Anlehnung und Abgrenzung
(1976)–Ulrich Bornemann– Auteursrechtelijk beschermdUntersuchungen zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts
[pagina 1]
| |
EinleitungDie Florabella von Rist ziert ein TitelkupferGa naar eind1 mit einem kleinen Hügel, dessen Spitze ein Hochplateau teilt. Im Hintergrund setzt Pegasus zu einem mächtigen Sprung ins Leere an, auf dem Gipfel sitzt Apoll mit einer Laute, umgeben von einer Strahlenaura und an beiden Seiten umringt von der europäischen Poetengilde. Die klingendsten Namen sind Petrarca, Ronsard, Cats und Vondel. Am Fusse steht Rist selbst mit ehrfürchtig gezogenem Hut und wird von Opitz an der linken Hand hinaufgeleitet. Der Stich ist offensichtlich von dilettantischer Hand angefertigt, seine Thematik aber wurde von einem Kenner der Literatur, womöglich von Rist selbst, entworfen. Die bildliche Gliederung in eine vertikale und eine horizontale Ebene stellt das dar, was dem literarischen Bewusstsein des 17. Jahrhunderts immer präsent war: der Zusammenhang der nationalen Dichtung, hier durch Opitz vertreten, mit dem europäischen Kontext - um eine Formulierung Weevers' zu gebrauchen -, vertreten durch die ausländischen Dichter. Oder entwicklungsgeschichtlich gesprochen: die Tradition des eigenen Landes und der internationale Austausch.Ga naar eind2 In germanistischen Handbüchern und Literaturgeschichten wird seit langem betont, dass die deutsche und niederländische Literatur des frühen 17. Jahrhunderts in einer engen Verbindung stehen. Und das hat seinen Niederschlag in einer Zahl von Aufsätzen gefunden, die man am besten als Übersichtsdarstellungen bezeichnet. Die beiden frühesten von van Cappelle und Prutz stammen noch aus der ersten Hälfte des vorigen JahrhundertsGa naar eind3 und geben eine Übersicht im negativen Sinne des Wortes. Eine Fülle von Namen wird aneinandergereiht wie die Perlen an einer Schnur, die Literaturgeschichten beider Länder werden referiert und vor allem Opitz' Beziehungen zu Heinsius hervorgehoben. Dabei ist das Gedicht ‘Vber des Hochgelehrten vnd weitberümbten Danielis Heinsij Niderländische Poemata’ aus den Teutschen Poemata (Nr. 5) der unkritische Ausgangspunkt für viele Spekulationen. Es reicht kaum aus, einen Einfluss zu begründen und schon gar nicht, eine persönlich enge Beziehung zu konstruieren. Man wird die Mängel auf das damalige Desinteresse an der Barockliteratur überhaupt und der damit zusammenhängenden Verborgenheit der Texte und Quellen zurückführen dürfen. An diesen Arbeiten gemessen bedeutet Lamprechts Aufsatz einen gewissen Fortschritt.Ga naar eind4 Die Kenntnis der deutschen und niederländischen Literatur hat sich vermehrt. Der Verfasser richtet sein entwicklungsgeschichtliches In- | |
[pagina 2]
| |
teresse auf zwei Ströme, den holländischen und den binnendeutschen, und beschränkt es auf Satire und Drama, da die Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts sich vor allem diesen Gattungen zugewandt habe. Die Auswahl führt zu Einseitigkeiten, die zwar Dramatikern wie Bredero, Coster, Hooft und Vondel Platz einräumen, Heinsius aber nur als Verfasser der Schrift De tragoediae constitutione, aber nicht als den der Nederduytschen Poemata nennen. An Lamprecht knüpft Gillet mit der Arbeit ‘De nederlandsche letterkunde in Duitschland in de zeventiende eeuw’Ga naar eind5 unmittelbar an. Es ist das erste Mal, dass ein Holländer mit extensiver Kenntnis der deutschen Literatur über die wechselseitigen Beziehungen schreibt. Sie werden mit einer Menge von Zitaten und Literaturangaben belegt, und darin liegt der eigentliche Wert des Aufsatzes. Die von Gillet gewählten Kategorien sind durchaus brauchbar, obwohl einige befremdende Namen tragen. Mit ‘hollandsche gastvrijheid’ meint er den Strom deutscher Studenten nach Holland, mit ‘Duitsche critiek’ die Rezeption der niederländischen Literatur in Vorworten etc., ‘Duitsche “Völkerpsychologie”’ steht für vereinzelte Beispiele einer Gegenreaktion gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Trotz einiger lobenswerter Merkmale kann die Studie Gillets die Herkunft aus dem Positivismus nicht verleugnen. Ihr liegt ein oberflächliches Einflußschema zugrunde, das mehr durch die Anzahl der Namen als durch die Überzeugungskraft der Argumente beglaubigt werden soll. Eine Erklärung oder Deutung der Fakten wird nur ansatzweise versucht. Eine ausführlichere und fruchtbarere Untersuchung des niederländischen Geisteslebens mit Beziehung auf das deutsche hat Trunz 1937 veröffentlicht.Ga naar eind6 Man trifft darin zwar sachliche Fehler und Unterlassungen an, auch eine zeitpolitische Tendenz, die manchmal zur falschen Setzung der Akzente führt, aber dennoch gelingt es dem Verfasser, die geistigen Kräfte und Strömungen herauszuarbeiten, wie den Einfluss des Bürgertums und die literaturgeschichtliche Kontinuität. Wenn es auch zu einseitigen Überspitzungen kommt, z.B. in Deutschland herrsche das gelehrte Ideal, in Holland die Gemeinsamkeit von gelehrt und ungelehrt - man beachte dagegen das Verhältnis von Heinsius und Opitz -, so ist Trunz' Schrift dennoch nicht nur die Summe des bis dahin Bekannten. Sie geht an Kenntnis, Stoffreichtum und adäquatem Verständnis über alle bisherigen Übersichtsdarstellungen hinaus und ist auch heute noch als eine Grundlage für die weitere Beschäftigung mit diesem Thema anzusehen. Van Dams Beitrag ‘Der Einfluss der niederländischen Literatur auf die deutsche’ in Stammlers Handbuch Deutsche Philologie im Aufriss behandelt den Zeitraum von der Hildesage bis zur Gegenwart, jedoch nicht als fortlaufende Geschichte, sondern in der Konzentration auf einige Epochen, wobei das Hauptgewicht auf der Barockzeit liegt.Ga naar eind7 Dieser Abschnitt fusst im allgemeinen Teil auf Gillet und Trunz, bei der Behandlung einzelner Dichter auf einer recht willkürlichen Auswahl aus der Sekundärliteratur. Er enthält eine ähnliche Aufzählung von Namen und Werken, wie sie aus den Übersichtsdarstellungen früherer Zeit bekannt | |
[pagina 3]
| |
ist. Es haben sich biographische und bibliographische Irrtümer eingeschlichen, bei denen nicht immer zu klären ist, wieweit der Druckfehlerteufel seine Hand im Spiel hatte. Auf dieser unsicheren Grundlage ergeben sich dann schiefe Urteile wie: ‘Opitz ... hat allerdings an erster Stelle theoretisch gewirkt, die anderen Dichter bekunden ihr Interesse für ndl. Dichtung vor allem durch Übersetzungen.’Ga naar eind8 Es würde zu weit führen, wollte man alle Fehler und Unterlassungs-sünden der Übersichtsdarstellungen im einzelnen verbessern. Die Kritik sollte vielmehr an den Merkmalen ansetzen, die allen trotz der unterschiedlichen Entstehungszeit gemeinsam sind. Eine grosse Zeitspanne wird auf engem Raum dargestellt. Das hat weitreichende Folgen. Nur die vordergründigsten Fakten können aufgezählt werden, und man bleibt meist dabei stehen, ohne sie zu werten oder in eine Beziehung zueinander zu setzen. Unbewiesene Behauptungen und unbelegbare Vermutungen schleichen sich ein. Es werden leichtfertig Abhängigkeiten hergestellt, wo es sich um Gemeinsamkeiten handelt. Beide Literaturen werden lediglich gegenübergestellt, und es kommt selten zu einem richtigen Vergleich. Statt dessen wird der Vorsprung der Niederlande und der Rückstand in Deutschland betont, was wiederum zu einer vordergründigen Betrachtung des Einflusses führt. Der Wert der Übersichtsdarstellungen ist gering, er besteht lediglich in der allerersten Information. Dennoch sollte man ihre Wirkung nicht unterschätzen. Schon die Tatsache, dass ihre Erscheinungsdaten mehr als ein Jahrhundert umspannen, lässt vermuten, dass sie die Kenntnis der deutsch-niederländischen Literaturbeziehungen wesentlich bestimmt haben. Noch in dem 1968 erschienenen Buch Deutsch-niederländischen Beziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts von Schönle findet man ähnliche Merkmale. ‘Die Gliederung: Form, Gehalt und Stoff ist nach den von Goethe geprägten Begriffen vorgenommen.’Ga naar eind9 Damit werden disparate Phänomene unter eine scheinbare Einheit gebracht, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird. Im einleitenden Kapitel behandelt Schönle ‘Deutsche Bildungswanderer auf niederländischen Universitäten’, in dem über Form die Reform von Opitz. Im ersten bringt er wenig Neues über Schneppen hinaus, im zweiten mehr Referat als Analyse. Es werden viele Zusammenfassungen gegeben, ohne auch nur den Versuch einer Kritik zu wagen. Forster schreibt in der Besprechung des Buches zu Recht: ‘Things are just placed side by side, without their relationship being explained.’Ga naar eind10 Ein weiterer Einwand gegen Schönle richtet sich gegen die ungenügende Kenntnis der Sekundärliteratur und der Quellenlage. Wenn z.B. auf S. 29 steht, Opitz habe neben den Nederduytschen Poemata von Heinsius ‘ferner von Den Nieuwen Lusthof und Den Bloem-Hof ... Kenntnis erhalten’, so fragt man sich, weshalb der Thronus Cupidinis nicht genannt wird und ob Opitz den Lusthof wirklich gekannt hat. Denn das einzige Gedicht, das er aus dieser Sammlung bearbeitet haben soll - ‘Die Jagt deß Cupido’ (Nr. 88) - befindet sich auch im Thronus Cupidinis.Ga naar eind11 Eine Abwägung der Quellen hätte sich vor allem deshalb angeboten, | |
[pagina 4]
| |
weil unsere Quellenkenntnis bei Opitz ausreichend ist. Nachdem Rubensohn 1895 nach Bolte die Übersetzungen aus dem Bloem-Hof nachgewiesen und Witkowski in der Ausgabe der Teutschen Poemata die Quellen-hinweise Barths veröffentlicht hatte, war der grösste Teil der Vorbilder bekannt.Ga naar eind12 Eine wesentliche Erweiterung brachte die raisonnierende Arbeit von Weevers mit dem Nachweis, dass Opitz aus dem Thronus Cupidinis übersetzte und auch ein Gedicht Brederos benutzte.Ga naar eind13 Gellinek hat fast drei Jahrzehnte später die Nederduytschen Poemata und den Bloem-Hof einer erneuten, gründlichen Prüfung unterzogen und eine Reihe weiterer Entnahmen in den Teutschen Poemata festgestellt.Ga naar eind14 Bei anderen Dichtern ist die Lage weniger günstig. Lediglich über die deutschen Übersetzungen aus Cats und die niederländischen Vorlagen in Homburgs Clio sind wir eingehender unterrichtet.Ga naar eind15 Das zeigt, wieviel Vorarbeiten noch nötig sind, um zu einer angemessenen Beurteilung der Dichtung des frühen 17. Jahrhunderts zu gelangen. Es ist nicht erstaunlich, dass die Beziehungen der ‘poetae minores’ zur niederländischen Literatur bisher kein Interesse gefunden haben, wohl aber bemerkenswert, dass die Auswertung bei Opitz trotz der guten Quellenkenntnis so dürftig ist.Ga naar eind15a Dabei hatte es verheissungsvoll begonnen. Eine der ersten selbständigen Veröffentlichungen über Opitz ist die Dissertation Muths Über das Verhältnis von Martin Opitz zu Daniel Heinsius (1872). Sie stellt sich zur Aufgabe, den Einfluss von Heinsius auf die Entwicklung von Opitz nach Art und Umfang näher zu bestimmen. Muth skizziert kurz die literarische Situation in beiden Ländern, er vergleicht die theoretischen Erörterungen im Aristarch und in der Poeterey mit entsprechenden Verfahrensweisen bei Heinsius. Die Übersetzungen werden in einer naturgemäss unvollständigen Aufzählung genannt, die durch den Versuch einer Würdigung der Übersetzerleistung ergänzt wird; eine Aufgabe, die erst 1959 von Smit mit der Analyse der Übertragungen einiger Sonette aus dem Bloem-Hof wieder aufgenommen wurde.Ga naar eind16 Zweifellos kann Muths Arbeit mit der Genauigkeit und der Sachkenntnis von Rubensohns Aufsätzen nicht wetteifern, ihr gebührt aber das Verdienst, einen Anfang gemacht zu haben. Trotzdem wurde sie schlecht aufgenommen. Borinski nennt sie wenige Jahre nach dem Erscheinen eine ‘nicht sehr auskunftsreiche Schrift.’Ga naar eind17 Das Urteil Beckherrns, Muth sei ‘geneigt, dem niederländischen Einfluss eine übertrieben grosse Bedeutung einzuräumen’Ga naar eind18 ist daher nicht ganz verständlich und muss im Lichte der eigenen Zielsetzung betrachtet werden. Seine 1888 erschienene Dissertation unternimmt es, das Verhältnis von Opitz zu Ronsard und Heinsius darzulegen (s. Anm. 18). Sie hat die wissenschaftliche Literatur nachhaltig beeinflusst, obwohl sie erhebliche methodische Mängel aufweist. Der Verfasser beginnt mit der Feststellung, Heinsius' Einfluss auf Opitz sei nur vorübergehend und von geringer Bedeutung gewesen. Was als Ergebnis aus den Untersuchungen hätte entwickelt werden müssen, wählt der Autor zu seinem Ausgangspunkt, und er setzt sich damit dem Verdacht aus, weniger auf die Tatsachen zu achten als den Leser von vornherein auf seine These einstimmen zu wol- | |
[pagina 5]
| |
len. Das führt in der Darstellung zu groben Entstellungen und Einseitigkeiten in der Text- und Beispielauswahl.Ga naar eind19 Das Vorgehen wird durch eine Argumentation ergänzt, die streng darauf bedacht ist, jeglichen holländischen Einfluss von Opitz fernzuhalten: ‘Die italienische und französische Literatur war damals zugänglicher für die Deutschen als die holländische, da in Deutschland kaum holländisch gesprochen wurde;’ ‘Heidelberg war von Franzosen durchdrungen. In den Kreisen, in die Opitz trat, waren mehrere Verehrer Ronsards.’Ga naar eind20 Arbeiten wie die Beckherrns leiden grundsätzlich an dem Mangel, dass sie unter dem Zwang einer Entscheidung stehen. Sobald ein Autor mit der Absicht ans Werk geht, die jeweiligen Anteile herauszuschälen, besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse durch persönliche Sym- oder Antipathien verfälscht werden. Aus der Reihe der Veröffentlichungen, die sich mit der französischen Wirkung beschäftigen, verdient in diesem Zusammenhang noch der Aufsatz von Tonnelat, ‘Deux Imitateurs Allemands de Ronsard. G.E. Weckherlin et Martin Opitz’ (1924), hervorgehoben zu werden. Tonnelat distanziert sich zwar von der Methode Beckherrns, bezeichnet es aber als dessen Verdienst, Ronsards Anteil an Opitzens dichterischem Werk festgelegt zu haben. Allerdings verfährt er weitaus vorsichtiger. Er erkennt auch die Rolle des Leidener Gelehrten an und trifft eine Unterscheidung, die den Tatsachen entspricht und die sich als brauchbar erweist: bei der Zusammenstellung seiner ersten Gedichtausgabe habe Opitz nur geringe Kenntnis von Ronsard gehabt und sei mehr Heinsius gefolgt. Erst in den kommenden Jahren werde der französische Einfluss beherrschend. In den folgenden Jahren erschien nichts mehr, was wesentlich zur Kenntnis unseres Themas beigetragen hätte. Die Festigung der Ansicht von der geringen Wirkung der Niederländer dokumentiert sich in diesem Schweigen und auch in leichtfertigen Urteilen. So schreibt Max, der Einfluss von Heinsius auf Opitz werde überschätzt,Ga naar eind21 obwohl er niemals eingehend untersucht wurde. Und Szyrocki behauptet, dass das ‘Bekannt-werden mit der Dichtung von ... Heinsius ... nicht von entscheidender Wichtigkeit gewesen sein’ könnte, um dann aber die Keime der Reform in den Boden einer kleinen, abgelegenen Grenzstadt zu legen.Ga naar eind22 Der Zustand zeigt sich deutlich an zwei amerikanischen Aufsätzen, die zusammenfassenden Charakter haben. Potts ‘Martin Opitz' Translations from the Dutch’ (1957) wurde wahrscheinlich als Diskussionsgrundlage für eine ‘Foreign Language Conference’ geschrieben. Das sechs Seiten umfassende ‘Paper’ enthält nichts, was den vielversprechenden Titel rechtfertigte. Es ist eine Illustration des einleitenden Satzes: ‘The role which Daniel Heinsius ... played in the efforts of Opitz to elevate the state of German letters and language has received limited recognition and that only in general terms.’Ga naar eind23 Eine Zusammenfassung biographischer und bibliographischer Fakten stützt sich weitgehend auf die ältere Sekundärliteratur, die kurze Besprechung der beiden Lobgesänge von Heinsius geht auf die gängigen Literaturgeschichten zurück. Betrachtet man den Abschnitt in Flaxmans Forschungsbericht ‘Dutch-German Literary Relations’ | |
[pagina 6]
| |
(1959), der von der frühbarocken Dichtung handelt, so findet man den bisherigen Eindruck bestätigt. Muth und Rubensohn sind die einzigen deutschen Gewährsmänner, denen die von Pott übergangenen Aufsätze von Weevers an die Seite gestellt werden. Die Geschichte der Erforschung der deutsch-niederländischen Beziehungen im Frühbarock zeigt, dass die frühen Arbeiten überwiegend von deutschen, die moderneren von ausländischen Autoren verfasst wurden. Einen bedeutenden Anfang machte Weevers Ende der 30er Jahre. Seine detaillierten Untersuchungen über Heinsius' Wirkung auf Opitz' Stil und Rhythmus, auf die Gattungen der Lobgesänge und der Hirtenklage in Corydon-Liedern sind wertvolle Beiträge zur Kenntnis der Geschichte frühbarocker Dichtung.Ga naar eind24 Die fruchtbarsten Anregungen sind in letzter Zeit von Leonard Forster ausgegangen. Seine Arbeiten betreffen zwar in der Hauptsache das späte 16. Jahrhundert - also vor Opitz' Reform und der frühbarocken Periode -, aber sie sind für deren Verständnis unerlässlich. Sie verfolgen jeweils Teilaspekte oder einzelne Personen, ohne jemals den übergeordneten Zusammenhang aus dem Auge zu verlieren.Ga naar eind25 Es wäre zu wünschen, dass die verstreuten Arbeiten in einem Band gesammelt erschienen. Es ist unwichtig zu fragen, ob die von Forster zutage geförderten Texte einem wie auch immer gearteten Standard genügen. Als Zeugnisse der Literaturgeschichte haben sie ihren grossen Wert. Die Leitgedanken sind die Kontinuität der nationalen Entwicklung und der Austausch der Literaturen untereinander. Man wird in beiden Ländern nicht mehr von einem radikalen Neueinsatz sprechen können und auch nicht davon, dass Opitz der einzige war, der mit Hilfe der Niederländer den richtigen Weg fand. Forster hat auch die Kontinuität der niederländischen Wirkung aufgezeigt, die Opitz dann den Weg bereitete. Die Bedingungen dafür sind persönliche Verbindungen und polyglotte Dichterkreise als Hauptträger der literarischen Kommunikation. Beispielhaft verbinden sich horizontale und vertikale Entwicklung in dem Buch Janus Gruter's English Years , in dem die Kontinuität der niederländischen Dichtungsgeschichte dargelegt,Ga naar eind26 zugleich aber mit Gruter einer der einflussreichsten Vermittler der niederländischen Literatur in Deutschland vorgestellt wird. Für den unzureichenden Forschungsstand sind mehrere Umstände verantwortlich. Nicht zuletzt hat die trotz intensiver Editionsarbeit der letzten Jahre immer noch ungenügende Textlage dazu beigetragen. Von den deutschen Gedichten Opitzens sind nur einige im ersten Band der Ausgabe von Schulz-Behrend enthalten, der zweite lässt schon Jahre auf sich warten, ebenso wie der zweite Band der von Trunz besorgten Faksimile-Ausgabe der Weltlichen Poemata. Der Standardtext ist immer noch Witkowskis Neudruck der Teutschen Poemata (1902), dessen Fehlerhaftigkeit oft berufen wurde. Aber selbst Weydt, einer der heftigsten Kritiker, schreibt, dass die Textlage hier noch am besten sei.Ga naar eind27 Nicht besser ist es bei anderen Dichtern bestellt. Die kritischen Ausgaben von Rist und Zesen stecken noch in den Anfängen; die bisher erschienenen Bände | |
[pagina 7]
| |
enthalten noch nicht oder nur zum kleinen Teil die Gedichte. Von Homburg, Hudemann, Lund und Rompler von Löwenhalt ist noch nicht einmal eine Neuausgabe in Sicht. Die Gedichte, die sich in Anthologien und Auswahlbänden befinden, geben natürlich nur einen fragmentarischen Eindruck. Günstiger ist die Lage lediglich bei Plavius und Köler.Ga naar eind28 Eine Anzahl von holländischen dichterischen Werken und Grammatiken ist in den Reihen ‘Zwolse Drukken en Herdrukken’ und ‘Trivium’ erreichbar. Von den wichtigen Liederbüchern wurden nur wenige nachgedruckt, und aus den Nederduytschen Poemata sind lediglich die beiden Lobgesänge und die Emblemata amatoria wieder erschienen. Eine Sichtung des in beiden Ländern reichhaltigen und literaturgeschichtlich bedeutsamen Schrifttums in Einzel- und Einblattdrucken ist bisher nicht vorgenommen worden. Ein weiterer Grund liegt sicher in der verbreiteten Unkenntnis der Sprache, die nicht dazu ermutigte, die Hindernisse der Textlage zu überwinden. Van Dam schreibt 1932: ‘Das Niederländische ist den deutschen Germanisten im allgemeinen unbekannt.’Ga naar eind29 Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. So leicht es einem Deutschen fällt, eine niederländische Zeitung zu lesen, so grosse Schwierigkeiten hat er bei der Lektüre eines dichterischen Textes, vor allem dann, wenn er in früheren Jahrhunderten entstanden und durch die Orthographie entstellt ist. Die Sprach-barriere schliesst sich fester als zum Italienischen, Französischen und Englischen. Sie hat dazu beigetragen, dass die Kenntnis der niederländischen Literatur und ihre Erforschung auf das eigene Land beschränkt blieben und nur spärlich nach Deutschland drangen. Das zeigt sich zum Beispiel an Fehlern und Ungenauigkeiten im kommentierenden Register zu Morhofs Unterricht von Boetius (s.u.) und auch in den Bänden ‘Renaissance und Barock’ des Neuen Handbuchs der Literaturwissenschaft (1972), die ganz im Zeichen einer komparatistischen Sicht stehen: ‘die eigengesetzliche Entwicklung der Nationalliteraturen ... wird stets im Hinblick auf die literarische Situation des ganzen Europa betrachtet.’Ga naar eind30 Das Schwergewicht aber liegt auf der Romania. Hooft und Heemskerk werden bei der Hirtendichtung, Heinsius wird als Dichtungstheoretiker und - schon beinahe obligatorisch - als Verfasser von Emblemata kurz erwähnt. Vondel sucht man vergeblich, trotz der häufigen Nennung von Gryphius. Ein schwerwiegender Umstand liegt in der Sache selbst und in der literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Die Barockforschung trägt noch heute die Zeichen ihrer Blüte in den 20er und 30er Jahren, als man ‘an Stelle des Erkennens kontrollierbarer Daten ein “Verstehen”’ setzte, ‘an dem das Subjekt des Betrachters oft nicht geringeren Anteil hatte als der Gegenstand seiner Betrachtung.’Ga naar eind31 Opitz Rang ist unbestritten, aber der geisteswissenschaftlichen und auch der strengen werkimmanenten Methode ist die Beschäftigung mit seiner Schule - in der Hauptsache ‘poetae minores’ - fremd. Zudem ist es eine eitle Hoffnung, bei einer Literatur, die ihre Merkmale nicht aus der unverwechselbaren Individuali- | |
[pagina 8]
| |
tät des Dichters, sondern aus dem traditionellen Gemeinbesitz überkommener Formen und Inhalte empfängt, verkannte Talente entdecken zu können. Die Beschäftigung mit den ‘poetae minores’ bedarf heute keiner prinzipiellen Entschuldigung mehr. Gerade in letzter Zeit hat man die Gegenstände der Literaturwissenschaft vom Zwang eines strengen Qualitätsmaßstabes gelöst. Man richtete das Interesse auch in die Breite einer Epoche und zog die Niederungen in die Betrachtung mit ein. Forsters und Fechners Arbeiten sind der beste Nachweis, welche Bedeutung die ‘poetae minores’ für die literaturgeschichtliche Kenntnis haben. Aus dem Überblick ergeben sich die Aufgaben dieser Studien. Forster hat in seiner Besprechung von Schönles Buch einen Katalog der zu bewältigenden Probleme aufgestellt. Er ist ebenso notwendig wie umfangreich,Ga naar eind32 und er wird sich erst dann erfüllen lassen, wenn eine grössere Anzahl von Vorarbeiten vorhanden ist. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf das Frühbarock. Was darunter zu verstehen ist, sei kurz erläutert. Gemeint ist das frühe 17. Jahrhundert, ohne dass man eine genaue zeitliche Begrenzung angeben könnte; nicht nur im Hinblick auf die Niederlande, sondern auch deshalb, weil die Dichtungsreform von Opitz nicht überall gleichzeitig wirksam wurde. Stilgeschichtlich handelt es sich um die Dichtung, deren Kennzeichen nicht in der Steigerung des poetischen ‘ornatus’ besteht, sondern in einem linearen Stil und in einer mittleren Ebene des Sprechens, kurz in dem, was man allgemein mit Opitz-Weise bezeichnet.Ga naar eind33 Vor allem wird Frühbarock als ein entwicklungsgeschichtlicher Begriff verstanden. Die Untersuchung richtet sich auf die Anfänge einer neuen Dichtungsepoche, und sie versucht den Anteil herauszustellen, den die Niederländer bei der Entwicklung geleistet haben. Dass Heinsius ungeachtet der heutigen Wertung seiner Gedichte als wirkender und Opitz als aufnehmender Autor im Mittelpunkt stehen, ist selbstverständlich. Es soll dabei eine Klärung versucht werden, weshalb jener als holländischer Dichter eine so grosse Ausstrahlung haben konnte. Es wird sich aber auch zeigen, dass man von sklavischer Nachahmung nur bedingt sprechen kann und dass Heinsius sehr bald ‘überwunden’ wurde und in einigen Fragen auf Kritik und Ablehnung stiess. Es soll gleich zu Anfang die sich aufdrängende Frage erörtert werden, ob man beim deutsch-niederländischen Verhältnis überhaupt von Wirkung und Rezeption im komparatistischen Sinne sprechen kann.Ga naar eind34 Nach Ansicht der Zeit bildeten doch beide Literaturen eine Einheit. Die Übereinstimmung der Sprachen und Aufgaben rückte sie nahe zusammen. Man könnte es überspitzt formulieren: die Probleme liegen im Bereich des monoliterarischen Einflusses oder allenfalls auf der Grenzlinie zum komparatistischen.Ga naar eind35 Die Frage der Sprachbeherrschung war fast gegenstandslos, der Zugang zu den Texten beinah ebenso selbstverständlich wie in den Nationalliteraturen. Drängen sich dem Betrachter von deutsch-niederländischen Übersetzungen nicht die Gemeinsamkeiten und der weitgehende Gleichlauf der Texte auf, und wird ein Autor nicht durch die Verwandtschaft der Sprachen dazu ermutigt? Eine Behauptung, | |
[pagina 9]
| |
es handle sich um eine blosse Umsetzung, statt um eine eigenständige, mit individuellen Merkmalen ausgestattete Übersetzung, scheint man nicht leicht von der Hand weisen zu können. Es wäre also sinnvoll, von einem Einfluss zu sprechen, dessen Erforschung sich in der Aufdeckung von Quellen und Vorlagen erschöpft. Eine solche Ansicht kann nur dann aufkommen, wenn man sich auf die Informationen der Übersichtsdarstellungen verlässt oder selbst mit einem ähnlich groben Werkzeug an die Arbeit geht. Die Kardinalfrage, wie verhält sich der aufnehmende Autor zum dargebotenen Material, was hat er daraus gemacht, hat auch hier ihre volle Berechtigung, und es ist eine Notwendigkeit, sie immer wieder zu stellen. Nur wird sie sich dann schwer beantworten lassen, wenn man allein den grossen Linien folgt. Bei einem Vergleich so eng verwandter Glieder ist es unerlässlich, auf das Detail zu sehen, um die spezielle Art der Aneignung zu erkennen. Nach Quellen wurde nicht systematisch gesucht, aber wenn sie sich im Laufe der Arbeit einstellten, dann wurden sie auch nicht aus Furcht vor dem Vorwurf der Stoffhuberei verschwiegen. In der angegebenen Weise befragt verlieren sie den Charakter des blossen Nachweises und führen zu neuen Erkenntnissen. Der Vergleich wurde nicht um seiner selbst willen unternommen, er soll auch zur Kenntnis der deutschen Literatur im Frühbarock beitragen. Die Kategorien, nach denen sich die Gliederung richtet, entstammen dem Schrifttum des frühen 17. Jahrhunderts. Die Nederduytschen Poemata von Heinsius waren dafür die ergiebigste Quelle. Das erste Kapitel versucht unterschiedliche Aspekte unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung darzustellen. Die einleitenden Seiten über die Reisen in die Niederlande sollen und können nicht mit den Arbeiten von Schöffler und Schneppen wetteifern; sie enthalten aber einige ergänzende Bemerkungen, die das Verständnis des Folgenden fördern können, wie z.B. der ausgebreiteten Korrespondenz von Heinsius und der Bekanntheit der niederländischen Buchproduktion. Die beiden restlichen Abschnitte sollen dann die Bedingungen und das Ausmass der persönlichen Vermittlung innerhalb Deutschlands untersuchen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Übersetzungen als einem Hauptbereich frühbarocken Schaffens. Dabei werden zunächst Probleme des Übersetzens besonders im Hinblick auf das Niederländische und die Sprachbeherrschung behandelt. Bei der Analyse hat sich eine Beschränkung auf die Nederduytschen Poemata von Heinsius als zweckmässig erwiesen. Auf der anderen Seite wurde der Kreis der Übersetzer über Opitz hinaus erweitert, um in einer vergleichenden Betrachtung verschiedene Übersetzungen eines Gedichtes gegeneinanderstellen zu können. Das dritte Kapitel nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Zwar schliesst es sich unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus der Muttersprache an das vorhergehende an, aber es ist das einzige, in dem Heinsius nur am Rande behandelt wird und in dem der zeitliche Rahmen nach beiden Seiten überschritten wurde. Das wird mit der geschichtlichen Entwicklung begründet. Es schien sinnvoll, die Dichtung des frühen 17. | |
[pagina 10]
| |
Jahrhunderts auch im Zusammenhang der puristischen Spracharbeit zu betrachten, denn die poetischen Lehrbücher behandeln auch sprachliche Probleme. Die theoretischen und praktischen Bemühungen beim Aufbau der Muttersprache zeigen die Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und niederländischen Reformern, aber auch ihren Willen zur gegenseitigen Abgrenzung, die sich nicht selten in heftiger Auseinandersetzung vollzieht. Im vierten und fünften Kapitel steht Heinsius wieder im Mittelpunkt. Gelegenheits- und Gelehrtendichtung sind allgemeine Begriffe, unter die sich der grösste Teil der literarischen Werke fassen lässt. Eine Beschränkung auf die Hochzeitsdichtung und die gelehrten Elemente in den Nederduytschen Poemata war daher notwendig. Die Art der Rezeption wird wiederum zeigen, dass man von einer deutschen Nachahmung des Niederländers um jeden Preis nicht reden kann. Zum Schluss dieser Einleitung sei noch einmal auf den europäischen Kontext verwiesen, um den falschen Eindruck zu vermeiden, hier werde die Ansicht vertreten, die niederländische Literatur sei der alleinige Ausgangspunkt der deutschen im 17. Jahrhundert gewesen, denn diese erhält bedeutende Anregungen von vielen anderen Sprachen. Die niederländische Literatur ist sprachlich, räumlich und zeitlich der nächste Nachbar und erfüllt häufig Vermittlerfunktionen. Die Aufmerksamkeit gilt nicht in erster Linie der Feststellung der Tradition oder den theoretischen Erörterungen, sondern der poetischen Praxis. In einer beginnenden Dichtungsepoche wie dem Frühbarock stand zunächst die Bewältigung konkreter Probleme im Vordergrund. Es war weder möglich noch wünschenswert, Vollständigkeit bei der Behandlung des Themas anzustreben. Trotz intensiver Bemühungen blieben viele Texte, die neue Gesichtspunkte hätten liefern können, unerreichbar. Es war aber auch nicht ratsam, alle Texte erschöpfend auszuwerten, da dies lediglich zur Vermehrung der Belege geführt hätte. |
|