Prinzipielles zur Bewegungskunst
Von Hans Richter
Erklärung. - Die abgebildeten Zeichnungen stellen Hauptmomente von Vorgängen dar, die in Bewegung gedacht sind. Die Arbeiten werden im Film ihre Verwirklichung finden. Der Vorgang selbst: gestaltende Evolutionen und Revolutionen in der Sphäre des rein künstlerischen (abstrakte Formen); analog etwa den unserem Ohr geläufigen Geschehnissen der Musik. Wie dort tritt die Handlung (in ganz geistiger Bedeutung) mit dem reinen Material auf, und findet in diesem reinen Material Spannung und Auflösung in einem Sinn, der, weil alle materiellen Vergleiche und Erinnerungen wegfallen, elementar-magisch ist.
I. Genealogie (überhistorisch). a) Cézanne-Derain-Picasso versuchten durch wissenschaftlich-intuitive Methode eine Zerlegung von Naturobjekten vorzunehmen, die dahin führte, gewisse elementare Beziehungen der Form objektiv zu fixieren (und sie in einem einheitlich durch das ganze Bild gehenden Rhythmus anzuwenden). b) Während bei diesen Malern alle Erfahrungen am Naturobjekt gemacht und auf dieses wieder angewandt wurden, geht ein neuer Weg nicht vom Naturobjekt aus, sondern von den reinen Beziehungen der Formen untereinander. - - - Damit entsteht die Möglichkeit, die Malerei nicht nur als Flächenkunst zu betrachten, sondern auch in die Zeit zu projizieren.
c) Daß Cézanne, Dérain und Picasso nicht zum Resultat der realen Bewegung als Moment auch der bildenden Kunst gekommen sind, liegt daran, daß Dérain und auch Cézanne trotz des polaren Konstruktionsgedankens, auf dem jedes ihrer Werke beruht, die Naturwahrscheinlichkeit betonen und sich (obgleich in dieser Betonung synthetisch) an etwas binden, was eine ganz reine Erkenntnis der Formbeziehungen (die zur Bewegung führen sollen) verunmöglicht. - Picasso dagegen löst das Naturobjekt zugunsten der Untersuchung reiner Formbeziehungen auf und erzielt damit neue Freiheiten wieder aber nicht von solcher Konsequenz und rhythmischen Einheitlichkeit (Synthetik) wie Cézanne und Dérain.
d) Aus solchen Gründen konnten diese Maler das Zeitproblem nicht erkennen, - Erst durch die synthetische Lösung von Formbeziehungen, die ohne Naturanlehnung vielmehr auf einem polar-rhythmischen Anschauungsprinzip (mit allen Unterabteilungen der Rhythmik) beruhen, erkannte Viking Eggeling die Möglichkeit, rhythmische Vorgänge auch auf die Zeit auszudehnen und erschloß damit das Gebiet einer neuen Kunst.
II. Generalbaß. Die ‘Sprache’ (Form-Sprache), die da ‘gesprochen’ wird, beruht auf einem ‘Alphabet’, entstanden aus einem elementaren Prinzip der Anschauung: Polarität.
Polarität als generelles Lebensprinzip = Kompositionsmethode jeder formalen Äußerung. Proportion, Rhythmus, Zahl, Intensität, Lage, Klang, Zeitmaß usw. Empirisch als Kontrast-Beziehung der großen und kleinen Gegensätze; spirituell als Analogie-Beziehung der Dinge, die sich in einer anderen Sphäre wieder voneinander unterscheiden. Schöpferischer Wechsel und logisches Gleich und Ungleich im Gedanken des betreffenden Werks.
Der große Wille und das sichtbare Ziel dieser Arbeiten ist nicht in ihnen begrenzt.
Die ästhetischen Prinzipien des Alphabets zeigen den Weg zum Gesamtkunstwerk, und zwar deswegen, weil diese Prinzipien, deren man sich undogmatisch, synthetisch bedient, nicht nur für die Malerei maßgebend sind, sondern in gleichem Maße für Musik, Sprache, Tanz, Architektur, Schauspiel. Der Gedanke einer Kultur als die Totalität aller schöpferischen Kräfte von einer gemeinsamen Wurzel aus zu einer unendlichen, vielfältigen Form (nicht Addition, sondern Synthese).
III. Definition von ‘Kunst’. a) Transzendentale Definition: Kunst = menschlicher Schöpfungswille. Als solcher Organ des Individuums sich in einen trans-