frage nach der Methode und der Theorie, die sich Huizinga bot. Blok sprach über die Wirtschaftsgeschichte, über ihre Bahnbrecher von Inama-Sternegg und den ‘talentvollen Lamprecht’, die ‘in jedem Fall fruchtbarsten Repräsentanten dieser wichtigen Aufgabe der historischen Wissenschaft’. Als seine eigene Aufgabe und die seiner Lehrkanzel bezeichnete er die Sozialgeschichte des niederländischen Volkes - er hatte sie vor zwei Jahren zu publizieren begonnen. Die Sozialgeschichte bedürfe aber, wie die Deutsche Geschichte Lamprechts zeige, noch weiterer Studien.Ga naar voetnoot33. | |
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In einer Besprechung neuer Bände der Deutschen Geschichte erhob Blok (1896) bei aller erklärten ‘großen Sympathie für die Auffassung von Lamprecht’ seine Bedenken gegen die Art und Weise der Durchführung.Ga naar voetnoot34. Etwa sechs Jahre später sprach er von den ‘ursprünglich großen Sympathien’. Er stimme mit dem ‘hochbegabten schlagfertigen Professor’ darin überein, daß die Geschichtswissenschaft untersuchen müsse, wie es recht eigentlich geworden sei an Stelle des Rankeschen ‘Wie es eigentlich gewesen ist’. Aber er stimme nicht überein mit Lamprechts Verständnis der menschlichen Gesellschaft. Sein letzter Band behandle die Gegenwart in zu hohen musischen und intellektuellen Sphären. ‘Das Volk denkt und fühlt ganz was anderes’.Ga naar voetnoot35. Auch Huizinga entfernte sich immer mehr von Lamprecht. Seine letzte Äußerung bringt das eindeutige Wort ‘vom hohlen Schematismus und den brüchigen Konstruktionen Karl Lamprechts’.Ga naar voetnoot36. Das Auseinanderklaffen der von Lamprecht hochtrabend vorgebrachten Ansprüche auf alleinige Wissenschaftlichkeit und der immer wieder angreifbaren Praxis seiner Geschichtsschreibung schadete ihm auch in Holland. Hatte Blok das nüchterne Gespür dafür, daß eine neue Zeit auch einen neuen Wissenschaftsbegriff oder vielmehr -inhalt fordert, so wandte sich Huizinga aus einer geradezu schicksalhaften Position dagegen. Er war sich seiner Gaben und bestimmt auch seiner Grenzen bewußt, das heißt er fühlte, daß er so und nicht anders arbeiten und schreiben mußte, um das Beste in sich zur Wirkung zu bringen. Daß seine Auffassung von Geschichte als nicht den Bedürfnissen der Zeit gerecht werdend verurteilt wurde, wird ihn sein Leben lang beschäftigt haben. Aber auch methodisch stand der Historiker von Anfang an unter einer gewissen Bedrohung der eigenen Existenz. Huizinga war Künstler und Geisteswissenschaftler in einem, er sah, dachte und schrieb in Bildern. Das war nicht mit der naturwissenschaftlichen Methode in Einklang zu bringen, vielmehr schien er sich durch die geringste Annäherung gefährdet zu fühlen. An dieser Stelle zeigt sich eine gewisse Verwandtschaft mit Lamprecht, dessen ebenfalls überdurchschnittliche, auch künstlerische Begabung in einer ganz anderen Weise zu wirken sich berufen fühlte. Lamprechts ganz persönliche Arbeit an der Wandlung der Historie in eine moderne Wissenschaft war ebenfalls nicht mit einer strengen naturwissenschaftlichen Methode zur Deckung zu bringen, wenn er auch noch so sehr das Gegenteil behauptete. Huizinga bescheinigte Lamprecht in seiner | |
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Antrittsvorlesung Phantasie als seine kostbarste Gabe. (VII, 23) Der Angriff von zwei Seiten auf seine von der Natur verliehenen Fähigkeiten erklärt Huizingas Hinwendung zur deutschen Geschichtstheorie, denn hier fand er einen sicheren wissenschaftlichen Halt für das, was er fühlte, was ihm aber theoretisch auszudrücken nicht in gleichem Maße gegeben war. Auch diese Schwäche teilte er mit Karl Lamprecht.
Die intensive und ihn fesselnde Beschäftigung mit den geschichtsphilosophischen Fragen der Antrittsvorlesung hatte Huizingas Bewußtsein für seine eigene geistige Existenz geschärft. Sein Nachdenken über die Theorie seiner Wissenschaft war angeregt und begleitete von nun an - sicher mehr unbewußt als bewußt - die eigene Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, die er stets als Einheit sah. Mag er auch nach eigenen Worten ‘im allgemeinen nicht zu Problemen theoretischer Art’ geneigt und auch seinen Schülern davon abgeraten haben, so hat er diese Fragen doch noch mehrfach im Laufe seines Lebens diskutiert, besonders die der Bildung historischer Begriffe und der historischen Methode. In den ‘Aufgaben der Kulturgeschichte’ von 1929Ga naar voetnoot37., in der Santander-Vorlesung von 1934,Ga naar voetnoot38. in der Abhandlung ‘Über eine Formverwandlung der Geschichte’ von 1941Ga naar voetnoot39. kommt der nun in der ganzen Welt berühmte Kulturhistoriker erneut auf die Probleme von 1905 zu sprechen. 1929 rühmt er an der Historie, daß sie sich instinktiv den Forderungen der exakten naturwissenschaftlichen Methode widersetzt habe, die durch Lamprecht an sie herangetragen wurden. Seit die Philosophen Windelband, Rickert, Simmel und nicht zuletzt Dilthey den Streit ausgefochten haben, ist die Historie unbeirrt ihren Weg weitergegangen. (VII, 47) In dieser Stetigkeit liegt für Huizinga ein starker Beweis für die Notwendigkeit ihres selbständigen Bestehens als Geisteswissenschaft. Und er rühmt die neue deutsche Wissenschaftstheorie von Rothacker bis zu Theodor Litt und Hans Freyer,Ga naar voetnoot40. die die naturwissenschaftliche Begriffsbildung | |
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mit noch beträchtlich stärkerer Überzeugung bekämpfe als einst Rickert. Nachdem Huizinga 1905 die Frage der Entwicklung nur gestreift hatte, (VII, 9 f.) setzt er sich in der Betrachtung von 1929 ausführlich mit diesem Begriff auseinander, wie er sich durch Bernheims Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie durchgesetzt habe. Auch hier beherrscht ihn die Furcht vor dem naturwissenschaftlichen Denken in der Geschichte. Er kritisiert jedoch auch seinen eigenen, aus der deutschen Geschichtstheorie übernommenen Begriff des ‘Nacherlebens’ als wesentliches Element des historischen Verstehens, weil er einen viel zu bestimmten psychologischen Prozeß andeute. Es handle sich vielmehr um ein Begreifen, um eine Erkenntnisweise, die ‘eine mehr oder weniger stetige, fortwährend die Arbeit des Lesens oder Denkens begleitende Empfindung’ voraussetzt. Das Nacherleben ist nur ein Teil des historischen Verstehens, die Hauptaufgabe hingegen das Erstehenlassen von Zusammenhängen, wofür sich Huizinga auf die Darstellungen von Pirenne, Meinecke, Trevelyan beruft. Noch wirke aber auch hier die Autorität Lamprechts nach, die als eigentliche Aufgabe der Geschichte die sozialpsychologische Darstellung der Massenseele fordert. Huizinga stellt dagegen die Aufgabe einer historischen Morphologie, ein Begreifen dessen, was die Menschen untereinander verbindet, wofür er den amerikanischen Begriff des behaviour mit seiner starken soziologischen Bedeutung für nützlich hält. Als die Internationale Sommeruniversität in Santander 1934 Huizinga aufforderte, über die Entwicklung der Geschichte zur modernen Wissenschaft zu sprechen, fühlte er sich wiederum aufgerufen, zur Geschichtstheorie Stellung zu nehmen. Die Feststellung, daß die Geschichte die unselbständigste aller Wissenschaften sei und der Hilfe und Unterstützung der anderen Wissenschaften von der Theologie bis zur Nationalökonomie und Soziologie bedürfe, zeigt eine Weiterentwicklung seines Denkens. Nach einer Hommage an Deutschlands Historiker, an ihre Begründung der kritischen Methode und ihre Formulierung der historischen Fragen, sieht Huizinga aber auch Gefahren einer solchen Entwicklung. Sie alle haben zu viel Wert auf eine detaillierte Geschichtsforschung und die analytische Monographie gelegt, wobei die Geschichtsschreibung und die Synthese vernachlässigt wurden. Es ist das Verdienst der Soziologie, die Historiker an ihre Aufgabe gemahnt zu haben, das Verständnis der großen Zusammenhänge zu fördern. Hier 1934 folgt nachträglich die Einsicht Huizingas in den Gesamtbezug der historiographischen Kämpfe um 1900. Jetzt, 30 Jahre später, heißt es: ‘Das Jahrhundert der Maschinenindustrie, des technisch immer vollkommener werdenden Verkehrs, des wachsenden Kapitalismus und des stets dringlicher werdenden sozialen Problems stellte der Geschichte’ neue Fragen.Ga naar voetnoot41. Forderte nicht eine wirtschaftliche | |
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und soziale Geschichte die Entthronung der sehr selbstsicheren politischen Geschichte? Karl Marx wollte mit dem neuen Schlüssel des Denkens in Klassenkämpfen die Geschichte in ihrer Totalität verständlich machen, aber die historische Arbeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde vom Gedanken des Klassenkampfes nicht sichtbar geprägt. Größere Folgen hatte der Siegeszug des naturwissenschaftlichen Denkens. Die soziale Frage und der demokratische Instinkt trafen sich mit den der Naturwissenschaft entnommenen Forderungen an die Geschichte: Behandlung der Massen, der Gemeinschaft, der Arbeit und des Volkslebens. Karl Lamprecht unternahm zum erstenmal den Versuch, thematisch und methodisch diesen Forderungen gerecht zu werden. Es habe sich gezeigt, daß ihm die historische Wissenschaft nicht folgte, wobei diesem Urteil Huizingas wohl vornehmlich die deutsche Geschichtswissenschaft zugrunde lag, der neue starke sozialgeschichtliche Ansatz in den anderen Ländern und damit die zukünftige Entwicklung völlig übersehen wurde. Der Blick blieb in der Vergangenheit haften. Die Lösung der Geistes- oder Kulturwissenschaften vom Einfluß des naturwissenschaftlichen Denkens durch die tatkräftige Unterstützung der (deutschen) Philosophie wird von Huizinga wiederum als eine der bedeutendsten Errungenschaften des Geisteslebens um 1900 bewertet.Ga naar voetnoot42. Doch jetzt werden auch weitere Probleme der damaligen Diskussion aufgegriffen. ‘Wir müssen abstrahieren’, sagt Huizinga, ‘und aus dem Wust des Wahrnehmbaren gewisse komplexe Einheiten absondern, denen wir Namen geben und Gestalt zuerkennen’. Weiter unten heißt es: ‘Die Gruppe, die Institution und der Staat leben ihr historisches Leben als Einheiten in ihrer Gesamtheit und sind als solche von der Geschichtswissenschaft zu betrachten und zu analysieren’. (VII, 135) Und indem Huizinga auf die Reihe der Gegensätze zurückblickt, zwischen denen sich das historische Denken bewegt, sieht er eine Lösung in der Bejahung der Polarität des historischen Erkennens: im Besonderen und Allgemeinen, im Konkreten und Abstrakten, in Analyse und Synthese, in Persönlichkeit und Masse, in anschaulicher Vorstellung und Begriff. Jetzt lautet die Antwort auf alle diese Fragen: ‘Beides steht immer in Frage, das eine in dem anderen... Das Konkrete wird nur mit den Mitteln der Abstraktion erfaßt. Die Vorstellung und der Begriff sind keine vollkommenen Gegensätze’.Ga naar voetnoot43. Wir können hier nicht die losen theoretischen Betrachtungen - um mehr handelt es sich jedenfalls nicht - des zweiundsechzigjährigen | |
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Huizinga ausbreiten. Der Wandel gegenüber den Auffassungen des Zweiunddreißigjährigen ist deutlich. Das polare Denken beherrscht jetzt die theoretische Szene gegenüber der Antrittsvorlesung mit ihrem sehr subjektiven Bekenntnis zu Anschauung und Bildern, das die Grundlage seiner gesamten Geschichtsschreibung war und blieb. Und noch kurz der dritte und letzte intensive Rückgriff von 1941 auf die geschichtsphilosophischen Probleme in Huizingas Gelehrtenleben. Die Abhandlung ‘Über eine Formverwandlung der Geschichte’ spricht von dem Zusammenhang von historischem Bild und Ästhetik. ‘Mit diesen beiden Wörtern “Figuren oder Bilder” haben wir freilich, bevor es uns bewußt wurde, in unser logisches Denken schon das ästhetische Pferd von Troja hineingebracht und werden es nicht wieder los’. Und nun bezieht sich Huizinga direkt auf seine ‘Antrittsrede an der Universität Groningen im Jahre 1905’ und bringt die Seitenangaben des öfter verwendeten Wortes ‘Bild’. (VII, 193 f.) Es war ‘in der methodologischen Literatur kaum gebräuchlich’, fügt Huizinga hinzu. Aber seitdem sei es in vielen Verbindungen wie Weltbild, Naturbild, Geschichtsbild in der Wissenschaft allgemein verbreitet. Huizinga fragt jedoch, wie es mit der Wirklichkeit der Geschichte stehe. Hat sich nicht eine Formverwandlung des historischen Geschehens, eine Veränderung des tatsächlichen Ablaufs seit ungefähr 100 Jahren vollzogen? Ist nicht seit langem ein Verlust der Bildhaftigkeit eingetreten? Und hier erläutert der nun achtundsechzigjährige Huizinga an der Geschichte Amerikas seine Beobachtungen und neuen Einsichten. Das Beispiel Amerika war für ihn ja bereits seit 1918 eine unendlich wichtige Quelle der Erweiterung seines Denkens.Ga naar voetnoot44. Die Problemkreise von Mensch und Masse und der Vorherrschaft wirtschaftlich pragmatischer Existenz hatten ihm gegenüber seinem Standpunkt von 1905 neue Erkenntnisse vermittelt. Er sieht nun den wirtschaftlichen Prozeß als eine Reihe kollektiver Ereignisse und damit als Gegensatz zur Politik, bei deren Wendungen jedesmal der ganze Mensch in den Brennpunkt der Geschichte rücke. Beim ‘ständigen Vordringen der wirtschaftlichen Momente’ aber tritt ‘das persönliche Element der Geschichte zugunsten des kollektiven’ zurück. Der Wandel des Gegenstandes der Geschichte wandelt die Form der wissenschaftlichen Untersuchung, Zahlen und Statistiken gewinnen steigende Bedeutung. Aus der Geschichtserzählung wird allmählich eine analytische Untersuchung, aus der relatio eine disquisitio. Die Historie kann sich dieser Verschiebung | |
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nicht entziehen. In der Quantifizierung geht die Erzählung unter, kann kein Bild entstehen. (VII, 204-206)
Kehren wir noch einmal zur Situation des jungen Huizinga beim Antritt des Lehramtes in Groningen zurück. Damals beschäftigten ihn allein die methodologischen Fragen: Wie kann ich Geschichte forschend bewältigen, wie kann ich sie verstehend darstellen, wie sie nacherlebend zum Bild gestalten? Die Frontstellung Windelbands, Geschichte existiere nur als idiographische, das heißt als eine das Besondere beschreibende Wissenschaft, gegenüber einer nomothetisch verfahrenden, das heißt Gesetze aufstellenden Naturwissenschaft, bot die Grundlage von Huizingas Antwort und erwies sich als Richtschnur für sein künftiges Denken. In der Sprache Rickerts: die individualisierende Methode wurde gegenüber der generalisierenden akzeptiert. Die im Hintergrund des Lamprecht-Streits stehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der Industriegesellschaft und die durch sie bewirkten Fragen nach dem eigentlichen Gegenstand der Geschichte hat Huizinga erst sehr viel später aufgegriffen. Ihn beschäftigte damals die mit den Naturwissenschaften aufgekommene Infragestellung der Geschichte als Wissenschaft so stark, daß die weitergehenden Probleme der Zeit völlig in den Hintergrund traten, zumal sie in Lamprecht einen so unzulänglichen Vertreter hatten. Darum blieben ihm wie den meisten seiner Zeitgenossen die Anregungen verborgen, die Lamprecht und seine Mitstreiter - oftmals selbst unbewußt - für eine praktische sozialgeschichtliche Forschung gaben und unter dem Namen der Kulturgeschichte mit dem Anspruch universalgeschichtlicher Forschung vertraten. Lamprecht forderte eine Darstellung von Zuständen gegenüber der bisherigen Personen- oder Ereignisgeschichte. Nicht der Staat dürfe im Mittelpunkt des universalhistorischen Interesses stehen und mit ihm die Leistung genialer Persönlichkeiten, sondern die materiellen, organisatorischen und intellektuellen Zustände müßten als Ursachen aller geschichtlichen Bewegungen erkannt und untersucht werden. Voraussetzung für eine solche neue Einsicht sei die gleichzeitige Kenntnis mehrerer Zeitalter. Erst dadurch könne die Auffassung überwunden werden, daß Zustände nur einfache Bedingungen des historischen Lebens seien und nicht auch produktive Elemente der geschichtlichen Entwicklung. Für Lamprecht ergaben sich die Zustände aus der Summe des früher Gewordenen, das in ihnen fortlebt, und der Summe des täglich Werdenden, das der Gesamtwille, der Gesamtintellekt und die Gesamtempfindung der Nationen ihnen hinzubringe. So griff er weit über die bisherige Staats- und Individualgeschichte hinaus und fragte grundsätzlich nach der Stellung sowohl der individualistischen als auch der kollektivistischen Willensäußerungen im Geschichtsverlauf. ‘Welche von beiden sind beständiger und wichtiger’? Und er antwortete scharf: die kollektivistischen sind die stärkeren. Damit war alle bisherige politische Geschichtsbetrachtung umgestülpt. Lamprecht | |
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hat in immer wiederholten Anstrengungen - gewiß mit völlig unzureichenden praktischen Arbeiten und leicht widerlegbaren theoretischen Aussagen, mit Überschätzung der eigenen Erkenntnis und des eigenen Verdienstes - das Neue als Umbruch dargestellt. Eine Geschichte der Zustände nur als Illustration, gleichsam als Beiwerk der eigentlichen, der politischen Geschichte, lehnte er ab. Wenn Lamprecht von der materiellen Kultur sprach, so verstand er darunter, und das hat er oft genug betont, die Wirtschaft und das Recht, die Verfassung und die Verwaltung als die wesentlichen Kräfte der historischen Entwicklung, die gegenüber den Wirkungen der Persönlichkeiten unterschätzt würden. Das wird heute oft übersehen, gerade auch von seinen einseitigen Lobrednern. Der hart auf hart behauptete Alleinvertretungsanspruch der etablierten deutschen Historie hatte den Kampf gegen den Zunftgenossen Lamprecht unerhört scharf werden lassen. Lamprecht wurde des Materialismus und der damals als gefährlich angesehenen Hinwendung zu Marx beschuldigt. Als Huizinga seine Antrittsvorlesung hielt, war das Ansehen Lamprechts - nicht ohne eigenes Zutun - in Deutschland bereits weitgehend zerstört. Seine späteren theoretischen Schriften nach 1899, die Huizinga zugrunde legte, sind von der Kritik der ‘offiziellen’ Historie gar nicht mehr zur Kenntnis genommen worden. Was wir erst jetzt ganz sehen, ist die Tatsache, daß Lamprecht mit seinem Anliegen keineswegs allein dastand, sondern in einen größeren Entwicklungszusammenhang gehört und sich auch nicht isoliert fühlte.Ga naar voetnoot45. Seinem Mitkämpfer, dem Berliner Historiker Kurt Breysig, wie ihm selbst und anderen standen im Kampf der ‘neuen Richtung’ der Geschichte die Spalten der führenden deutschen politischen und kulturellen Zeitschrift Die Zukunft von Maximilian Harden offen.Ga naar voetnoot46. Das Echo in der Öffentlichkeit war günstig. Überhaupt verlangte das historisch interessierte Publikum, wie Huizinga es später schilderte, ‘neben Büchern über politische Geschichte auch solche über wirtschaftliche und soziale Fragen, über Verfassungs- und Kulturgeschichte’.Ga naar voetnoot47. Otto Hintze, wie Breysig ein Schüler des ersten deutschen Sozialhistorikers Gustav Schmoller, wies in der Historischen Zeitschrift 1897 auf das an sich richtige Prinzip Lamprechts bei Verurteilung seiner Einseitigkeiten hin und bezeichnete die sozialpsychologische Betrachtungsweise als ‘vielleicht die bedeutendste Errungenschaft auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften’ im letzten Jahrhundert. Schon Hegel und Jacob Grimm | |
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meinten mit dem objektiven Geist und der Volksseele ‘geistige Kollektivkräfte, die ein Produkt massenpsychologischer Vorgänge sind’. So konstatierte Hintze in der verstärkten Aufnahme der sozialpsychischen Fragen durch Lamprecht einen Fortschritt gegenüber Ranke, eine Ergänzung der bisherigen wissenschaftlichen Bestrebungen, aber nicht eine Umwälzung.Ga naar voetnoot48. In jenem Sinne ist ein nicht unwesentlicher Teil auch der nichtmarxistischen Geschichtswissenschaft in der Welt seit 1900 im Gegensatz zu Huizingas AnsichtGa naar voetnoot49. fortgeschritten. Sie hat die Gruppenerscheinungen und Massenbewegungen, überhaupt die gesellschaftlichen, die kollektiven Vorgänge zum Stoff einer Sozialgeschichte gemacht, die seitdem fast alle historischen Disziplinen anregend und erkenntniserweiternd durchdringt. Sie hat auch die methodologische Frage der Begriffsbildung aufgegriffen. Doch gerade bei den Begriffen melden sich Zweifel an, ob dieser Weg in die Moderne wirklich der richtige Weg gewesen ist. Er geht zunächst über Max Webers soziologischen, rational-abstrakt konstruierten Idealtypus zu Otto Hintze, der den historischen Idealtypus als ‘anschauliche Abstraktion’ in die Forschung und Geschichtsschreibung eingebracht hat. Handelte es sich aber um 1900 noch um die Aufgabe der Begriffsbildung, um kurze und eindeutige Bezeichnungen für neue oder neu gesehene Phänomene, um Abstraktionen, die der Verständigung erst aufsteigender Wissenschaftszweige dienen sollten, so stehen wir heute vor einer Begriffsverwirrung, vor der uns auch eine intensive Begriffsforschung nicht bewahren konnte. Begriffsgeschichtliche Klärung ist schon seit langem ein besonderes Anliegen der | |
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historischen Wissenschaft. Die historische Sektion des ‘Centre international de synthèse’ in Paris zum Beispiel, der Huizinga angehörte, veranstaltete Ende der zwanziger Jahre Sitzungen bekannter Gelehrter, um ein ‘Vocabulaire historique’ zur Definition historischer Fundamentalbegriffe herzustellen.Ga naar voetnoot50. Ende vorigen Jahres erschien der erste Band eines mehrteiligen historischen Lexikons zur politischsozialen Sprache in Deutschland, das den Umbruch der Begriffswelt zwischen 1750 und 1850 an 120 geschichtlichen Grundbegriffen festhält und bis in die Gegenwart führt.Ga naar voetnoot51. Noch deutlicher zeigt sich die Problematik in der sechsbändigen, über 7.000 Seiten umfassenden Enzyklopädie Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, die die doppelte Bedeutung desselben Terminus im Sprachgebrauch der östlichen und westlichen Welt analysiert.Ga naar voetnoot52. Es ist nicht nur ein wissenschaftliches, es ist auch ein politisches Problem. Auf der einen Seite wird die Geschichtswissenschaft, die sich nun durch ihre sozialgeschichtliche Basis den Sozialwissenschaften und ihren Methoden geöffnet hat, von den täglichen Neuschöpfungen dieser jungen Wissenschaften, von ihrem modischen Jargon überschüttet und damit in der Klarheit ihrer eigenen Begriffe bedroht. Auf der anderen Seite werden politisch-soziale Begriffe, die in der Wissenschaft bisher einen festen Platz zu haben schienen, umgedeutet und in den politischen Kampf geworfen. Eine bewußte Täuschung und Verunsicherung ist das Ziel. Die Politisierung und Polarisierung des Lebens, die tiefe Durchdringung aller wissenschaftlichen Arbeit mit Politik hat die Situation im Bereich der Grundlegung wissenschaftlicher Begriffe grundsätzlich verändert. Wie will beispielsweise ein Zeitgeschichtler sein Objekt überhaupt nur verständlich machen, wenn seine Begriffe nicht eindeutig sind? An einen Vergleich ist schon gar nicht zu denken. Was ist demokratisch, was ist rechtsstaatlich, was ist Frieden? Der Begriff des Friedens geht heute so weit, daß er die Anwendung von Gewalt mitbeinhaltet, um notfalls mit Gewalt gewaltfreie Friedensstrukturen zu schaffen.Ga naar voetnoot53. Aber auch unabhängig von diesen politisch-aktuellen Fragen hat die Hinwendung der Historie zu den kollektiven Vorgängen neue Probleme heraufgeführt. Ein Begriff zum Beispiel wie Absolutismus für ein ganzes Zeitalter wird immer fragwürdiger, je mehr Einzelheiten die Forschung über die Wirksamkeit der Herrschafts- und Sozialstände oder der Korporationen zu Tage fördert. Er erweist sich als fest gebunden an die Sicht von oben, vom Herrscher aus, | |
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und suggeriert eine falsche Vorstellung, das farblose ‘Bild’ nämlich des Totalitarismus.Ga naar voetnoot54. Wäre es nicht doch richtiger, mit Huizinga subjektive Geschichtsbilder zu schaffen, die Dinge also so zu beschreiben, wie der einzelne Forscher sie sieht? Diese individuellen, stark variierenden Bilder pflanzen sich nach Huizingas Ansicht verhältnismäßig wenig in der Form eines bestimmt ausgesprochenen Urteils fort, das seinerseits andere beeinflußt. Das historische Bild also scheint nicht so bestimmend und auch nicht so leicht manipulierbar zu sein wie der historisch-politische Begriff, der zu einer geistigen Macht werden kann, die uns beherrscht.Ga naar voetnoot55. Doch es gibt keinen Weg zurück. Auf allgemeine Begriffe können wir in der historischen Wissenschaft so wenig wie in allen Geistes- oder Kulturwissenschaften verzichten, und auch Huizinga ist ohne sie nicht ausgekommen und hat sich schließlich zur Polarität von Anschauung und Begriff bekannt. Er hat drei Gefahren dieser Entwicklung gesehen und beschrieben (VII, 138 ff): Erstens den Anthropomorphismus der Begriffe, der diesen Abstraktionen Handlungen und Verhaltensweisen zuspricht. Zweitens die Inflation der Terminologie, die sich in der Erweiterung des räumlichen und zeitlichen Anwendungsbereiches zeigt. Ein Musterbeispiel war für ihn das Wort Renaissance.Ga naar voetnoot56. Und die dritte Gefahr sah Huizinga in der schablonenhaften Anwendung von allgemeinen Ausdrücken wie Feudalismus, Kapitalismus, Reaktion, Bourgeoisie, Demokratie und sehr vielen anderen.Ga naar voetnoot57. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist nicht in Sicht. Ein exakter Begriffsapparat jedenfalls scheint uns heute die wichtigste Voraussetzung zu sein, unseren weiter gesteckten Zielen näherzukommen. War Huizingas Antrittsvorlesung eigentlich politisch oder unpolitisch? Eine Frage, die seine akademischen Schüler später stellten und die auch die heutige Generation noch stellt. Sagt die Wahl des Themas und erst recht die Durchführung etwas aus über seine politischen Ansichten, über seine politische Haltung? Ja und nein. Huizinga tritt uns in erster Linie als Wissenschaftler in persönlicher Betroffenheit und Sorge um die zukünftige Entwicklung seiner nunmehr zu vertretenden Diszi- | |
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plin entgegen. Er war, sozial gesehen, Angehöriger des gehobenen, wohlhabenden Bürgertums, im engeren Sinne des im Lande führenden, angesehenen akademischen Berufsstandes der Hochschullehrer, dem schon sein Vater als Mediziner zugehörte. Huizinga traf in seiner Rede eine grundsätzliche, man könnte sagen wissenschaftspolitische Entscheidung durch eine eindeutige, offene und kraftvolle Stellungnahme, die - vielleicht eher unbewußt als bewußt - mit den herkömmlichen Ansichten seiner humanistisch gebildeten, idealistisch im weitesten Wortsinn erzogenen und denkenden Sozialschicht, konkret der Geisteswissenschaftler, übereinstimmte. Werfen wir einen Blick auf die sozialen Voraussetzungen der Historiker-Kollegen in Deutschland. Hier stehen sich nun innerhalb einer Berufsschicht zwei Parteien in mehr oder weniger ausgeprägter Form gegenüber. Ich habe vom sozialwissenschaftlichen Flügel in der deutschen Geschichtswissenschaft gesprochenGa naar voetnoot58., zu dem ich die in sich sehr verschiedenen Geister wie den Pastorensohn Lamprecht, den Oberlehrersohn Breysig, den Kreissekretärssohn Hintze mit ihren dii minores rechne. Die große Gruppe der anderen Historiker wurde angeführt von dem Postmeisterssohn Meinecke, dem Sohn einer altadligen Offiziers- und Beamtenfamilie Below und dem Oberlehrersohn Eduard Meyer und wies noch manchen nicht unbedeutsamen Namen auf. Diese hatten sich mehr oder weniger auf die Seite der Philosophen Dilthey, Windelband und Rickert geschlagen. Die ‘Fronten’ waren auch in sich keineswegs immer ganz scharf getrennt und schon gar nicht sozial zu differenzieren. Daß die wissenschaftlichen Differenzen mit politischen Anliegen vermischt waren, ist uns heute offenbar, aber die Entscheidungen sind keineswegs eindeutig mit konservativ-reaktionärer bzw. fortschrittlich-demokratischer Politik zu identifizieren, denn Lamprecht war damals strenger Nationalist und bereits seit den späten 90er Jahren Imperialist und später im Fahrwasser der Alldeutschen. Auch Breysig und Hintze waren keine ‘Linken’. So geht selbst durch die Personen der Zwiespalt der Zeit, und wir enden wieder bei der Notwendigkeit des individuellen Rückgriffs. Huizingas Antrittsvorlesung zeigt ein sehr persönlich-subjektives, ja ein ästhetisches Interesse am geistig-kulturellen Leben der Vergangenheit, zeigt auch Verständnis für neue Wege in der Aufarbeitung und Vermittlung der riesigen Stoffmassen, aber er läßt eine Standortbestimmung seines Faches inmitten der neuen industriellen Gesellschaft vermissen.Ga naar voetnoot59. Mit der langsamen Aufnahme der sozialen und technischen Zeitproblematik, die er am Ende seines Lebens als ‘Formver- | |
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wandlung’ des historischen Prozesses begriff und als Strukturwandel beschrieb, wuchs die kulturkritisch-pessimistische Stimmung. Die resignative Einsicht in den mit jeder Strukturveränderung notwendig verbundenen Untergang von Werten hat bei Huizinga zu einem vollen Kulturpessimismus geführt. Er konnte nicht daran glauben, daß immer wieder neue Werte an die Stelle vergangener treten, sondern hielt das Untergegangene für unersetzlich. Nichts zeigt so deutlich die große Diskrepanz zwischen seiner subjektiven Empfindung und der Wirklichkeit seiner Zeit wie das von Huizinga in der Antrittsrede wiedergegebene Zitat aus Herodot und seine Auslegung: Und als er den ganzen Hellespont hinter den Schiffen verborgen sah, und all die Küsten und die Ebenen von Abydus voll von Menschen, da pries Xerxes sich glücklich, doch dann weinte er.
Huizinga sagt dazu im Stil des ‘moonlight of memory’: Wir sehen es unmittelbar: die Sonne auf den weißen Segeln, das Gewimmel der Menschenscharen, das Blinken ihrer Rüstungen und die roten Tupfen ihrer Kleidung. Wir hören auch den Klang ihrer Stimmen und das Anschlagen der Wellen, wir kosten den salzigen Wind. Und wir sehen das alles durch die Augen des Königs und fühlen auch seinen Hochmut und seine Niedergeschlagenheit. (VII, 25)
Dieses historische Weltbild war schon damals im Fallen und ist für uns endgültig gestürzt. Es widerspricht mit der ästhetischen Ergriffenheit in der Tat völlig dem Wollen Lamprechts, der über den König hinaus nach den Menschenscharen am Ufer fragt, nach der Vereinigung von Individuen, von denen auch er gewiß weiß, daß sie in sich ungeheuer differenziert sind. Und es ist so gekommen, wie Lamprecht es 1904 in St. Louis gesagt hat: Eines aber zeigen meine Betrachtungen bestimmt: daß sich der modernen Geschichtswissenschaft ein unendlich weiter Arbeits- und Kampfplatz eröffnet und daß es tausender von fleißigen Arbeitern und schöpferischen Pfadfindern bedürfen wird, um ihre reichen, vielfach noch unbekannten Gebiete zu erschließen und erfolgreich zu bebauen.Ga naar voetnoot60.
Wie Jan Romein es ausdrückte, ist Lamprecht Symbol der Krisis und der Veränderung der Geschichtswissenschaft, Ausdruck einer Zeitströmung, die sich um 1900 noch nicht durchgesetzt hat.Ga naar voetnoot61. Zur gleichen Zeit hat in Frankreich Henri Berr die Zeitschrift Revue de Synthèse Historique (1900) begründet und in ihr ein neues Wollen der Zusammenarbeit von Philosophie, Soziologie und Geschichte und neue Wege der historischen Methode verkündet, um die Spezialisierung aller Wissenschaften im Zeichen der Geschichte zu überwinden. In dieser Zeitschrift ist Lamprecht schon im ersten Jahr zu Worte gekommen. Aber die Mehrzahl der Historiker | |
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stand auch hier der Theorie Berrs über die wissenschaftliche Geschichtssynthese kritisch oder ablehnend gegenüber. Gleichwohl hat Huizinga neben Marc Bloch, Pierre Renouvin, Henri Pirenne, George Macaulay Trevelyan dem Conseil d'Administration des ‘Centre International de Synthèse’ angehört, ohne sich mit ihm zu identifizieren. Die Bedeutung der Revue de Synthèse Historique für die Schule der AnnalesGa naar voetnoot62. und die jüngere sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Forschung in Frankreich ist bekannt, ebenso wie die Rückwirkung der Annales auf Deutschland. Eine Zeitlang schien das Gesetz der Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert erneut den ganzen geistigen Bereich beherrschen zu sollen. Die technische Entwicklung, die Raumfahrt, der Computer und die Datenbank haben die Führung übernommen und die Probleme der im 19. Jahrhundert dominierenden sozialen Frage zurückgedrängt. Aber ohne eine geistige Bewältigung der gesamtkulturellen Situation, zu der auch die Technik gehört, geht es nicht. Im Rahmen dieser Bemühungen stehen gegenwärtig die systematischen Sozialwissenschaften, die Soziologie und die Politologie, im Vordergrund des Interesses. Aber ihre Begriffe sind noch leichter manipulierbar als die der Geschichte, sind vom Tagesgeschehen abhängiger und im Zukunftswollen sensitiver als die der historischen Wissenschaft, die um Herkunft und Entwicklung der Probleme weiß. Ich sprach im Anfang meines Vortrages von diesen Kärrnerarbeiten, von denen ich mich losgelöst fühlte, als ich Huizinga las. Ich begreife die Faszination, die vom Herbst des Mittelalters oder der Holländischen Kultur im siebzehnten Jahrhundert ausgeht und in so vielen Lesern in allen Ländern das Interesse für Geschichte geweckt hat. Gegenwärtig hat gewiß die Richtung von Lamprecht gesiegt, und sein Anliegen zu loben - ob man seine Schriften wirklich gelesen hat oder nicht -, ist geradezu ein Erfordernis der geschichtstheoretischen Bekenntnisse des Tages. Die Berufung auf Lamprecht ist Mode; seine Fehler: Selbstüberschätzung, Unsolidität und Dogmatismus, wiegen nicht mehr schwer, und es übersieht sich leicht, daß Lamprechts sozialpsychische Methode gar nicht zukunftweisend gewesen ist. Aber mit all dem ist nichts über die Zukunft der Geschichtsschreibung ausgesagt. Sie kann nicht nur von Zustands- und Strukturanalysen, von Typen, Begriffen und Abstraktionen leben, sie muß auch das Bedürfnis des Lesers nach Anschauung und Erzählung erfüllen, wenn sie eine öffentliche Aufgabe in der Gesellschaft anerkennt. Unter diesem Aspekt aber ist die Entscheidung Huizingas von 1905, das Versprechen einer bildhaften Geschichtsschreibung gegen die Welt der abstrakten Begriffe, das er dann durch die Analyse des psychischen und intellektuellen Bewußtseins eines Zeitalters in besonderer Weise eingelöst hat, ein Wert, den wir nicht untergehen lassen dürfen. Huizinga spricht in seiner Rede vom Moonlight of Memory, das das Vergangene | |
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allzeit überstrahlt.Ga naar voetnoot63. Seine Ästhetik der Bilder hat wohl etwas von diesem Schein, wenn auch die Schärfe der Sonne die Realität der historischen Vorgänge durchdringt. Aber sahen nicht auch Marx und Engels in Bildern? Im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 heißt es an entscheidender Stelle: Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.Ga naar voetnoot64.
So stehen sich ein verfeinertes und ein vergröbertes Geschichtsbild konträr gegenüber. Weder das eine will noch das andere kann uns befriedigen. Der Sozial- und Kulturhistoriker Lamprecht im Angriff wie der Geistes- und Kulturhistoriker Huizinga in der Verteidigung fühlten sich in einer tiefen Krise der Geschichtswissenschaft, beide aber waren überzeugt, ihre Seite hätte bereits gesiegt - Lamprecht im Glauben an die Kraft seiner sozialpsychologischen Methode, Huizinga gestützt auf die logischen Untersuchungen der deutschen Geschichtstheorie. Wir wissen heute, daß die Krise noch immer nicht überwunden ist, sondern neue Krisen nach sich zog. Wir glauben nicht mehr an den Sieg irgendeiner Richtung, fürchten vielmehr um die nackte Existenz. Die einzige Hoffnung ist, daß die Historie durch den ständigen Zwang zur tieferen Reflexion über sich selbst schließlich neue Impulse freisetzt und einen neuen Standort finden wird. |
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