Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts
(1981)–Ferdinand van Ingen– Auteursrechtelijk beschermd
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Philipp von Zesen:
Titelkupfer zu einer seiner Schriften über die von ihm gegründete Deutschgesinnete Genossenschaft, die ihren Sitz in Amsterdam hatte. | |
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Do ut des Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts
Drumb wiltu daß dir sey Pracht/Lust und Kunst bekandt
So rath ich ziehe bald ins edle Niederland.
Johann Rist hat diese WorteGa naar eind1 nicht tauben Ohren gepredigt. Das kleine Land an der Nordsee übte im 17. Jahrhundert eine starke Anziehung aus, die deutsche ‘peregrinatio academica’ und die sogenannte Kavalierstour führten in der Regel auch dorthin.Ga naar eind2 Man bestaunte den wirtschaftlichen Aufschwung und bewunderte den Stand der Wissenschaften und Künste.Ga naar eind3 Es ist nur natürlich, daß die Geschichte der holländisch-deutschen Wechselbeziehungen im literarischen BereichGa naar eind4 vorderhand einspurig verläuft: Sie ist im Barockzeitalter auf deutscher Seite fast ausschließlich eine des Empfangens; erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wendet sich das Blatt. Während weite Teile Deutschlands sich nur langsam von den verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges erholten, festigte Holland in seinem ‘Goldenen Zeitalter’ seine vorherrschende Stellung als Weltmacht. Aus dem weltoffenen Geist dieser Seehandelsnation erwuchs eine tolerante Haltung, die ein deutscher Zeitgenosse zu der Bemerkung veranlaßte: ‘Kein Land ist auff der Welt/darinnen der Frembde größere Freiheit hätte als in diesem.’Ga naar eind5 Das merkwürdige politische Gebilde, das die Generalstaaten waren, erlaubte im Zeitalter des Absolutismus tatsächlich eine große politische Freiheit. Und obwohl der strikte Calvinismus dem religiösen Leben seinen oft bleischweren Stempel aufdrückte, übte man in der Praxis, vor allem gegenüber Ausländern, ein Höchstmaß an Toleranz. In Holland konnten ein Spinoza und ein Descartes arbeiten, hier lebte Johannes Amos Comenius, Männer, die Philosophie und Wissenschaft der Neuzeit entscheidend mit geprägt haben. Andererseits wurde es den Labadisten etwa erlaubt, eine geschlossene Wohngemeinschaft auf der Grundlage eines religiösen Prä-Kommunismus zu gründen und sogar eigene Eheschließungen vorzunehmen. Die Verbreitung der Lehren Jakob Böhmes und seines Schülers Abraham von Franckenberg sind ohne Holland nicht zu denken. In Amsterdam wurde 1634 Böhmes berühmte Aurora herausgebracht,Ga naar eind6 und von da an erschienen hier seine weiteren Schriften, bis hin zu Gichtels Gesamtausgabe.Ga naar eind7 Franckenbergs Schriften erschienen ebenfalls in Amsterdam,Ga naar eind8 wo überhaupt viele deutsche Bücher spiritualistischen Inhalts gedruckt und verlegt wurden. Schwärmer jeder Art konnten hier schnell Fuß fassen und ihre zumeist kurzlebigen Konventikel bilden. Zahlreiche junge Deutsche kamen in Holland in Berührung mit den Schriften der in ihrer Heimat als Ketzer verschrieenen Spiritualen. Johannes Scheffler, der zwei Jahre in Leiden studiert hat (1644-1646), konnte denn auch in seiner Schutzrede nicht leugnen, daß er dort Böhmes Schriften gelesen hat, ‘weil einem in Holland allerley unterhanden komt’. Er fügt hinzu: ‘und ich danke GOtt darvor, denn sie seind grosse Ursache gewest, daß ich zur Erkändtnüß der Wahrheit kommen und mich zur Catholischen Kirchen begeben habe’,Ga naar eind9 anders gesagt: in Holland ist aus Scheffler Angelus Silesius geworden.Ga naar eind10 Böhmescher Spekulationismus traf sich mit der prophetischen Freigeisterei eines Hans Rothe, und beides zusammen verband Quirinus Kuhlmann in dem 1674 in Leiden publizierten Buch Neubegeisterter Böhme/ begreiffend Hundertfunftzig Weissagungen/ mit der Fünften Monarchi oder dem Jesus Reiche des Holländischen Propheten Johan Rothens übereinstimmend. In diesem geistigen Klima wurden denn auch die Höhepunkte spiritualistisch-enthusiastischer Dichtung gedruckt: Quirinus Kuhlmanns Kühlpsalter.Ga naar eind11 Zur gleichen Zeit konnten sich hier Bewegungen entfalten, die die Aufklärung mit vorbereitet haben; Leiden wurde zur Hochburg des Cartesianismus. Huizinga sagt mit Recht: ‘Hier haben sich die Leute, die Bücher und die Ideen aus verschiedenen Ländern in einem geistigen Austausch zusammengefunden, wie er anderswo in diesem Zeitalter nicht verwirklicht war.’Ga naar eind12
Amsterdam war Welthandelsplatz, das finanzielle, aber auch das kulturelle Zentrum. Die Stadt beherbergte nicht nur Rembrandt, sondern auch | |
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viele andere niederländische Maler wie etwa-Ruysdael, Hobbema, Potter, Pieter de Hoogh. Die Geschichte des niederländischen Theaters ist im 17. Jahrhundert hauptsächlich die der ‘Amsterdamse Schouwburgh’. Hier wurden fast alle Vondelstücke aufgeführt, die großen Dramen von Hooft, die Komödien und Ritterdramen von Bredero etc. Das Theater wurde 1664 vergrößert und nach italienischem Vorbild mit den modernsten bühnentechnischen Vorrichtungen ausgestattet; kein Fremder versäumte, die ‘Schouwburgh’ zu besuchen. Kein Wunder, daß Amsterdam wie ein Magnet die Künstler anzog. Man könnte sich, so scheint es, kaum einen günstigeren Nährboden für die Künste denken. Von den künstlerischen Möglichkeiten der Stadt hegt man aber nicht selten übertriebene Vorstellungen. Im Vergleich zu Deutschland, wo Hof und Kirche für weite Bereiche der Literatur immerhin einflußreiche Auftraggeber bzw. anregende Zentren darstellten, fehlten in Holland, speziell in Amsterdam, solche Institutionen weitgehend. Die Kammern der Rederijker, in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch stark in der Sozialstruktur der Stadt verwurzelt, erhielten zwar mancherlei Vergünstigungen, aber erfuhren von seiten der Stadt keinerlei finanzielle Unterstützung. Die 1974 auf dem Barock-Symposion der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Wolfenbüttel von Albrecht Schöne gemachte Bemerkung findet auch hier eine Bestätigung: Aufträge der Stadt fallen im Vergleich zu denen von Hof und Kirche kaum ins Gewicht, was sich aus der andersgerichteten Aufgabenstellung erklärt.Ga naar eind13 So war man auch in Amsterdam zumeist auf private Initiativen angewiesen. Philipp von Zesen, der jahrelang in dieser Stadt gelebt hat, äußert sich einmal sehr bissig über die ‘Amsterdamschen gemühter’, die die Pflege der Wissenschaften und schönen Künste ‘nicht einer bohne/ nicht eines ziegenhaares währt achten’,Ga naar eind14 - seine Kritik betrifft die geringen Aufstiegschancen der Waisenhauskinder. Das Zitat ist - pikantes Detail - der Beschreibung der Stadt Amsterdam entnommen, mit der Zesen sich für das ihm verliehene Bürgerrecht bedankt. Es ist natürlich ein einseitiges Urteil, dem andere, positivere gegenüberstehen, aber es stimmt nachdenklich. Amsterdam war mit seinen vielen repräsentativen Prachtbauten und den vornehmen Grachtenhäusern eine imposante Stadt, in den erlesenen Kreisen um Hooft, Roemer Visscher, Hendrik Laurensz. Spieghel herrschte ein lebhaftes kulturelles Leben und am 1632 errichteten Athenaeum Illustre lehrten Gerard Vossius (1577-1649) und Caspar Barlaeus (1584-1648), berühmte Männer. Aber man sollte sich hüten, den Einfluß der wirtschaftlichen Blüte auf das geistige Leben insgesamt zu überschätzen. Olfert Dapper konnte in seiner Stadtbeschreibung von 1663 Amsterdam stolz ‘kroondraegster van Europe’ nennen, dennoch hatte auch diese ‘Wirtschaftswunder’-Gesellschaft ihre Schattenseiten. Amsterdam hatte 1648 ca. 150000 Einwohner und gehörte zu den größten Städten Europas, was sich auf das Stadtleben bekanntlich nicht unbedingt vorteilhaft auswirken muß. So wird Gryphius' fluchtartiges Verlassen der Stadt (1638), die seinem Biographen Stosch zufolge ‘mehr dem Pluto als den Musen gewidmet’ war,Ga naar eind15 leicht erklärlich.
Gryphius begab sich nach Leiden, einer idyllischen Kleinstadt im Vergleich zu Amsterdam, aber in der Nähe von Den Haag, ‘dem alleredelsten Dorffe der ganzen Welt’, wie es im Reisetagebuch von Jakob von Melle und Christian Heinrich Postel genannt wird.Ga naar eind16 War Amsterdam eine Weltstadt mit blühendem kulturellen Leben, beruhte die Anziehungskraft Leidens auf der Universität. Die Namen eines Justus Lipsius und eines Josephus Justus Scaliger trugen den Ruhm der Universität in die Welt. Beide waren sie hervorragende humanistische Philologen, aber Lipsius wirkte über den engeren Bereich der Philologie hinaus: ‘Durch seine Arbeiten und seinen neuen Stil beeinflußte Lipsius für über 75 Jahre die Rhetorik, befruchtete er die Pädagogik. Er führte auf diesen Grundlagen die Moralphilosophie und die Weltanschauung seiner Zeit an. Er schuf das am weitesten verbreitete Handbuch der praktischen Staatswissenschaft und Regierungslehre des 17. Jahrhunderts und bereicherte schließlich die Militärwissenschaft durch zwei umfangreiche, auch hier grundlegende Werke. Der mit seinem Namen verbundene Neustoizis- | |
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mus, immer stärker christlich ausgelegt, wurde zu einem Grundelement der barocken Lebens- und Gesellschaftsauffassung.’Ga naar eind17 So faßte neuerdings Gerhard Oestreich die Bedeutung dieses Mannes zusammen, der im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts den Grund legte für Leidens akademische Vormachtstellung. Daniel Heinsius, Claudius Salmasius u.a. setzten die philologische Tradition fort.Ga naar eind18 Hugo Grotius, der Grundleger des Völker- und Naturrechts, war eng mit der Universität verbunden. Seit 1632 besaß Leiden eine Sternwarte; die Einführung des klinischen Unterrichts (1637) und die frühzeitige Einrichtung eines Theatrum Anatomicum unterstreichen Leidens fortschrittliche Haltung auch in der medizinischen Wissenschaft. Die Universität entwikkelte sich rasch zu einer der angesehensten in Europa; für viele Ausländer war der Studienaufenthalt in Leiden von entscheidender Bedeutung.
In der ersten Jahrhunderthälfte stieg die Zahl der deutschen Studenten beträchtlich. An den deutschen Universitäten machten sich die Kriegsfolgen immer stärker bemerkbar und man beklagte den allgemeinen Verfall der gelehrten Studien.Ga naar eind19 Der wachsende Zustrom der Deutschen läßt sich damit teilweise erklären, der Reichtum des Landes und die Anziehungskraft der akademischen Lehrer taten ein übriges. Von 1575 (dem Gründungsjahr) bis 1750 haben sich in Leiden fast 11 000 deutsche Studenten immatrikuliert;Ga naar eind20 es läßt sich feststellen, daß in einem willkürlich herausgegriffenen Jahr von den rund 550 Studenten 158 aus Deutschland stammten, d.h. mehr als zur selben Zeit in Rostock (139), Wittenberg (104), Altdorf (108) und Leipzig (89) studierten.Ga naar eind21
Es ist seit langem bekannt, daß nahezu alle bedeutenden deutschen Barockdichter (mit Ausnahme der süddeutschen) sich für kürzere oder längere Zeit in Leiden aufgehalten haben. Darunter befanden sich erstaunlich viele aus Schlesien, was Herbert Schöffler zu seiner abenteuerlichen These von einer ‘schlesischen Einmaligkeit’ verführt hat: Lutheraner, geprägt von einem calvinistischen Bildungsgang.Ga naar eind22 Aber erst die genauen und mit vergleichenden Zahlen belegten Untersuchungen von Heinz Schneppen: Niederländische Universitäten und deutsches Geistesleben ergeben ein Bild vom tatsächlichen Umfang der in Leiden vertretenen deutschen ‘Nationen’ (studentischen Verbindungen auf landsmannschaftlicher Grundlage) und korrigieren Schöfflers Ansicht. Das Studium der Schlesier in Leiden gehört keineswegs zu den ‘Curiosa der deutschen Geistesgeschichte’,Ga naar eind23 die deutschen Studenten kamen auch aus Mittel- und Ostdeutschland (und waren ebenfalls Lutheraner) und vom Niederrhein, Ostfriesland und der Pfalz (in der Hauptsache Calvinisten). Immerhin ist die Zahl der prominenten Gestalten aus dem schlesischen Geistesleben, die die Leidener Universität besucht haben, auffallend groß, ohne daß sich dafür bis jetzt eine ausreichende Erklärung gefunden hat.Ga naar eind24 Zwischen 1618 und 1648 belief sich die Zahl der schlesischen Studenten sogar auf ca. 300.Ga naar eind25 Opitz, Gryphius, Lohenstein, Hofmannswaldau, Titz, Abschatz, Franckenberg, Kuhlmann, Christian Knorr von Rosenroth - sie alle studierten in Leiden. Aus anderen Teilen Deutschlands sind noch zu nennen: Zacharias Lund (?), Roberthin, Fleming, Canitz. Das Studium in Leiden scheint in manchen Gegenden schon so sehr zur Tradition geworden zu sein, daß manch einer sich geradezu benachteiligt fühlen konnte, wenn er darauf verzichten mußte,... und sich mit Illusionen schadlos hielt: Mein VaterGut war schlecht, sonst wär auch ich gezogen
Dem weisen Leiden zu und hette mich besogen
Daselbst so wol und satt, daß ich so starck und feist
Alß andre möchte seyn. Es hätte meinen Geist
Selbst Heinsius vielleicht nicht für gemein geschätzet,
Barleus hette sich an meinem Thun ergetzet,
Der grosse Vossius hett ausser Zweiffel mir
Vergönnt frey einzugehn zu seiner werthen Thür.
So schrieb Simon Dach an seinen Freund Roberthin (der wohl nach Leiden kam), als er in melancholischer Stimmung über seinen nachlassenden Erfolg nachdachte.Ga naar eind26 - Schließlich scheint es | |
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nicht unüblich gewesen zu sein, nach abgeschlossenem Studium nach Leiden zu reisen, um den Bildungsgang abzurunden. So tat es Titz, so tat es einige Jahre später Lohenstein, als er 1655 nach ‘seinem geendigten Studio Juridico’ nach den Niederlanden ging, ‘in welchen Er sich die herrlichen Städte/am meisten aber die Gelehrten Leute zu Leiden und Utrecht eine Zeitlang auffhalten ließ.’Ga naar eind27 |
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