Andere historische Anschauungen boten Anhaltspunkte für dieses Bild (Kapitel V): das deutsche, vor allem bei von Treitschke grossartig entfaltete, das kalvinistisch-antirevolutionäre (Groen van Prinsterer) und das grossniederländische Geschichtsbild (Geyl). In der Arbeit Christoph Stedings ist der Anschluss an das ältere deutsche Geschichtsbild zu erkennen, bei Hugo Visscher ist das antirevolutionäre Geschichtsbild noch immer die Grundlage seiner nationalsozialistischen Kritik an der niederländischen Geschichte, und van Roosbroeck schliesst sich in gewisser Hinsicht dem grossniederländischen Geschichtsbild an.
Bei der Auffüllung des Schemas, in Kapitel VI der Zeitfolge nach beschrieben, erwiesen sich einige Fragestellungen und Resultate der nationalsozialistischen Studien über die niederländische Geschichte als fruchtbar: z.B. die Bildung der Sprachgrenze in den südlichen Niederlanden, die niederländisch-deutsche geistige und politische Grenzbildung, die staatrechtlichen Verhältnisse zwischen den Niederlanden und dem Reich, die niederländischdeutschen Kontakte im 19. Jahrhundert usw. Einige Veröffentlichungen ragen aus der meistens journalistischen Schreiberei hervor entweder durch die wissenschaftlichen Resultate (z.B. die Untersuchungen Petris über die Sprachgrenze, die Arbeit Reeses über die Niederlande und das Reich im Mittelalter, das Material über die Ostkolonisation, eine Quellenpublikation des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des burgundische Kreises, die ‘Memoiren’ Sandbergs über den Burenkrieg) oder durch die neue Problemstellung (z.B. Edith Ennens Charakterisierung eines Idealtyps der europäischen Stadt im Mittelalter, die Anschauung Hans de Vries' über die soziale Seite der Spaltung der nördlichen und südlichen Niederlande, die späte Eingliederung der Provinz Limburg in den nordniederländischen Staatszusammenhang usw). Andere Elemente im nationalsozialistischen Geschichtsbild sind wichtiger für unsere Kenntnis der Ideologie und Mentalität des Nationalsozialismus als in wissenschaftlicher Hinsicht: z.B. rassenbiologische Interpretationen und die damit zusammenhängende mythologisierende Heldenverehrung des namenlosen Wikings, Kerels, Geusen und Brigands; die wechselnde Wertung Karl des Grossen, anfänglich als Sachsenmörder geschmäht, später als erster Gründer des Reiches geehrt; die Kritik an der
‘Triebhäuserkultur’ des goldenen Zeitalters (Krekel ‘holländisches Idyll’); der Versuch einiger SS-publizisten den Sozialdemokraten Troelstta als Nationalsozialisten einzuverleiben usw.
Variationen und Abweichungen dieses Geschichtsbildes blieben nicht aus (Kapitel VII). Historisch aufgemacht kamen bald aktuelle politische Gegensätze im Nationalsozialismus ans Licht. Ein Aufsatz über Schimmelpenninck - den Ratspensionär während der französischen Besatzung (1805-1806) - verglich diesen patriotischen ‘Collaborateur’ mit dem Führer der NSB Mussert, und veranlasste damit einen öffentlichen Konflikt zwischen NSB und niederländischer SS. Auffallend war die deutsche Abwehr der grossniederländischen Geschichtsauffassung, sogar die historische Bedeutung der Sprachgrenze wurde relativiert und eine ‘Germanisierung’ der Wallonen angestrebt (Petri). Antikalvinistische Polemik wurde durch die Veröffentlichung Hugo Visschers ausgelöst. Nationalistische Abwehr der niederländischen Nationalsozialisten gegen die Verwischung der Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden ist ebenfalls in historischem Gewand zu finden und schliesst sich dem ‘kleinen Kampf’ gegen die Verdeutschung im VNV und in der NSB an. Ein Aufsatz von Robert van Roosbroeck zeigt sogar in der historischen Betrachtungsweise Unsicherkeit und innern Widerspruch.
Wenn man das Schlussergebnis überblickt, so muss die Dürftigkeit des kulturellen und wissenschaftlichen Niveaus auffallen. Einerseits sind daran die Umstände schuld (Kriegsanstrengung, kurze Zeit für die Beeinflussung durch die Ideologie usw.) aber andererseits beweist diese Dürftigkeit den Nachteil der Unfreiheit in der Wissenschaft, insbesondere bei den deutschen Historikern, die sich entweder ideologisch hinreissen liessen (Reese und Petri z.B.) oder durch Isolierung von der nicht-deutschen Aussenwelt einseitig und beschränkt wurden (z.B. Edith Ennen). Trotz der Mangelhaftigkeit der nationalsozialistischen Geschichtsforschung hat dieses Studium einige fruchtbare Resultate gezeitigt: (1) für die Fortsetzung historischer Untersuchungen (auf dem Gebiet der deutsch-niederländischen Beziehungen im weitesten Sinne), (2) für die Geschichte des Nationalsozialismus als solcher, (3) als Spiegelbild der eigenen Zeit im allgemeinen.