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Theodor Frings
Dülken 23 juli 1886 - Leipzig 6 juni 1968
Dem Buchbinderssohn aus einer niederrheinischen Kleinstadt bei Krefeld, dem ältesten von vier Geschwistern, die ihren Vater früh verloren, hatte es noch nicht an der Wiege gestanden, welchen Aufstieg er in einem über acht Jahrzehnte umspannenden Leben als Gelehrter nehmen würde, und in wie markanter Weise er als Forscher, Lehrer und Großorganisator die Entwicklung der germanistischen Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitbestimmen und prägen sollte. Mit einem glücklichen Erbe begabt, das Erziehung, Umwelt und Erfahrung weiter entfalteten, verbanden sich bei ihm bestimmte Begabungen und Eigenschaften zu einer harmonischen, wirkungskräftigen Einheit, eine gute Gesundheit, ein enormes Gedächtnis, eine sichere Auffassungs- und Kombinationsgabe, ein nüchterner Sinn für das Mögliche und Erreichbare, ein Gefühl für Form und Würde, ein naturhafter Sinn für echte Werte, dazu der Optimismus, die Beweglichkeit, Geselligkeit und Lebensfreude des Rheinländers wie die Kontaktfreudigkeit und Weltoffenheit des Grenzbewohners, des engen Nachbarn der Niederländer. Trotzdem war nach schwierigen Anfängen, der nur schrittweise erreichten Hochschulreife und Studienberechtigung, zunächst noch nicht abzusehen, mit welcher Energie, Dynamik und Folgerichtigkeit er ein Lebenswerk aufzubauen beginnen würde, das er in seltener Kontinuität über viele Jahrzehnte hinweg immer weiter zu entfalten und tiefer zu begründen bestrebt war. Auch später blieb sein Leben von schweren Schicksalsschlägen und äußeren Katastrophen nicht verschont. Seine Tochter verlor er früh durch schwere Krankheit, sein Sohn blieb im zweiten Weltkrieg. Unter den politischen Irrwegen der Deutschen hat er schwer gelitten, sich selbst ein unbestechliches Urteil bewahrend und es unerschrocken äußernd. Auch die Zerstörung vieler seiner Arbeitsmaterialien in den Bombennächten des zweiten Weltkrieges hat seine Energie nicht zu lähmen vermocht. Nicht vergessen werden darf hier der Name seiner Frau Hedwig geb. Schmitz, die, ein lebendiges Stück seiner niederrheinischen Heimat neben ihm, durch alle Etappen seines Wirkens bis zu seinem Lebensende die äußeren Voraussetzungen schuf, die er zu seiner Entfaltung benötigte. Sie starb wenige Monate nach ihm.
Die Stationen seines Weges sind bald aufgezählt. Theodor Frings pro- | |
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movierte 1911 in Marburg, ging zunächst in den Bonner Schuldienst, war dann kurze Zeit Assistent am ‘Rheinischen Wörterbuch’, habilitierte sich 1915 an der Universität Bonn, die ihn 1917 zum außerordentlichen und 1919 zum ordentlichen Professor ernannte. In dieser Zeit entstand ein enger Kontakt zu den Niederlanden, die er mehrfach zu Studienaufenthalten und Gastvorlesungen besuchte. 1927 folgte er einem Ruf auf den Leipziger Lehrstuhl als Nachfolger von Eduard Sievers. Dort blieb er und gab auch nach Beendigung des zweiten Weltkriegs lockenden Rufen nach auswärts nicht nach. Er schlug Ehrenstellungen aus, sofern die Gefahr bestand, daß sie ihn von seinen wissenschaftlichen Anliegen abführten, scheute aber keine neue Bürde, sofern diese versprach, ihn auf dem angetretenen Wege voranzubringen. Sofort nach Kriegsende setzte auch er sich mit aller Kraft für den Wiederaufbau der Universität und ihrer Bibliothek sowie die Aufnahme eines geregelten Studienbetriebes und die Reform der Studienpläne ein. Ab 1948 war er nach der Wiedereröffnung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig deren amtlich bestätigter Präsident und ab 1952 Direktor des neu gegründeten Instituts für deutsche Sprache und Literatur bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Die Bürde all dieser Ämter in Forschung und Lehre hat er, mit erstaunlicher Willenskraft begabt, bis wenige Jahre vor seinem Tode in ungebrochener Kraft getragen und dadurch zu seinem Teil den Aufbau der Wissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik gefördert. Die Leipziger Zeit wurde nur selten, und je später desto weniger unterbrochen durch gastweise Aufenthalte oder Besuche in Skandinavien, in der Schweiz, in Österreich. Aber so wenig Bewegung sein Lebenslauf äußerlich auch zeigt, sein Werk war in Konzeption, Ausbau und Wirkung international. Bedeutende Germanisten aus aller Welt brachten das seinerzeit so zum Ausdruck, daß sie ihn in der Festgabe zu seinem 70. Geburtstag grüßten als ‘den unermüdlichen Kämpfer für die Weltweite der Wissenschaft und die geistige Verbundenheit ihrer Vertreter.’
Theodor Frings ist zeitlebens von seinen Anfängen her bestimmt geblieben. Den großen Konzeptionen seiner jungen Jahre blieb er, da sie sich im Kern als richtig, fruchtbar und weiterführend erwiesen, treu, und überprüfte sie ständig an der Praxis, in deren komplizierte Komplexität er wachsend tiefere Einsichten gewann. So hat sein Werk jeweils zwei Seiten, einmal die großen Grundgedanken, die kühnen, vereinfachenden Zusammenfassungen, die Hervorhebung des Wesentlichen, zum andern die sorgfältige Beachtung der erdrückenden Fülle der Erscheinungen, von
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deren Vielseitigkeit kein auch noch so kleines Detail vernachlässigt wurde. In diesem Sinne bildeten Akribie und Großzügigkeit bei ihm keinen unversöhnlichen Widerspruch, sondern wurden in ihrer Vereinigung zum Quell geistiger Bewegung und wissenschaftlichen Voranschreitens.
Zu einer von Frings' Grundkonzeptionen gehört die Auffassung, daß Sprachgeschichte Menschheitsgeschichte im tiefsten Sinne des Wortes sei. Der junge Dialektgeograph aus der Schule des Sprachatlasbegründers Ferdinand Wrede begann mit der Beobachtung der Sprache, die am Boden haftet, der lebenden Mundart seiner Heimat, wobei er aber schon in seiner Dissertation Studien zur Dialektgeographie des Niederrheins zwischen Düsseldorf und Aachen (1913) weiterschritt zu grundsätzlichen Fragen ihres Lebens in Raum und Zeit unter Einbezug des Menschen in seinen natürlichen und gesellschaftlichen Bindungen wie vor allem seiner Geschichte. Er fragte nach dem Warum einer bestimmten Erscheinung zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Er fragte nach der historischen Kausalität, nach der Wechselwirkung von Sprache und Geschichte, von Sprache und Gesellschaft. Mit dem Einbezug dieser dynamischen Faktoren durchbrach Frings den Dogmatismus der Junggrammatiker. Es ist z.B. sein Verdienst, die Bedeutung der spätmittelalterlichen Territorien für die Ausbildung der Dialektgrenzen der Neuzeit herausgestellt zu haben. Waren während der Bonner Zeit die rheinischen Mundarten der gegebene Ausgangspunkt, um mit veralteten sprachwissenschaftlichen Anschauungen zu brechen, so in Leipzig die mitteldeutschen, die durch ihre völlig andere Entstehung im Zuge der feudalen Ostexpansion vor ganz neue Probleme stellten. Hier wurden die Siedlerströme als bestimmender erkannt als die Territorien. Diese Ansätze weiteten sich in einem ersten Schritt zu Sprachgeschichten einzelner Landschaften, so zur Rheinischen Sprachgeschichte (1922), zu den Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden (1926), später vereint und erweitert in Sprache und Geschichte i, ii (1956), wie Sprache und Siedlung im mitteldeutschen Osten (1932), den Grundlagen des Meißnischen Deutsch (1936) und den Kulturräumen und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten (1936), später vereint und vermehrt in Sprache und Geschichte iii (1956). Sie weiteten sich auch zu einem neuen Bild vom Werden der neuhochdeutschen Gemein- und Schriftsprache, Der Weg zur deutschen Hochsprache (1944). Frings wies, gewiß einseitig überspitzend, wie wir heute sehen, aber damals geltende Irrmeinungen berechtigt damit entkräftend, auf die mundartliche Basis des Neuhochdeutschen in der ostmitteldeutschen Ausgleichssprache der Siedler, hat aber auch schon die
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ostmitteldeutsch-oberdeutsche Symbiose auf höherer Ebene der Schreibsprache gesehen und betont.
In einem weiteren Schritt zielte er dann, vielfältige Erfahrungen und Erkenntnisse verbindend, auf eine anspruchsvolle Grundlegung der Geschichte der deutschen Sprache (1. Aufl. 1948, 2. erw. Aufl. 1950, 3. erw. Aufl. 1957), kein bequemes Lehr- und Handbuch, sondern eine geniale, eigenwillige Skizze, aus Vorträgen zusammengewachsen, die ihresgleichen unter den vielen vorhandenen Geschichten der deutschen Sprache nicht findet, und die nach des Verfassers eigenen Worten nur ‘Grundlegung und Balkenwerk’ sein will. Sie wurde begleitet von einer Fülle inzwischen berühmt gewordener anschaulicher Karten.
Früh erkannte Frings die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit und kooperativer Arbeitsteilung und schuf an allen seinen Wirkungsstätten immer neue, den jeweiligen Projekten angepaßte Arbeitskollektive, die er meisterhaft zu leiten und sicher zu den angezielten Ergebnissen zu führen verstand. Das galt schon für die rheinische Zeit und die fruchtbare Zusammenarbeit mit Hermann Aubin und Josef Müller, was mit entsprechenden Partnern und je später je mehr auch Schülern in Leipzig fortgesetzt wurde.
Die Begegnung mit Romanisten wurde bei dem Blick auf den rheinischen Westrand und darüber hinaus unvermeidlich. Hier stellten sich Fragen der Germania Romana wie der Romania Germanica. Ihnen ist Frings, weit über den lokalen dialektgeographischen Anlaß hinaus, in die Tiefen der Geschichte vordringend, im Lautlichen (Germanisch ō und ē [1939]) wie vor allem im Wortschatz nachgegangen, außer in der Germania Romana von 1932 in vielen grundlegenden Aufsätzen und Beiträgen, deren Ergebnisse aus einer Geschichte der deutschen Sprache nicht mehr wegzudenken sind.
Dies alles wäre nicht möglich gewesen ohne große Materialsammlungen. Darum war Frings zeit seines Lebens auch der große Anreger, Förderer, Leiter und vor allem auch selbst produktive Nutzer von Wörterbuchunternehmungen. Das begann schon mit dem Rheinischen Wörterbuch, das er mit begründete, und dessen Bearbeitung er auf einen Weg leitete, der einen Abschluß in absehbarer Zeit sicherstellte. In Leipzig konzentrierte er die Wortschatzsammlungen zum Althochdeutschen von Elias Steinmeyer bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und brachte mit Elisabeth Karg-Gasterstädt die Arbeiten an einem breit angelegten Althochdeutschen Wörterbuch in Gang, von dem er zwar bis zu
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seinem Tode nur das Erscheinen eines ersten Bandes (a und b) erleben durfte, aber dessen Materialien er in einzigartiger Weise für die Geschichte der deutschen Sprache fruchtbar gemacht hat. Es sei hier außer auf den weltweit anerkannten großen Wurf der Germania Romana (1932, 2. Aufl. 1966 besorgt von Gertraud Müller) nur auf den bei der Wiedereröffnung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig im Jahre 1948 gehaltenen Vortrag Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache gewiesen, eine Perle der Vortragskunst, an der sich der Meister der Sprache, der knappen, treffenden und anschaulichen Formulierung besonders gut studieren läßt, oder auf den nur im Ausland (Schweiz, Schweden, Rumänien) gehaltenen Vortrag Glaube, Liebe, Hoffnung, der erst 1971 aus dem Nachlaß publiziert wurde. Dem Romanisten Walther von Wartburg steuerte Frings zu seinem Französischen Etymologischen Wörterbuch in der Aufsatzreihe Französisch und Fränkisch Wichtiges zu den germanischen Lehnwörtern im Französischen bei. In Leipzig richtete er bald nach seinem Amtsantritt eine Arbeitsstelle für ein Obersächsisches Wörterbuch ein, die im Brande des Jahres 1943 mit ihrem gesamten Material vernichtet wurde. Sie wurde 1955 erneut von ihm ins Leben gerufen. Als Direktor des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin sammelte er die germanistischen Großunternehmen der ddr unter den fördernden Schutz dieser Institution und sorgte mit beispielloser Energie für die Vollendung des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm nach rd. 100-jähriger schwieriger Geschichte dieses Werkes.
Nur auf einer solchen Erfahrungsgrundlage und mit einem weit über das deutsche Sprachgebiet gerichteten Blick, der sich souverän über staatliche und nationale Grenzen hinweg auf alte übergreifende Gemeinsamkeiten und Unterschiede konzentrierte, konnte Frings vorstoßen zu neuen Vorstellungen über den Aufbau des Deutschen und des Germanischen wie des Niederländischen und des Niederdeutschen. Er erkannte die zentrale Schlüsselstellung des Niederländischen im Aufbau des strittigen Westgermanischen zwischen dem Englischen und Festlanddeutschen. Von besonderer Wirkung, zumal im Ausland, war sein 1943, in Deutschlands dunkelster Zeit während der Besetzung der Niederlande durch die Nazis vor der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig gehaltene Vortrag Die Stellung der Niederlande im Aufbau des Germanischen, 1944 separat und dann, nach seinem Tode, 1971 noch einmal im Rahmen seiner Kleinen Schriften gedruckt. War hier schon das Ingwäonenproblem ange- | |
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rissen, so reizte ihn das Buch von H. Teuchert über die Sprachreste der niederländischen Siedlungen des 12. Jahrhunderts (1944) zu weiterer intensiver Beschäftigung damit. Deren Frucht war nach vielerlei Vorarbeiten die mit G. Lerchner 1966 gemeinsam verfaßte Arbeit Niederländisch und Niederdeutsch. Aufbau und Gliederung des Niederdeutschen. Hinter Frings' letzten sprachwissenschaftlichen Aufsätzen mit den sehr speziell scheinenden Titeln wie z.B. Vom ‘g’, von seinen Lautwerten und von germanischen Sprachlandschaften (1955), Flämisch ‘kachtel’ (Füllen), lateinisch ‘capitale’, und der Übergang von ‘ft’ zu ‘cht’, deutsch ‘Kraft’, niederländisch ‘cracht’ (1961), Possessivpronomen zwisschen Niederländisch und Deutsch (1971 aus dem Nachlaß) steht mehr als die Behandlung eines Spezialthemas. Sie zeigen, was die sprachhistorische Beherrschung der gesamten Germania in ihrer Weite und Tiefe für neue und grundlegende Erkenntnisse verspricht. Allen Spekulationen und aller Erstarrung im System feind, halten seine Gedankenkreise trotz aller Rundung den Weg nach allen Seiten offen und spornen zum Mitgehen und Weitergehen auf diesen allerdings rauhen und steilen Wegen an.
Einen ähnlichen Weg wie auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft legte Frings bei der Beschäftigung mit der Literatur zurück. Auch hier wurden die Weichen schon in seiner Frühzeit gestellt, und kleine Anfänge wuchsen sich zu Riesenprojekten aus. Aus einer Sprachgeschichte des Nordwestens waren natürlich neben anderem die literarischen Texte nicht wegzudenken. Und hier waren es von Anfang an Texte, die sowohl sprachlich wie literarisch scheinbar unlösbare Fragen aufwarfen, die Frings faszinierten und sein ganzes Leben nicht mehr losließen: Die Werke des Heinric van Veldeken, der Rother, Morant und Galie. Über die intime sprachliche Beschäftigung mit diesen Denkmälern wurde er auch zum Editor, und er hat sich in allen Stufen der Editionskunst erprobt vom vorbildlichen diplomatischen Handschriftenabdruck (König Rother hg. von Th. Frings und J. Kuhnt, 1. Aufl. 1922) über den kritischen Text (Veldekes Sente Servas hg. von Th. Frings und G. Schieb 1956; Morant und Galie hg. von Th. Frings und E. Linke, aus dem Nachlaß im Druck) bis zur kritischen Ausgabe höchsten Anspruchs mit synoptischer Darbietung von handschriftlicher Überlieferung und kritischem Text (Veldekes Eneide hg. von G. Schieb und Th. Frings 1964, 1965, 1970). Die Ausgaben waren jeweils begleitet von tiefschürfenden laut-, formen- und wortgeschichtlichen Untersuchungen, zu denen er immer wieder neue Mitarbeiter heranzog. Diese Untersuchungen lieferten weit über ihren unmittelbaren Anlaß hinaus Beiträge zur
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Geschichte der deutschen Sprache an bisher zu Unrecht vernachlässigten Stellen. Was sie an Ergebnissen zu Tage förderten etwa über die einheitliche maasländische Dichtersprache in allen Werken Veldekes, des Wegbereiters der deutschen höfischen Klassik, wie über die niederrheinische Dichtersprache der Chansons de Geste Morant und Galie und Karl und Galie, hat viel Staub aufgewirbelt und manchen Widerspruch der Unbelehrbaren hervorgerufen, aber auch vielfach zum Weiterforschen, zumal auf niederländischer Seite, angeregt. Es ist Frings' Verdienst, die kurze Blüte einer maasländisch-westmitteldeutschen Literaturprovinz französischen Geschmacks vor und um 1200 wieder ans Licht gehoben zu haben, die durch das Hauptinteresse der Forschung an der mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Klassik völlig vergessen oder falsch interpretiert zu werden drohte.
Wie in der Sprachgeschichte so ist für Frings auch in der Literaturgeschichte charakteristisch sein Blick über die Grenzen von Staaten, Nationen, Kulturkreisen und Barrieren der Wissenschaftsdisziplinen hinweg wie sein Sinn für alles Echte, Naturgewachsene, ‘Volkstümliche’. Daher sein besonderes Interesse für die Grundtypen und einfachen Formen des allgemein menschlichen Dichtens der Völker und ihre geschichtliche Entwicklung in der Wechselwirkung von Einzelnem und Gesellschaft.
Durch Slawisten angeregt stellte er den rheinischen Spielmann neben den serbischen Sänger und russischen Skomorochen und löste so dessen umstrittene Gestalt aus der Vereinzelung. Das Wissen um einheitlich gesamteuropäische vor- und frühliterarische Entwicklungen ließ ihn im Streit der Meinungen in großen Zügen den Weg zeichnen, wie er ihn sah, ‘vom Lied zum Kurzepos, zum Großepos und am Ende zu den riesenhaften Formen, die im späten Mittelalter daraus werden’, ohne zu übersehen, daß die Entwicklung in Einzelfällen auch, historisch und gesellschaftlich bedingt, anders verlaufen konnte und verlaufen ist. Höhepunkte dieser Forschung waren neben vielen Spezialstudien sein 1938 in Amsterdam als Ehrendoktor dieser Universität gehaltener Vortrag Europäische Heldendichtung und sein mehrfach gedruckter zusammenschauender Aufsatz Die Entstehung der deutschen Spielmannsepen (1939, 1951, 1971). Kein Wunder, daß er nach der Begegnung mit V. Schirmunski in diesem einen Weggenossen erkannte, dessen 1961 aus dem Russischen übersetzte Vergleichende Epenforschung er begrüßte und dessen Londoner Vortrag On the Study of Comparative Literature von 1966 ihn noch am letzten Abend vor seinem plötzlichen Tod zu fragmentarisch gebliebenen Notizen eigener
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Gedanken und Einsichten anregte. Frings' spätere intensive Beschäftigung mit der Lyrik greift gewiß auch frühe Anregungen wieder auf. Er hat oft wiederholt, wie unvergeßlich ihm aus seiner Studienzeit als Minnesang-Seminar von Friedrich Vogt und die Vorlesungen von Eduard Wechssler geblieben seien, aus denen 1909 dessen Werk Das Kulturproblem des Minnesangs hervorgegangen ist.
Und dann natürlich Veldeke, dessen Lyrik nicht nur schwierige sprachliche Probleme aufwarf, sondern auch literarische. Die sprachlichen suchte Frings mit der Erstellung eines neuen kritischen maasländischen Textes für die Neubearbeitung von Des Minnesangs Frühling von Carl von Kraus 1940 zu lösen, dessen Begründung dann gesondert 1947 (mit G. Schieb) folgte. Literarisch gab Veldekes Lyrik Fragen auf einmal durch das Phänomen des Nebeneinanders und der Durchschichtung von schlicht Volkstümlichem und Gesellschaftskunst höchsten höfischen Anspruchs, zum andern dadurch, daß sich Veldekes Kunstübung in den Rahmen des deutschen Minnesangs nicht fügen wollte und zu ihrer Erklärung dazu herausforderte, die Grenzen der Nationalliteraturen zu überschreiten. Bei Veldeke wie dem älteren deutschen Minnesang überhaupt reizte es Frings vor allem, den einfachen Formen, den Grundtypen, dem ‘Volkstümlichen’ nachzugehen, um von dort stufenweise aufzusteigen zu dem, was sich an Kultur und Kunst Einzelner und der Gesellschaft wie in Ringen wachsend anlegt, um Hochleistungen gepflegter Kunstdichtung heranzubilden. Daß er den Blick von der Germania auf Europa und von da, wo nötig, auf die ganze Welt richtete ‘von Portugal bis China’, gibt seinen großzügigen Vorträgen Minnesinger und Troubadours (1949) und Die Anfänge der europäischen Liebesdichtung im 11. und 12. Jahrhundert (1960) besonderen Rang. Er bekannte sich ausdrücklich zum ‘romantischen Weg’ in der Forschung, zu Herders Stimmen der Völker in Liedern. Die Überschichtung und Durchschichtung der einfachen Formen durch gesellschaftsgebundene Kunstlyrik, die Verritterung und Höfisierung der deutschen Lyrik unter dem Einfluß provenzalischer, französischer und mittellateinischer Vorbilder stellte er besonders eingehend für einige Lieder Walthers von der Vogelweide und Heinrichs von Morungen dar. Er hatte sich große Zettelsammlungen der gesamten europäischen Liebeslyrik angelegt, die ihm immer weitere großzügige Vergleiche und tiefschürfende Interpretationen ermöglichen sollten, zu denen er leider nicht mehr kommen konnte. Besonders erregt hat ihn das Erscheinen der zwei Bände Medieval Latin and the rise of European Love-Lyric (1965-66) von Peter Dronke, der darin u.a. die
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kühne Hypothese von der uralten Einheit von ‘volkstümlicher’ und ‘höfischer’ Liebeslyrik und der gleichen allgemeinmenschlichen Wurzel der ‘courtly experience’ aufgestellt hat. Es wäre gewiß zu mehr als einer Rezension im üblichen Sinne gekommen, wenn Frings die Zeit dazu noch vergönnt gewesen wäre. Darauf deutet schon sein Versuch, zwei bei Dronke mitgeteilte mittellateinische Gedichte aus dem Regensburger Codex zum Frauenlied Veldekes mfr 57,10 in Beziehung zu setzen (1967).
Über dem imponierenden Forscher Frings darf der wirkungskräftige Lehrer und Erzieher nicht vergessen werden. Seine Hörer und Schüler sind zahllos gewesen, und jeder ließ sich gern in den Bann seiner Persönlichkeit ziehen, zumal das Feld seiner Interesssen so weit war, und er fundierte abweichende Meinungen immer respektierte. Er machte es allerdings niemandem leicht. Seine Vorlesungen entbehrten oft der Rundung und Systematik. Grundwissen konnte man sich anderwärts aneignen. Dafür aber erlebte man die Dynamik wissenschaftlicher Fragestellungen, den energischen Zugriff auf neue Lösungsversuche, erhielt Einblick in laufende Forschungsprojekte. Zumal seine Schüler nahm er in härteste Zucht, um sie auf den Weg zu wissenschaftlicher Prägnanz, zu einem unbestechlichen Urteil und Beschränkung auf das Wesentliche zu führen. Waren diese Grundbedingungen erfüllt, ließ er den Mitarbeitern seiner Forschungskollektive bei festgelegtem wissenschaftlichen Ziel große individuelle Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, ja entließ sie bald zu selbständiger Mitarbeit. Seine Menschenkenntnis ließ ihn jeden an der richtigen Stelle einsetzen zu rationellster Arbeitsteilung und baldigem Erfolg. Er war ein Kopf, der hundert Hände brauchte, den Reichtum der Ideen und andringenden Fragen zu bewältigen, und es lag in seiner Persönlichkeit, sie auch zu finden. So hat er seinem Lebenswerk viele Namen verbunden. Selbst blieb er zeitlebens ein Lernender auf allen Gebieten, aufgeschlossen für alle Neue und den Menschen Fördernde, sofern es nur von echt humanistischem Geist getragen war, der auch seine eigenen Entschlüsse bestimmte. Kein Wunder, daß in der Zeit des Übergangs von überragenden Einzelpersönlichkeiten, die den Fortschritt der Wissenschaften bestimmten, zur Konzentrierung in überpersönlichen Wissenschaftsorganisationen, die die Entwicklung in bewußte Leitung nahmen, er dazu prädestiniert erschien, hohe leitende Stellungen in diesen Organisationen, zumal den Akademien, zu bekleiden. Er wurde in den Jahren des antifaschistisch-demokratischen Aufbaus in der heutigen Deutschen Demokratischen Republik geradezu zur Verkörperung des Akademiege- | |
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dankens. 1945 von den Mitgliedern der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig zum Präsidenten gewählt, hat er unermüdlich um deren Wiedereröffnung gerungen. Sie erfolgte 1948; er übernahm nun offiziell die Präsidentschaft, die er 20 Jahre, bis 1965, in fester Hand innehatte. Auch in der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hat er als Sekretar der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst die Entwicklung maßgebend beeinflußt, ebenso als erster Direktor des 1952 neu begründeten Instituts für Deutsche Sprache und Literatur. Mehrere Jahre hindurch hat er dann als Krönung dieser Entwicklung alle Akademien des deutschen Sprachgebiets bei der Union Académique International in Brüssel vertreten. In all diesen Institutionen sammelten sich alte und neue Großunternehmen, Wörterbücher, Editionen, Publikationsreihen, von denen Frings viele selbst ins Leben gerufen bzw. betreut hat. Unter den Zeitschriften sind es vor allem die Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, denen er, seit er sie 1933 übernahm, während über 30 Jahren Herausgeberschaft über schwerste Katastrophen hinweg Weltgeltung verschafft und erhalten hat.
Die Ehrungen blieben nicht aus. Die früheste war 1920 die Wahl zum Mitglied der Maatschappij der Nederlandse Letterkunde te Leiden. Er wurde Amsterdamer (1937), Genter (1962) und Leipziger (1966) Ehrendoktor, ordentliches, ausländisches, korrespondierendes oder Ehren-Mitglied vieler in- und ausländischer Akademien und gelehrter Gesellschaften, Hervorragender Wissenschaftler des Volkes und zweimal Nationalpreisträger der Deutschen Demokratischen Republik, um nur die hervorstechendsten Ehrungen zu nennen. Er hat in der Tat die Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend und bleibend mitgeprägt und ist aus ihr nicht mehr fortzudenken.
Gabrielle Schieb
Die Veröffentlichungen von Theodor Frings sind bis 1956 lückenlos verzeichnet im Schriftenverzeichnis, zusammengestellt von Dr. Adalbert Plott und einem Mitarbeiterkreis (In: Fragen und Forschungen im Bereich und Umkreis der germanischen Philologie. Festgabe für Th. Frings zum 70. Geburtstag 23. Juli 1956. Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 8, 1956, S.399-427).
Die Fortsetzung bis zu seinem Tode, zusammengestellt von Ilse Stohmann, findet sich in Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 91 (1), 1969, S.239-249; 91 (2), 1971, S.558.
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