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Die Schwestern Brontë
Werk und Schicksal der Schwestern Brontë sind in Deutschland nicht
sehr berühmt geworden. Ihre Romane werden in England zu den Meisterwerken
gerechnet, die man nur mit Ehrerbietung erwähnt. Auch in Frankreich beschäftigt
man sich, und gerade seit neuestem, mit den drei tragischen Pfarrerstöchtern
von Haworth. Sachverständige von der bedeutenden Einsicht Léon Daudets haben
den Roman der Emily Brontë, Wuthering Heights, neben dem
Hamlet genannt. Zu den Wiederentdeckern der Brontës auf dem Kontinent gehört
Julien Green. In der Serie Vies des Hommes Illustres, die bei
Gallimard erscheint, ist ein Band den Soeurs Brontë gewidmet; seine Autoren
sind Emilie und George Romieu, denen man Dank für eine übersichtliche,
gründliche und geschickte Zusammenfassung des biographischen Materials
schuldet; übrigens wird ihr etwas blumiger und sentimental verzuckerter Stil
der Bitterkeit und Härte des Stoffes nicht gerecht.
Denn die Biographie dieser drei romantischen und trauervollen
Schwestern, deren Romane - unter den Pseudonymen Currer, Ellis und Acton Bell
veröffentlicht - um das Jahr 1848 eine literarische Sensation ersten Ranges
machten, ist ergreifend beinah nur durch ihre Monotonie und Oede, die sich,
über das kleinbürgerlich Trübsinnige weit hinaus, in die Späre einer nicht mehr
kümmerlichen und matten, sondern hochpathetischen Melancholie steigert.
Charlotte, die später die Berühmteste wurde, ist die Zweitälteste
der Geschwister; sie ist 1816 geboren - noch nicht in Haworth, wo sich ihr
Leben abspielen wird, sondern in Thornton bei Bradford. Nach Haworth
übersiedelt der Pastor Patrick Brontë vier Jahre später. Die Gegend ist
trostlos, aber gerade aus dieser unendlichen und hoffnungslosen Landschaft des
Moores - ‘ein wahres Paradies für Menschenfeinde’, wie Emily später schreibt -
werden die Schwestern ihre eigensten und besten Kräfte | |
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beziehen.
Die Mutter stirbt an der Geburt des sechsten Kindes, Anne; statt ihrer zieht
die grämliche Tante mit falschen Locken unter der grossen Haube ins Haus,
welche die Geschwister ‘auf den Puritanismus dressiert’, wie die französischen
Biographen es formulieren. Bei moralischen Examen, die manchmal veranstaltet
werden, müssen die kleinen Mädchen die Frage, auf welche Weise man am besten
seine Zeit verbringe, beantworten: ‘Indem wir uns aufs Ewige Leben
vorbereiten.’ Ausser der Liebe Gottes, von der man ihnen viel spricht, kommt
wenig Liebe zu ihnen. Der Vater ist eigensinnig, eitel und ungesellig. Er ist
Ire und hat in Cambridge studiert; übrigens macht er Gedichte, die er unentwegt
für vorzüglich hält. Das einzige seiner Kinder, auf das er wirkliche Hoffnungen
setzt und von dem er annimmt, dass es seine eignen, erstaunlichen Gaben geerbt
habe, ist sein Sohn, Branwell, der Schöne, verwöhnter kleiner Abgott dieser
düstren Familie. Denn die Schwestern haben so finstre und verstockte Gesichter,
dass eine naive Pflegerin äussert: ‘Ich dachte, dass die Kinder schwach von
Geist wären, so sehr waren sie von allen anderen unterschieden. Ich brachte das
mit der Tatsache in Zusammenhang, dass Mister Brontë ihnen kein Fleisch zu
essen erlaubte.’ - Der Garten, in den sie aus ihrem Fenster schauen, ist der
Friedhof; dahinter kommt die Oede des Moores. Der einzige Mensch, der etwas
Wärme in die Finsternis dieses frommen Hauses bringt, ist eine alte Magd,
Tabby, das Factotum, dem die Schwestern immer wieder Denkmäler des Dankes
setzen werden.
Noch trauriger als zu Haus wird es in der Cowan Bridge School, wo
die Mädchen zu Zucht und Tugend erzogen werden. Ehe Dickens den Schrecken
englischen Internatslebens klassisch darstellte, wurde er von den armen Brontës
erlebt und von Charlotte in Jane Eyre geschildert. Die
‘Lowood-Stiftung’ - berühmteste Episode in ihrem grossen Roman - ist deutlich
bis in alle Einzelheiten Cowan Bridge School, wo Charlotte zwei ihrer
Schwestern verlor: die älteste und sanfteste, Maria, und, im selben
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Jahr, die vierte. Beide starben an Schwindsucht und
Unterernährung. Das wurde selbst dem alten Brontë zu viel. Die Mädchen werden
zurückgerufen. Der Rest der Familie ist wieder in Haworth vereinigt. Man
versucht es später noch mit einer anderen Schule; diesmal wird Charlotte allein
hingeschickt, und dieses Experiment glückt entschieden besser. Sie findet
Freundinnen, Ellen und Mary, die ausser den Schwestern - und eigentlich mehr
als diese - die einzigen Vertrauten ihres Lebens bleiben.
Inzwischen scheint der reizende, genusssüchtige und tyrannische
kleine Branwell der Einzige von den Geschwistern, der zum Künstler geboren ist.
Er dichtet und malt; während sein Leben aus Saufereien und amüsanter
Liederlichkeit besteht, schwelgt er in Melancholien und seine Poesie handelt
hauptsächlich vom Tod; sogar noch, wenn er den Frühling bedichtet, überschreibt
er die Strophen Triumphierender Tod. Er gönnt sich aufs
üppigste alles, was sich die Schwestern versagen; nur zu leicht verzichtet er
auf ihre Würde, ihre schmerzliche Haltung; lässt sich von Anfang an aufs
bedenklichste gehen. Es ist, als wisse er, dass ihm, trotz so hemmungsloser
Nachlässigkeit, einfach dadurch, dass die Schwestern an ihn glauben und um ihn
leiden, etwas Anteil an ihrem Ruhm beschieden sein wird, ohne dass er sich
weiter Mühe zu geben brauchte.
Charlotte, kaum erwachsen, wird Gouvernante bei reichen und recht
ordinären Leuten. Das ist auf die Dauer nicht auszuhalten. Der Plan entsteht
bei den Schwestern, im Pfarrhaus selbst ein Pensionat für junge Mädchen
auf-zumachen. Zu diesem Zweck muss man sich vor allem im Französischen
perfektionieren. So kommt es zu der Reise nach Brüssel - der einzigen Stadt,
die Charlotte und Emily auf dem Kontinent kennengelernt haben. Der Mann, dem
sie sich im katholischen Ausland anvertrauen, heisst Monsieur Héger, und die
Rolle, die er in Charlottens Leben spielt, ist entscheidend. Der gelehrte Herr
ist nicht schön, aber sein geistvoll unruhiges Gesicht fasciniert die arme
Charlotte. Ihr Herz entzündet sich, sie liebt - und so aussichtslos diese
verschwiegene Leidenschaft | |
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für den nicht mehr jungen und
verheirateten Professor bleiben muss: sie ist der eigentliche Einschnitt in
Charlottens Leben, ohne sie wäre jedes Wort, das sie später schreiben wird,
undenkbar. - Der Tod der puritanischen Tante ruft die Schwestern nach England
zurück; aber Charlotte fährt wieder nach Brüssel, so schnell es sich einrichten
lässt. Diesmal ist sie englische Lehrerin am Institut des Monsieur Héger; so
hat sie doch seine Nähe, das muss ihr genügen; denn im übrigen weiss sie, dass
sie nichts hoffen darf. Sie verbirgt ihre Qual und ihre Wonne, so gut sie kann.
Madame Héger aber ist wachsam. Die Situation wird tragikomisch, denn die
eifersüchtige Gattin schikaniert die verliebte englische Jungfer wo es nur
geht; schliesslich findet sogar Charlotte den Zustand unhaltbar. Sie kehrt nach
Hause zurück, nichts bleibt ihr, als Briefe zu schreiben, aber diese
Korrespondenz gestaltet sich ziemlich einseitig. Der Meister antwortet selten,
die erschütterte Charlotte hingegen findet immer herzergreifendere Töne.
‘Monsieur’, schreibt sie dem Unbarmherzigen, ‘les pauvres n'ont pas besoin de
grand'chose pour vivre... Moi non plus, je n'ai pas besoin de beaucoup
d'affection de la part de ceux que j'aime.’ Doch sie erhält kaum den
allermindesten Beweis der Affection, es ist blamabel und peinvoll: jede Nacht
fliessen Tränen.
Auch sonst steht alles zum Schlimmsten. Der Vater ist augenleidend,
fast am Erblinden. Der Pensionatsplan scheitert glatt an der unmöglichen und
ungesunden Lage von Haworth. Mit Bruder Branwell geht es rapide bergab. Er
versucht sich, recht paradoxer Weise, eine kurze Zeit lang als Pädagoge; dann
als Maler. Aber der Reiz, der ihn so verführerisch gemacht hatte, war nicht der
eines Talentes, überhaupt nicht der der Lebensfähigkeit; vielmehr sein ihm
eingeborenes Schicksal: sich zu Grunde zu richten. Seinen einsamen und reinen
Schwestern lebte er alle Zustände der Zerrüttung, des lasterhaften
Sich-Gehen-Lassens vor. Vor ihren Augen, die sich immer tiefer mit Schmerzen
füllten, und während sie jede Nacht seine verkommene Heimkehr erwarteten, ging
er zu Grunde. Zum | |
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Alkohol kam das Opium, das De Quincey damals
für eine gewisse europäische Elite in Mode brachte. Der Knabe, auf den ein
alter Pastor seine Hoffnung gesetzt hat - immer noch attraktiv, immer noch
vielgeliebt bei aller elenden Ramponiertheit - ist nun fast den ganzen Tag
besinnungslos. Eines Nachts geht sein Bett in Flammen auf, weil man versäumt
hat, ihm die Kerze zu löschen; Emily, die Tatkräftige, löscht das Feuer, das
Charlotte in Jane Eyre schildern wird. In einer anderen Nacht
stirbt der heruntergekommene Liebling.
Was bleibt den Schwestern, die immer erfahrerner in der
Enttäuschung, immer ärmer an Freude werden? - Sie schreiben. Sie wählen sich
ihre Pseudonyme und treten als die Brüder Bell an die Oeffentlichkeit - mit
schmalen Gedichtbänden zunächst, die freundlich besprochen werden, aber kein
Aufsehn machen. Der Ehrgeiz der Drei ist gestachelt; sie wagen sich an den
Roman. Emily schreibt Wuthering Heights, das Buch von der
Moorlandschaft, die sie täglich mit ihrem enormen Hund Keeper durchstreift;
Annens Roman heisst Agnes Grey, die Erfahrungen der jüngsten
Brontë als Gouvernante sind sein Thema. Charlotte bietet den Professor an - und wer anders könnte der Held sein, als der
angebetete Maître in Brüssel? -; übrigens wird sie als Einzige abgelehnt.
Immerhin bestätigen ihr die Verleger Smith and Elder ihr hoffnungsvolles
Talent. Denselben Abend, da sie die Ablehnung empfangen hat, macht sich die
kleine Dame - zäh, immer gespannt, nicht zu entmutigen - an die neue Arbeit. Es
wird Jane Eyre, und es wird der ganz grosse Erfolg.
Es kommt der Ruhm, es kommt Geld; Gerüchte über den geheimnisvollen
Autor des sensationellen Buches schwirren durch die literarischen Gazetten.
Currer Bell wird enthusiastisch gelobt, auch beschimpft, denn er skandalisiert
das Publikum, wie ausnahmslos jedes neue Talent; man macht ihm Roheit,
Schamlosigkeit, einen völligen Mangel an religiösem Gefühl zum Vorwurf;
jedenfalls wird er gierig gelesen. Schliesslich wird es zu viel der Vermutungen
und Kombinationen, Charlotte und | |
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Emily entschliessen sich, nach
London zu fahren, sich ihren Verlegern zu präsentieren. Eclat des Erstaunens -:
man hätte nicht zwei Damen vom Lande als Autoren dieser erschreckenden und
genialen Bücher vermutet. - Dass die Verfasser von Jane Eyre
und Wuthering Heights weiblichen Geschlechts sind, spricht
sich herum, wenngleich der Name Brontë unbekannt bleibt. Dadurch steigert sich
nur der Klatsch. Man konstruiert Zusammenhänge zwischen Currer Bell (das ist
Charlotte) und dem hochberühmtem Autor von Vanity Fair,
Thackeray, dessen geistreiches Haupt immer umgeben ist von der Gloriole
skandalöser Legenden. Uebrigens lernt Charlotte den Gefeierten, dem sie die
zweite Auflage ihres Romans gewidmet hat, erst später kennen; ihre Begegnung
bleibt ohne wesentliche innere oder äussere Konsequenz.
Im Jahre nach dem Erscheinen von Wuthering Heights
stirbt Emily, die von den Schwestern die stärkste schien und die jeden Tag mit
ihren Tieren die wilde und geliebte Landschaft ihrer Heimat durchstreift hat.
Bald danach stirbt Anne im Seebad Scarbourough; Charlotte, die dorthin mit ihr
gereist ist, bleibt allein. Sie hat ihren erblindenden Vater und den Widerhall
ihres Ruhms, der nicht wärmt. Sie reist öfter nach London, lebt als
Schriftstellerin. Es entstehen noch zwei Romane. Mit einem ihrer Verleger wird
sie befreundet; es kommt zu einem Heiratsantrag, den sie ablehnen zu müssen
glaubt. Die Ehe mit dem Hilfsgeistlichen Nicholls, die sie schliesslich noch
eingeht, - übrigens gegen den Willen ihres Vaters, von dem sie den Eigensinn
hat - ist sicher nicht die Erfüllung eines Lebens, das mit so pathetischem
Anspruch geführt wurde. Trotzdem spricht sie von Glück. Als Mädchen hatte sie
Anträge abgelehnt, weil sie glaubte, ihren Gatten ‘anbeten können’ zu müssen.
Schmerz und ein langes Alleinsein haben sie bescheidener gemacht. Man hört
keine Klage von ihr. Sie stirbt im Jahre 1855.
Jane Eyre ist ein lauterer Erfolg als Wuthering Heights. Der heutige Beurteiler wird Emilys Roman,
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der erfüllt ist von der melancholischen Weite der Moorlandschaft
und vom Heulen eines untröstbaren Sturmes, in vieler Hinsicht bedeutender
finden, als den grossen Reisser der Schwester, der viel eher das Sentimentale,
ja: das für unser Gefühl Komische streift. Emilys Wurf ist finsterer und
kühner; ihre Art zu erzählen ist von einer oft erschreckenden Härte, denkbar
unweiblich. Die Handlungen der Menschen und ihre Reaktionen sind von einem
unzivilisierten Radikalismus; all ihre Gebärden durch die Einsamkeit, die ihr
Hintergrund ist, übertrieben, masslos gemacht. Es kommt so weit, dass sie
voreinander erschrecken. ‘Ich hatte den Eindruck nicht mehr in Begleitung einer
Kreatur zu sein, die von derselben Art wäre wie ich...’, heisst es einmal, da
einer besonders grauenhaft aufbegehrt hat. ‘Wenn du kein Dämon bist -’, redet
einer den anderen beschwörend an, gleichsam um das Schlimmste abzuwenden. Die
Dialoge zwischen ihnen sind von pathetischer Wucht. Auf jeder zehnten Seite:
stürzende Tränen, Verzweiflung.
Jane Eyre ist sehr viel mehr ‘fabriquée’ als
Emilys Werk; geschickter gebaut, konsequenter auf Effekt berechnet. Die
Renaissance des Brontë-Ruhmes in Frankreich verdanken wir vor allem
Wuthering Heights, in zweiter Linie den späteren Romanen der
Charlotte. Mich aber reizt gerade die Beschäftigung mit jenem
Unterhaltungsroman grossen Stils, mit dem merkwürdigen Schmöker, der den Ruhm
der ‘Gebrüder Bell’ in ihrem Vaterland begründet hat. Diese überraschenden
Leistung - Jane Eyre - scheint mir interessant in mehr als
einer Hinsicht - zum Beispiel auch als ein charakteristisches Zeugnis für ein
sehr weibliches Talent: das zu unterhalten. Die grossen
Unterhaltungsschriftstellerinnen der letzten Jahrzehnte bis auf den heutigen
Tag haben in Charlotte Brontë eine pathetische, romantisch verschönte
Schwester.
Amüsant ist auch die literarhistorische Situation des Buches: es
steht merkwürdig zwischen der Romantik und dem realistischen Roman, dem es für
England in man- | |
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chem Bezuge den Weg bereitet. Beide Elemente sind
in seinem stilistischen Gewebe deutlich wirksam und spürbar. Man erkennt die
Fäden, die vom deutschen und englischen Ritterroman einerseits zu Jane Eyre führen; andererseits von dort zum David
Coperfield. Uebrigens übertriebe man kaum, wenn man sagen wollte, diese
beiden Werke seien von gleichem Rang - wenn nicht der erstaunlichen Charlotte
völlig das fehlte, was Dickens einzig macht: der Humor. Von ihm findet man bei
der Brontë keine Spur. An Spannung und klug verwalteter Lebensfülle gibt sie
dem, der in der Gunst des Publikums ihr grosser Nachfolger wurde, beinah nichts
nach.
Eine enorme Fülle des Stoffes ist mit solcher Ueberlegenheit
geordnet, die sehr komplizierte Handlung so geschickt gebaut, dass jeder hinter
dieser Arbeit die erfahrene Hand eines Mannes vermuten musste, nicht die einer
Anfängerin. Besonders aufsehenerregend wirkte, dass die Heldin des Buches zwar
Waise und zunächst bitterarm, auch sehr tugendhaft, aber keineswegs schön und
zimperlich war, eigentlich auch gar nicht hilfsbedürftig, wie die Konvention
einer rührseligen Literatur es verlangte. Vielmehr wird sie zwar als klein und
zart präsentiert, aber ihr Wesen ist beinahe hart, und schön ist sie nur in
ihren leidenschaftlichsten Momenten. Dafür ist sie intelligent, auch witzig,
und von einem ganz besonders ausgeprägten Eigensinn. Eine traurige Kindheit
konnte diesen Eigensinn nicht brechen, eher noch steigern. Das Haus einer bösen
und reichen Tante, wo sie Schreckliches mitmachen musste, verlässt sie nicht
gebrochen oder auch nur nachgiebig gemacht, sondern nur noch vertrotzter.
Folgt die berühmte Schulepisode, die Lowood-Stiftung, ein Stück
klassischer Erzählungskunst. Hier ist alles ohne die romantische Uebertreibung,
in die das Buch sonst oft verfällt: sachlich, exakt, ganz lebendig. Vom
angebrannten Haferbrei, den die Mädchen vorgesetzt bekommen, bis zur
Typhusepidemie, an der die sanfte und gescheite Freundin, Helen, stirbt, ist
hier alles glaubhaft, real und dadurch rührend. Glaubhaft und rührend ist die
Schwär- | |
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merei für die bedeutende und süsse junge Lehrerin, Miss
Temple - man spürt es: so hat sich Charlotte wirklich einmal für eine Lehrerin
begeistert -; die Scene, wo Helen und Jane im Zimmer des angebeteten Fräuleins
Tee trinken dürfen, gehört zu den echtesten und wärmsten aus der Literatur über
Internatsleben.
Die eigentlich romanhafte Verwicklung beginnt erst, wenn Jane die
Lowood-Stiftung verlässt, um auf einem Herrensitz Erzieherin eines kleinen
Mädchens zu werden. Der Herrensitz heisst Thornfield, sein Gebieter Mister
Rochester. Er ist viel auf Reisen, man merkt ihm an, dass er dies und das
hinter sich hat; er ist nicht schön, aber höchst interessant, eine düstere
Anziehungskraft geht von ihm aus. Rührend ist festzustellen, wie in der
gedrungenen, zugleich gefährlichen und hilfsbedürftigen Figur dieses Edelmanns
Charlotte ihren Professor, den Maître von Brüssel, ins Hochdämonische, zum
abenteuerlichen Grandseigneur hinaufstilisiert hat. - Die Zuneigung zwischen
dem geheimnisvollen Schlossbesitzer und seinem stolzen kleinen Kinderfräulein
entsteht langsam, auf beiden Seiten aber hat sie alle Akzente des
Schicksalshaften, Unentrinnbaren. Die umständliche Geschichte dieser sozial so
riskanten, in jedem andren Betracht so überraschenden Liebe wird mit einer
bemerkenswerten Geschicklichkeit entwickelt. Wir werden auf das kunstvollste
hingehalten. - In dem schönen Schloss aber stimmt etwas nicht, es häufen sich
die unheimlichen kleinen Zwischenfälle, uns wird angst und bange. Wie im
routinierten Detektiv-roman wird der Verdacht auf allerlei Personen gelenkt,
die zwar abstossend, aber doch unschuldig sind. Obwohl entschieden allerlei in
der Luft liegt und es an düsteren Symptomen nicht fehlt, kommt es zwischen Jane
und Rochester doch zur Verlobung. Da aber die Beiden, etwas gehetzt, zum
Traualtar schreiten wollen, vollzieht sich die Katastrophe: der Unhold, der im
Schlosse den üblen Schabernack anstiftete, war - die rechtmässige Gattin des
Mister Rochester; wahnsinnig zwar, viehisch verkommen, aber seine Frau eben
doch vor Gott und den | |
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Menschen. Wo war sie gewesen, bis nun? Man
hatte sie versteckt gehalten im Turme. - Zusammenbruch Janes. Sie wäre fast, um
ein Haar - ja, wie soll man es nennen? -: das Kebsweis, die Mätresse Rochesters
wäre sie fast geworden. Da läuft sie auf und davon, ohne erst Barschaft zu sich
zu stecken. Als ärmste Vagabundin sehen wir sie auf der Landstrasse beinah
elend zu Grunde gehen - bis sie vor einem kleinen Hause endgültig
zusammenbricht, in dem zwei junge Damen grade in Schillers Räuber lesen. Man nimmt sie auf, endlich. Noch einmal Idylle,
denn der Bruder der beiden guten Damen ist Geistlicher.
Die Episode in diesem Milieu der drei frommen Geschwister ist wieder
vorzüglich; vor allem der Bruder, St. John, ist eine bemerkenswerte Figur. Er
ist vollkommen schön, ohne anziehend zu sein, und beinahe böse vor lauter
grundsätzlicher, menschheitsumfassender Güte. Ein konventionellerer Erzähler
hätte aus diesem St. John eine Idealgestalt gemacht, die sich von dem
gewissenlosen Rochester abheben könnte wie das Weisse vom Schwarzen. Nicht so
Charlotte Brontë - und hier beweist sich, dass sie mehr ist als eine
Romanfabrikantin, und dass das Héger-Erlebnis mehr war als eine blutlose
Schwärmerei. Jane liebt Rochester, und der perfekte St. John könnte ihr die
wundervolle Unruhe nicht ersetzen, die ihr zu jeder Stunde aus der Qual dieser
Liebe kommt. Sie lehnt also den Antrag St. Johns ab, ihm als Eheweib in ferne
Lande zu folgen. Für das, was der junge Geistliche und seine lieben Schwestern
Gutes an dem Mädchen getan haben, das vor ihrer Türe im Sterben lag, werden sie
übrigens üppig entlohnt: Jane hat höchst unvermutet einen Onkel in Madeira
beerbt. Die 20.000 Pfund teilt sie grosszügig mit den Geschwistern.
Jane aber gehört zu Mister Rochester, mit dem sie in einer Art von
mystischer Verbindung blieb: in entscheidendem Moment hörte sie seine
angebetete Stimme, und er vernahm ihre, da sie Antwort rief. Sie reist nach
Thornfield, findet aber nur einen Trümmerhaufen: die unzu- | |
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rechnungsfähige Misses Rochester hat alles angezündet und sich dabei
selbst aus dem Wege geschafft, sie ist mit verbrannt. Mister Rochester selbst
wohnt auf einer andren kleinen Besitzung; er ist bei der Brandkatastrophe
erblindet, arm, ein gebrochener Mann. So findet ihn Jane, die ihn trösten darf:
sie hat ihm ein kleines Vermögen und ihre ganze Liebe zu bieten. Das Glück, das
nun doch noch kommt, ist rührend, denn dahinter liegen so viel Kämpfe. Es neigt
sich leise und spät zu der klugen, tapfren kleinen Jane und zu ihrem vielfach
umgetriebenen Geliebten. Nichts von der Trivialität des happy end; dieses
glückliche Ende wird zugleich beschattet und ergreifend verklärt von den vielen
komplizierten, wilden und bittren Abenteuern, durch die es erzwungen wurde.
Der klassische Unterhaltungsroman ist mehr als nur ein
literarhistorisches Kuriosum. Die ausgefallensten und überraschendsten
Geschehnisse werden hier mit einer epischen Gelassenheit vorgetragen, die sie
glaubhaft und suggestiv wirken lässt. Eine klug ausgewogene Mischung aus
hochromantischem Pathos und realistischer Lebendigkeit macht ihn lesenswert für
alle die, die heute noch dem kuriosen Gewerbe nachgehen: dem, durch
Geschichtenerzählen die Leute aufzuregen und zu belehren. Jane
Eyre, reizvoll an der Grenze zwischen Schmöker und echtem Kunstwerk,
könnte vielleicht sogar heute noch ein durch den Film verwöhntes - oder
verdorbenes - Publikum aufs kräftigste unterhalten und rühren. Sie verdient es,
aus der Vergessenheit gehoben zu werden.
Zusammen mit dem Ruhm des Romans würde dann auch wieder das Bild der
Charlotte Brontë zu dem uns gegenwärtigen Vorrat an grossen, pathetischen
Bildern gehören; und damit auch das Bild ihrer traurigen Schwestern. Und es
würde geliebt werden, dieses Bild, des bin ich sicher, wenn ich es mir nun noch
einmal betrachte - so etwa, wie es uns der arme Branwell auf einem Porträt
hinterlassen hat: diese drei klugen und träumevollen Gesichter, mit dem des
verlorenen, hochmütigen Bruders inmit- | |
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ten; diese weltfremden
Blicke unter den geistig erfahrenen Stirnen; diese Melancholie der Reinheit und
einer unverbrauchten Liebe - einer Liebe, die ihnen ein zu strenges Leben nicht
abnehmen wollte. So waren sie genötigt, diesen ganzen Vorrat an Zärtlichkeit
und an Phantasie in ihrer Kunst zu verwenden, und also etwas von ihm bis auf
uns kommen zu lassen.
Klaus Mann
Noot v.d. Red. Wij geven er de voorkeur aan
bovenstaande bijdrage in de oorspronkelijke taal te publiceeren. Natuurlijk zal
zulks ook in de toekomst alleen bij uitzondering geschieden.
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