Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts
(1981)–Ferdinand van Ingen– Auteursrechtelijk beschermdIIINoch 1634 ist Johann Balthasar Schupp nach Leiden gereist, ‘nur zu dem Ende, daß ich die opinion haben möge, daß ich mit dem großen Heinsio [...] sey bekandt gewesen’,Ga naar eind50 und ein Brief Buchners feiert Heinsius noch 1645 als ‘miraculum orbis, seculi decus’.Ga naar eind51 Als Andreas Gryphius sich 1638 in Leiden immatrikulierte, hatte Heinsius seinen Höhepunkt tatsächlich jedoch schon überschritten. Claudius Salmasius, seit 1631 in Leiden tätig, machte ihm den Rang streitig.Ga naar eind52 Auch Gryphius, der während seines fast sechsjährigen Aufenthaltes den Streit zwischen den akademischen Lehrern aus nächster Nähe verfolgen konnte, anerkannte zwar Heinsius' Be- | |
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deutung, äußerte sich aber sonst ebenso abfällig über ihn wie über Boxhorn, Professor der Eloquenz und Geschichte, und hielt sich an Salmasius.Ga naar eind53 Aus Salmasius' Historiae Augustae Scriptores hat Gryphius vielleicht den Stoff für seinen Papinian geschöpft;Ga naar eind54 bei dem unterstellten engeren Verhältnis zu SalmasiusGa naar eind55 ist um so auffälliger, daß Gryphius in den Anmerkungen zum Carolus Stuardus Salmasius' Defensio regia pro Carolo I (1649) nicht erwähnt.Ga naar eind56 In den Niederlanden, wo die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Recht des Volkes bzw. Individuums und der Souveränität des Herrschers lebhaft diskutiert wurde,Ga naar eind57 verteidigt Salmasius das Herrschertum von Gottes Gnaden. Neben den bekannten Leidener Vertretern des Neustoizismus kommt deshalb Salmasius bei der Entwicklung von Gryphius' Staatsauffassung eine besondere Bedeutung zu.Ga naar eind58 Dieser war es auch, der Gryphius 1640 mit einer lobenden Eintragung in dessen ‘Album amicorum’ beehrte; er nennt ihn einen ‘ausgezeichneten Dichter’.Ga naar eind59 Das war wohl mehr als eine unverbindliche Gefälligkeit: Ein Jahr zuvor waren in Leiden die Son- undt Feyrtags Sonnete erschienen, es folgten 1643 das erste Buch der Oden und das erste Buch der Sonette sowie das erste Buch der Epigramme und das Epigrammatum Liber I.Ga naar eind60 Die Leidener Jahre waren somit für Gryphius' literarische Entwicklung äußerst wichtig, man kann sagen, daß die in Leiden veröffentlichten Werke erst das Versprechen einlösten, das die Lissaer Sonette enthielten.
Im gleichen Jahr, in dem Gryphius sich in Leiden immatrikulierte, wurde die ‘Amsterdamsche Schouwburgh’ mit Vondels Gysbreght van Aemstel eröffnet, mit dem Drama also, das nachweislich Leo Armenius und Catharina von Georgien zutiefst beeinflußt hat. Die Beziehung zu Vondel hat die Forschung schon früh beschäftigt. Die positivistischen Arbeiten von Kollewijn und Stachel haben gewiß Verdienste, aber erst Flemmings Studien haben, über wörtliche Entlehnungen hinaus, sowohl den weiterreichenden Einfluß des Vondelschen Dramas wie dessen selbständige Verarbeitung bei Gryphius aufgezeigt.Ga naar eind61 Ebenso wie Opitz sich an Heinsius geschult hat, hat Gryphius aus Vondels Dramenstil seinen eigenen, den ihm gemäßen Stil entwickelt.Ga naar eind62 In letzterem Fall jedoch begegneten sich Dichter von gleichem Rang. Ich übergehe hier die Fragen des Vondel-Einflusses im einzelnen, über die man sich in der Literatur orientieren kann,Ga naar eind63 möchte aber noch auf den so ganz anderen Bildgebrauch bei Gryphius aufmerksam machen und eine mehr beiläufige Bemerkung von Weevers unterstreichen, daß Gryphius auch die von Vondel übernommenen Metaphern in barocker Manier auflädt.Ga naar eind64 Ferner ist von Bedeutung, daß Gryphius' politisches Interesse sich aus niederländischen Quellen genährt hat, die in Leo Armenius deutlich durchschlagen,Ga naar eind65 und daß er für dieses Drama vom Tyrannenmord sich an Hoofts Geeraerdt van Velsen anlehnte, das die Rechte von Fürst und Volk zu bestimmen sucht.Ga naar eind66 Die in Leo Armenius dargestellte Problematik konnte also mit dem Interesse des holländischen Publikums rechnen. Tatsächlich wurde dieses Schauspiel 1659 ins Niederländische übersetzt, eine Tatsache, die um so bedeutsamer ist, als es sich hier um die erste niederländische Übersetzung eines deutschen Dramas der Neuzeit handelt. Der Bearbeiter ist Adriaan Leeuw, ein bekannter Schauspieler am Amsterdamer Theater;Ga naar eind67 der auch viele französische Stücke übersetzt hat.Ga naar eind68 Die Gryphius-Übersetzung ist gekonnt, doch oberflächlich; die barocke Bildhäufung wird öfters aufgelöst, wobei ein Bild herausgelöst und selbständig erweitert wird, schließlich werden Kürzungen und Szenenumstellungen vorgenommen.Ga naar eind69 Wichtiger sind die Änderungen in bezug auf Gehalt und Tendenz. Die Frage, ob der Tyrann Leo eher ein Märtyrer oder aber Tyrann und Märtyrer zugleich ist, stellt sich der niederländische Übersetzer nicht, für ihn ist Leo nur der Gewaltherrscher, der seine gerechte Strafe erleidet.Ga naar eind70 Michael ist für ihn das Werkzeug des Himmels, infolgedessen ist die Bearbeitung auf eine Stilisierung des Kontrahenten angelegt. Die Szene mit der doppeldeutigen Weissagung des Zauberers wird gestrichen, ebenso die Szenen, in denen Leo sich als Michaels Wohltäter lobt (I, 145-170) und Michaels Neid auf Leo zu deutlich zutage tritt (I, 291-303). Solche Kürzungen wur- | |
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den keineswegs nur aus dem Grunde vorgenommen, das Stück ‘op onzen Schouwburg tot spelen bekwaam te maken’ (Widmung), vielmehr korrumpieren sie absichtlich die tiefgründige Problematik des dramatischen Geschehens. So zeigt die in mehrfacher Hinsicht interessante Übersetzung - die bisher in der deutschen Forschung nicht beachtet wurde -, daß die fehlende Eindeutigkeit des Dramas, die zu den widersprüchlichsten Interpretationen Anlaß gegeben hat, schon den Zeitgenossen bewußt gewesen ist: Bei Leeuw ist Michael eindeutig zum Helden des Dramas geworden, die Komplexität von Gryphius' Gedanken, in denen menschliches Verfehlen und göttlicher Ratschluß so undurchsichtig verwoben sind, wurde simplifiziert. Das ist um so merkwürdiger, als Gryphius in seinem Erstlingsdrama Vondel geistig am nächsten steht. Gerhard Kaiser hat hervorgehoben, daß Gryphius ‘in keinem anderen seiner Dramen’ die ‘Einheit von Verborgensein und Offenbarsein’ Gottes ‘mit solcher Genialität’ dargestellt hat.Ga naar eind71 Hier liegt zugleich die Wesensverwandtschaft mit Vondel, der von der Unergründlichkeit der göttlichen Weisheit sagt: Gottes Weisheit, unter die sich alles ehrfürchtig beugen muß, übersteigt unser Denken und unseren Verstand, der des Schatzes unkundig ist, welcher bei Gott, in Weisheit und Allwissenheit unendlich, verborgen liegt - Godts wijsheit, die het al wat leeft kan overtuigen,
Vermaent de wijsten zich en hun vernuft te buigen
Eerbiedigh onder haer, die steigert boven 't geen
Ons zinnen en verstant hier stapelen op een,
Onkundigh van den schat, die eeuwigh schuilt inwendigh
By Godt, in wijsheit en alweetenheit onendigh.
In dieser Weisheit liegt auch die Rolle des Bösen beschlossen. Sie ist aber ein geschlossenes Buch für den endlichen Menschen, denn Gottes Weisheit springt zurück, um einen größeren Sprung zu machen, sie zielt (scheinbar) verkehrt und trifft dahin, wo es keiner vermutet: In d'uitkomst wort doorgaends het wijs beleit geprezen.
Al valt dit boeck voor ons te doncker om te lezen;
Godts wijsheit springt te rugge, om grooter sprong te doen,
Zy mickt verkeert, en treft, daer 't niemant zou vermoen.Ga naar eind72
Man hat dies Vondels ‘Geheimnis’ genannt,Ga naar eind73 - es wird im dramatischen Bereich nur von Gryphius geteilt.Ga naar eind74 Das Vertrauen in Gottes unergründliche Weisheit findet sich bei beiden Dichtern, es ist eine Weisheit, die sich zum Heil des Menschen auch des Bösen bedient. Bei Vondel kommt das schon in seiner Übersetzung von Grotius' Sophompaneas zum Ausdruck, wo er am Ende der Inhaltsübersicht die Idee des Dramas in seiner typischen Eigenart zusammenfaßt: ‘Boven al blijckt hier Gods wonderbaere voorzienigheid, die de boosheid der blinde menschen buiten hun wil weet te bezigen en te beleiden tot behoudenisse van geheele koningkrijcken, landen en volcken.’Ga naar eind75 Auch in Leo Armenius enthüllt sich für Augenblicke die göttliche Weisheit, die die ‘Boshaftigkeit der blinden Menschen, ohne daß es ihnen zu Bewußtsein kommt, einzusetzen weiß zur Erhaltung ganzer Königreiche, Länder und Völker’. Der Verfall des Staates ist auch das erste Argument, mit dem der Verräter Michael Balbus die Mitverschwörer zu überreden sucht: Des Fürsten grimmer Sinn/die zwytracht in dem
Stat/
Die zäncksucht in der Kirch'/vnd vntrew' in dem
Rath/
Die Vnruh' auf der Burg/ ...............
......... kan ewre Faust gestehen/
Daß Reich vnd Land vnd Statt/so wil zu grunde gehen?
(l 5-7, 19-20)
Der Fürstenmord stellt die Ruhe wieder her; Michael versündigt sich am Herrscher, aber seine Tat beseitigt einen Tyrannen, der den Staat zugrunde gerichtet hätte. Gottes Wege sind wunderbar, auch aus dem Bösen läßt er dem Menschen Gutes erwachsen, - so glaubt es Gryphius, so glaubt es Vondel. Denn dieser Gedanke | |
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durchzieht den Gysbreght van Aemstel (Rafael im letzten Aufzug: ‘Want d'opperste beleit zijn zaecken wonderbaar’), wird in anderen Stücken variiert und findet seinen eindrucksvollen Abschluß im ersten Reyen des Joseph in Dothan (1640): Ja Vader, laet de menschen ruicken,
Hoe ghy de quaden kunt gebruicken,
Ten goede van het aertsch geslacht.
Nur auf dem Hintergrund einer Wesensverwandtschaft ist ein Vergleich zwischen beiden Dichtern wirklich fruchtbar. Auch Vondel hätte sagen können, was Gryphius ‘Auff das Fest der Heiligen Dreyfaltigkeit’ dichtete: O Reiche Wissenschafft! wer kan die Kunst ergründen
Durch die man Gott erkennt'/mag dieser Augen-Licht
Begreiffen seine Weg/erforschen sein Gericht?
Wird man deß HErren Sinn durch unser Sinnen finden?
Uns muß Verstand und Geist vor seinen Wercken schwinden:
Wir wissen was die Erd/ und was sie einschleust/ nicht.Ga naar eind76
Von diesen Worten über die wahre ‘Wissenschaft’ her fällt vielleicht ein anderes Licht auf die Frage, ob Gryphius' Denken von den modernen Naturwissenschaften beeinflußt ist oder ob er sich zum Cartesianismus bekannt hatGa naar eind77. Gryphius ist in Leiden sicher mit dem Cartesianismus in Berührung gekommen. Descartes wohnte einige Zeit in Leiden (1630, 1636/37, 1640-43), insgesamt lebte er 20 Jahre in den Niederlanden; sein Discours de la Méthode erschien 1637 in Leiden. Die neue Methode des Denkens verbreitete sich schnell und teilte die Theologen und Philosophen des ganzen Landes in zwei Lager, die sich heftig bekämpften. Es ist wohl ausgeschlossen, daß Gryphius, der sich als Student der Philosophie hatte eintragen lassen, in Leiden nicht aktiv an den Auseinandersetzungen teilgenommen hat. Auch gibt es biographische Hinweise, die eine Kenntnis von Cartesius' Werk nahelegen.Ga naar eind78 Ob das alles ausreicht, Gryphius als Cartesianer zu betrachten,Ga naar eind79 ist fraglich, und H.-J. Schings hat dieser Auffassung mit gewichtigen Argumenten widersprochen.Ga naar eind80 Gryphius' Denkwelt ist ganz anders geartet als die des Descartes; das bleibt bestehen, auch wenn es in seinem Werk cartesianische Reminiszenzen geben würde. Die Parallele zu Vondel ist lehrreich. Bei ihm, dem frommen Katholiken, läßt sich vielfach cartesianisches Gedankengut feststellen, sogar das cogito ergo sum findet sich bei Vondel: ‘Geen droom, noch dronckenschap benevelt my, die ken,/ en buiten twyfel stel dat ik in wezen ben.’Ga naar eind81 Dennoch war der Dichter der Altargeheimnisse (1645) alles andere als ein Cartesianer, - auch hier zwei Welten. |
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