Konrad Merz
aan
Menno ter Braak
Amsterdam, 15 juli 1935
Amsterdam O, Pythagorasstraat 21.
15.7.35.
Lieber Dr. Ter Braak,
Ihr Buch Het Tweede Gezicht habe ich empfangen und also wohl Ihr erstes bis fünftes Gezicht. Ich danke Ihnen. Es scheint mir ausgezeichnet, und man kann Nederland beglückwünschen, daß es einen so aufrechten und kämpferischen Geist in seinem Tage hat (wenn auch frühestens im Zweiten Gesicht dieses Tages)
Nur trifft das Bild vorne Sie nicht so tief, wie Sie das Buch getroffen haben, es sieht mehr den Kritiker und zu wenig den Menschen.
Es ist ja nicht nötig, Ihnen in allem zuzustimmen, aber es ist nötig, wach zu werden, den jahrhundertealten Zierat abzubrechen und darum: ein Mann wie Sie ist nötig, wenn die Kunst nicht im Konzentrationslager der Mittelmäßigkeiten verenden soll. An Unterernährung und Huldigungsreden.
Gewiß, ich kann als Deutscher Deutschland nicht so sehen wie Sie, für mich ist Deutschland kein halfbeschaafd Volk, es ist freilich politisch gänzlich unbefähigt, trostlos unentwickelt und nun in den Klauen einer Bande, deren Stiernacken alles Feinere verdeckt; aber weil man nur die Schnauze hören darf, soll man nicht meinen, es sei nicht auch ein Mund da. Wir haben Deutschland niemals, wir müssen immer darum kämpfen, wir haben Deutschland nur, wenn wir es nicht haben. Das ist ein tragisches, aber eben deutsches Los. Ich bin aus Deutschland gespuckt worden und sehen Sie, ich kann nicht aufhören, es zu lieben.
Auf fast allen anderen Seiten sprechen Sie uns aus der Mitte, aus dem Herzen. Uns, ich meine damit jenen Teil der deutschen Jugend, dessen Pulsschlag geht etwa von Salomons Geächteten bis zu dem ‘Winter’ meines Buches. Mögen Sie uns wahrhaben wollen, wie auch wir Sie wahrhaben und haben wollen!
So haben Sie mich ja erst mit den Geächteten bekannt gemacht, obwohl ich die längst kenne. Ein Freund von mir war bei den ‘Eidgenossen’, bei denen auch ‘Salo’ war. Er ist der Erich, der den ‘Winter’ in den Pflaumenmußeimer steckt. In der Fortführung des Buches werden Sie ihn noch näher kennen lernen. Sie brachten den Verachteten zu den Geächteten, Sie haben uns also gedient, und meinen, wir seien gar nicht vorhanden.
Wenn ich nicht an diese Jugend glaubte, verehrter Freund, ich wäre längst in irgendeinem Kanal verfault.
Nun lassen Sie sich bitte, bei Ihrer Erholung nicht länger belästigen. Ich danke Ihnen für die Unterfütterung mit weiteren fl. 50,-
Wenn Sie also die Hauptstadt besuchen, so geben Sie mir, bitte, vorher Bescheid. An jedem Tag kann hier ein Polizeiwagen erscheinen, es kreist schon um das Haus.
Erholen Sie, glücklich heimgekehrt, Ihr erstes Gesicht an der Sonne (‘het tweede gezicht blijft in de schaduw’)
und seien Sie innig gegrüßt
von
Kurt Lehmann,
Origineel: Den Haag, Literatuurmuseum