jetzt zu jenen Räumen verstanden, die im 19. Jahrhundert zu ihrer funktionsspezifischen Ausprägung kommen: die Räume der Kunstwerkaufführung. Hier sind die im Saal Versammelten vernehmend-gestimmt ausgerichtet auf das Vis-à-vis der Kunstwerkaufführung, welche ihrerseits auf das ideelle Jenseits des Reiches der Kunst verweist. Analog dazu wird jetzt im Dom die Versammlung der Religiösen ausgerichtet auf die vis-à-vis erfolgende Aufführung beziehungsweise Elevation der religiösen Idee. Hinter dem intensiven Monieren des Topos ‘Ausrichtung’ steht letztlich jene Vorgabe des 19. Jahrhunderts. Und der moderne Kirchenbau hat dem mit wenigen Ausnahmen entsprochen. Daran ändert nicht, wenn nun anstelle des Chors ein ‘Stirnwand’ mit podiumsartigen Vorbauten tritt. Es ändert auch nicht, wenn die Versammlung ‘gemeinschaftsförmig’, in Segmente aufgefächert, plaziert wird. Zur mehr oder weniger betonten Ausrichtung dieser Gemeinschaft sah man sich dennoch verpflichtet. Es ließe sich übrigens an vielen Stellen der Kirchenbauliteratur nachweisen, daß man ‘Gemeinschaft’ zu einem hypostasierten Subjekt macht. Das zeigt sich dort, wo intensiv das ‘Gemeinschaftsgefühl’, die ‘Einheit’ und die ‘Leibartigkeit’ betont werden und man mit Nachdruck die Ausrichtung dieser ‘Einheit’, dieses ‘Liebes’ auf den Ort von Kanzel und Abendmahlstisch reflektiert.
Ergebnis: Der moderne Kirchenbau übernimmt das Kirchenraumverständnis des 19. Jahrhunderts.
Gängigerweise wird die Architektur des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff ‘Historismus’ charakterisiert - Architektur sozusagen vom Kunstgeschichtsprofessor gemacht. Allerdings kann dieses Urteil seinerseits an der Problematik des Stilbegriffs hängenbleiben. Im Kirchenbau des 19. Jahrhunderts greift der Historismus von äußerlichen Stilanklängen zusehends in die ganze Sache; die bereits erwähnte Elisabethenkirche soll geradezu Abbild eines Domes sein. Das heißt: Der Kirchenbau wird jetzt Akt eines bewußten historistischen Gestalttransportes.
Die Frage nach dem Kirchenbau wird zur Frage nach einem Gebäudetyp ‘Kirche’, dessen Gestaltmuster in der Historie (vor allem in Mittelalter) vorgegeben zu sein scheint und das es eben als solches zu übernehmen gilt.
In dieses Gestaltmuster wird nun die oben erörtete gerichtete Raumanlage eingebracht. Nur ist diese Raumanlage nichts bloß Zusätzliches. Die mittelalterlichen Basilikalformen wurden als ganze von dieser Raumanlage her verstanden. Der gestimmt-gerichtete Kirchenraum des 19. Jahrhunderts wird in und mit dem historistischen Gestaltmuster erstellt. Die Hinsicht auf das Historische wird ferner konstelliert durch die Absicht, es habe eine bestimmte Atmosphäre zu repräsentieren und zu garantieren, die Atmosphäre des Religiösen.
Das historistische Gestaltmuster wird zum bewußt gehandhabten Instrument zur Erzielung von als ‘religiös’ zu bezeichnender ‘Wirkung’. (Schon K.F. Schinkel geht in diesem Zusammenhange mit den Begriffen ‘Gemüthsstimmung’, ‘Wirkung’ um.) All diese Faktoren führen natürlich dazu, daß man nicht ‘stilrein’ übernimmt, sondern Profilierungen und Verformungen vornimmt (zum Beispiel Überlängung und Überhöhung in der Neogotiek).
Die Architektur der Moderne (wir bezeichnen einmal das 20. Jahrhundert so) verabschiedete den Historismus. Wieweit das bis ins letzte durchreflektiert geschah, ist eine andere Frage. Gegen die Jahrhundertwende schon, erst recht aber in den zwanziger Jahren, teilen nun auch der Kirchenbau und dessen theoretische Erörterung die antihistoristische Einstellung moderner Architektur. Nun entsteht das, was man gängigerweise als ‘modernen Kirchenbau’ zu bezeichnen pflegt. Die Bautätigkeit ist begleitet von permanenter Diskussion über den Gegenstand. Ursache davon ist der Wille, die Sache des Kirchenbaus von Grund auf zu erfassen, um von da her und nicht von historistischen Lösungen zum Bau zu gelangen. Die von Cornelius Gurlitt Ende des vorigen Jahrhunderts propagierte Formel ‘Liturgie als Bauherr’ wird eines der Leitmotive dieser Diskussion. Die Formel bot sich offensichtlich als Schlüssel zur Sache des Kirchenbaus an.
Hatte man jenen Abschied vom Historismus wirklich durchdacht? Hatte man sich Rechenschaft gegeben, wieweit man den Historismus verabschieden, wo man sich noch auf ihn stützen wollte? Gab man sich Rechenschaft, ob das gemeinte Maß an Ahistorismus wirklich ein solches war?
Ich habe oben bemerkt, daß der gestimmt-ausgerichtete Kirchenraum des 19. Jahrhunderts verwoben ist in das historische Gestaltmuster. Andererseits hat man bereits im 19. Jahrhundert das Unverhüllte der Konstruktion an der Gotik (und Romantik) bewundert, schließlich ihre ‘Form als logische Folge der Technik’ (R. Banham) begreifen können. Übernimmt der moderne Kirchenbau das Raumverständnis des 19. Jarhrhunderts, dann wird er unvermeidlich etwas von dem mit übernehmen, was als Bauschale diesen Raum bestimmt (und be-stimmt). Ist die Gotik oder Romanik auch noch durch Technizität legitimiert, dann läßt sich das Gotisch-Technische transponieren in das Rein-Technische von Eisenkonstruktion und Stahlbetonkonstruktion. Der kontinuierliche Weg aus dem 19. Jahrhundert ist damit beschritten und führt zu Kirchen wie ‘Notre-Dame’ in Paris-Raincy (A. und G. Perret 1923), St.-Antoniuskirche in Basel (K. Moser 1927), sogenannte ‘Stahlkirche’ in Köln (später Essen, O. Bartning 1928) und von da aus zur Abstraktion des ‘reinen Raumes’ in der Fronleichnamskirche in Aachen (R. Schwart 1930).
Die architektonische Verfaßtheit dieser Kirchen deutet etwas an, was fast ausnahmlos dem modernen Kirchenbau eignet. Man hat die Raumausrichtung des Kirchenbaus des 19. Jahrhunderts gar nicht abstrakt (sozusagen ‘sec’) übernehmen können. Vielmehr hat man sich in und mit dieser Übernahme auf die entsprechenden architektonischen Implikationen des 19. Jahrhunderts eingelassen. Auch jetzt wird die Lösung der Aufgabe verstanden als Realisierung eines Gebäudetyps, dessen Gestalt irgendwie bildlich schon vorgegeben ist. Ich möchte nun nicht von einem Bild sprechen, sondern diesen Begriff ersetzen durch folgenden, aus der englischen Werbe- und Soziologiesprache herrührenden: Image.
Der bisherige moderne Kirchenbau versteht sich als Realisierung eines Gebäudetyps ‘Kirche’. Die Realisierung vollzieht sich als Anwendung eines Image ‘Kirche’. In diesem Image wirkt das historistische Gestaltmuster des 19. Jahrhunderts nach.
Die Züge des Image können etwa so charakterisiert werden: Basilika: die vom ‘rohen Stein’ und dem Lichtspiel (beziehungsweise der Lichtführung) gegebene Stimmung; das innere Raumgefüge erstellt die gestimmte Ausrichtung. - In verschiedenen Varianten wird von da her der moderne Kirchenbau bestimmt. Dabei mag das ‘Basilikale’ durch eine mehr oder weniger ‘zentrierte’ Anordnung der Versammlung modifiziert sein (Betonung der ‘Gemeinschaft’), doch verläßt man dabei selten den Zwang des Image. (Ich bin mir durchaus bewußt, daß O. Bartning 1930 in Essen sogar eine Rundkirche gebaut hat...)
Man könnte sich im Kirchenbau nun diesen Tatbestand bewußt machen und das kirchenbauliche Schaffen erklärtermaßen als vielfältige Anwendung jenes Image vollziehen. Das wäre eine Möglichkeit. Dennoch ist zu fragen, ob dieser Weg den Kirchenbau nicht in Gestaltzwänge hineingeführt hat, die ihn nachgerade zur Starrheit verurteilen und die legitimen Möglichkeiten moderner Architektur verlassen. So wäre denn ein Ende dieses Kirchenbaus zu postulieren.
Muß heute von einem Ende des Kirchenbaus gesprochen werden, dann geht es um das Ende jenes Kirchenbaues, der in der Romantik beginnt, sich über das 19. Jahrhundert erstreckt und unter äußern formalen Veränderungen bis weit ins 20. Jahrhundert in Geltung bleibt. Es ist der Kirchenbau, der unter Anwendung des genannten Image ‘Kirche’ zustande kommt.
Ich meine, mit den angesteltten Überlegungen etwas zur sachgemäßen, architekturtheoretischen Begründung jener Parole, aber auch zu ihrer ‘Zurechtweisung’ beigetragen zu haben. Gerade die Zurechtweisung hat noch einen besonderen architekturgeschichtlichen Aspekt: Einfach so ausgesprochen suggeriert einem die Parole vom Ende des Kirchenbaus einen Rückblick auf die ganze Geschichte des Kirchenbaues, und zwar so, daß darin die Geschichte als kompakte Einheit erscheint. Das Kompakte besteht in dem, daß man sie als Geschichte eines Image ‘Kirche’ versteht - und damit gründlich mißversteht. Man würde von den Antike bis und mit Neuzeit das Dasein der Kirchbauten im damaligen zeitgenössischen Bebauungskontext, die Verhältnisse ihres baulichen Werdens, ihre religiöse, soziale und politische Rolle verkennen, betrachtete man sie im historischen Rückblick durch die Drille des Image. Ich kann hier darauf nicht näher eingehen
Es sollte also klar sein, worauf hin jene Parole nur und legitim ausgegeben werden kann. Ich versuchte, diese Zurechtweisung auch in der Schreibweise zum Ausdruck zu bringen, nämlich: Ende des ‘Kirchen’-Baus.