Menno ter Braak
aan
Thomas Mann
Den Haag, 24 juli 1939
Den Haag, 24.VII’39
Kraaienlaan 36
Lieber Herr Mann
Den Sonntag Verbracht mit Ihrem ‘Schopenhauer’. Ich mochte nicht versäumen Ihnen zu sagen, wie ausgezeichnet das Buch mir gefallen hat. Man fühlt sich während der Lektüre vollkommen in der Atmosphäre Schopenhauers, zugleich aber in Ihrer Eigenen Sphäre, und darum verzauberte mich diese ‘Geistesnovelle’ wie nur selten ein Essay. Man fühlt, dass Schopenhauer für Sie, genau wie für Nietzsche, ganz persönlich geschrieben hat, und dass Sie eigentlich in ihm sich selbst immer von neuem entdecken; ich spüre wenigstens viel ‘Autobiographisches’ in diesem Schopenhauer-Porträt; besonders das Leitmotiv, ‘Schopenhauer Pessimismus, das ist seine Humanität’, ist doch wohl Ihr eigenes Problem. Gewissermassen wird es sicherlich das Problem aller Leute sein, die in Europa jetzt gegen die nazistische Nietzschefälschung kämpfen, gegen alles, was einen Nietzsche ohne Pessimismus und ohne Humanität (d.h. ohne Schopenhauer) zu konstruieren versucht. Vielleicht sind auch die Ausdrücke ‘Pessimismus’ und ‘Humanität’ nicht mehr aktuell, in sofern sie ein Stück Mythologie des 19. Jahrhunderts symbolisieren; aber man kann Mythologie durch Mythologie bekämpfen; und ich zweifle gar nicht daran, dass die Genius-Schleier der Maja-Mythologie um Schopenhauer im heutigen Moment mehr ‘Wahrheit’ für sich hat als die ‘blonde Bestie’ Nietzsches, diese abscheuliche Mythologie des 20. Jahrhunderts. Sie haben das mit den raffiniertesten Mitteln fühlbar gemacht, ohne einen neuen Schopenhauerkult zu proklamieren. Was Sie schreiben über Schopenhauers Stellung zwischen Goethe und Nietzsche resümiert für mich eigentlich das ganze Buch; man könnte er gar nicht besser und schöner sagen.
Ich hoffe bald über diese Schrift zu schreiben; vermutlich brauche ich dafür zwei Artikel, ‘exoterisch’ in der Zeitung, ‘esoterisch’ in einer Zeitschrift. Betrachten Sie diesen Brief bitte nur als ein Zeichen der Dankbarkeit; man liest selten Bücher, die das Gefühl der Dankbarkeit hinterlassen.
Mit den besten Grüssen, auch für Ihre Frau,
Ihr erg.
Menno ter Braak
Hoffentlich können Sie meine Schrift entziffern? Meine Schreibmaschine ist leider defekt, und Dankbarkeit will sich sofort äussern.
Origineel: Zürich, Thomas Mann Archiv