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Chaplin hatte ein Jahr lang an einem Film aus der Zirkuswelt gearbeitet. Der Zaungast des Lebens, der Unglucksrabe, die arme, geduckte, verschüchterte Kreatur, die er immer darstellt, sollte diesmal Clown sein in der glitzernden Welt des Scheins, sollte neue Abenteuer unter den Menschen erleben, die oft hinter lächelnder Maske bitterstes Weh, hinter dem tollsten Spasz schmerzvollste Verzweiflung verbergen. Als er, nach der Unterbrechung seiner Arbeit, die Aufnahmen zum ‘Zirkus’ fortsezte, muszte sich Persönliches, Persönlichstes in sein Werk mischen. Ganz gegen seine Gewohnheit wurde der letzte Teil des ‘Zirkus’ in gröszter Eile fertiggedreht. Er trägt deutliche Spuren des Erlittenen. Es ist, als wollte Chaplin diesmal nach einer Stunde, in der er sein Publikum mit seinem tieftragischen, köstlichen Witz unterhalten, noch ein paar Augenblicke Aufmerksamkeit für sich selbst erbitten und sich verstatten, am Ende einer Reihe düsterer Scherze einmal zu sagen, wie ihm wirklich zumute ist, und statt der frohen Szene, die man vielleicht erwartet, an das Ende seines neuen Werkes einen trist-melancholischen Ausklang zu setzen.
Der Zufall, der die Schicksale aller Chaplin-Gestalten bestimmt, führt den kleinen Mann diesmal in den Zirkus. Hier wird er, der mit allen Dingen und Menschen seiner Umgebung einen aussichtslosen, leidvollen Kampf führt, unfreiwillig zum Clown. Das Geschick, das über ihm waltet, macht ihn zum ‘komischen Mann’, und was ihm in seiner Seeleneinfalt immer noch tragisches Ringen ist, wird den andern zum Gelächter. Die andern Clowns müssen sich verstellen, um das Publikum zu erheitern; Charlie Chaplin darf bleiben wie er ist, um den gröszten Lacherfolg zu erzielen. Denn alle Komik beruht auf der Schadenfreude des Publikums, und wem geschieht mehr Schaden als dem ewigen Wanderer mit dem engen Röckchen, Jen weiten Hosen, den allzu breiten Schuhen und dem ergebenfinsteren Gesicht....
Man lacht über ihn, weil er den Mechanismus eines Zaubertisches, das Geheimnis des verschwindenden Mädchens enthüllt, weil er durch die Manege purzelt und sich in dieser neuen Welt nicht zurechtfinden kann. Der Zirkusdirektor will ihm auch altbewährte Artistentricks beibringen, aber diese Absicht scheitert. Könnte man ein Pech vortäuschen, das Charlie Chaplin nicht wirklich erlebt? Wenn er in einen Löwenkäfig gerät und der Löwe glücklicherweise gerade schläft, so wird sicher ein überlautes Hündchen Chaplins gefährlichen Gefährten aufwecken. Wenn er für den Seiltänzer einspringt, um dem geliebten Mädchen zu imponieren, so wird der Strick, mit dem er sich in der waghalsigen Situation geholfen, sicher reiszen und zudem noch ein Schwarm von Meerkatzen seine Kleider zerfetzen. Am übelsten spielt ihm der Zufall mit, wenn er Glück zu haben scheint. Steckt ihm einmal ein ertappter Taschendieb seine Beute zu und freut sich der arme Tramp Charlie Chaplin der dickgefüllten Brieftasche und der goldenen Uhr, wird sicherlich der rechtmäszige Besitzer dieser Herrlichkeiten just in dem Augenblick neben ihm stehen, in dem er sich endlich für seinen knurrenden Magen ein biszchen Essen kaufen will. Nur ganz selten meint es dieser tückische Zufall wirklich gut mit ihm. Möchte er gar so gerne durch ein Loch in der Zirkuswand die Wunderdinge betrachten, die dort drinnen vor sich gehen, so kann's schon vorkommen, dasz gerade neben ihm ein Stallknecht niedergeboxt wird, er auf den Körper des Ohnmächtigen steigt und so zu dem Loch hinaufgelangt, das ihm zu hoch war. Als er sich in zitternder Furcht vor einem Polizisten, der ihn verfolgt, unter die mechanischen Figuren einer Schaubude mischtund ihre hölzernen Bewegungen nachahmt, stellt der Zufall den Taschendieb, der ihm soviel
Unannehmlichkeiten bereitet hat, neben ihn, und Chaplin kann nun als mechanische Puppe dem Taschendieb, der sich nicht rühren darf, um nicht von dem Polizisten gesehen zu werden, soviel Hiebe mit der Keule versetzen, als er nur mag.
Dieser ‘komische Mann’, auf den immer ein Blitz niederfährt, wenn er seinen Himmel wolkenlos wähnt, ist in seinem Herzen ein Rebell. Aber es fehlt ihm die Kraft, sich gegen den bösen Zufall, gegen die boshaften Menschen, gegen die Macht, die über ihm ist und die er fürchtet, zu wehren. Einer der zahllosen vom Leben Niedergedrückten und Gehetzten ist er, deren Arm aber schwach und lahm vor jeder groszen Tat zurückschreckt. Befreiung von seiner angestauten Wut, von seinem riesengross aufgespeicherten Hasz gegen alle, die schuld sind an seinem Elend, findet er nur in einem winzigen Hieb gegen seine Gegner.
Auf seiner Flucht kommt er in einen Spiegelirrgarten, hundert Chaplins stehen ihm gegenüber, den Hut, den er verloren, findet er nicht, weil hundert Chaplin-hüte auf dem Boden liegen; aber auch der Polizist findet aus den hundert Spiegel-Chaplins den wirklichen nicht heraus, und so kann der wirkliche Chaplin, bevor er weiterflieht, dem Polizisten einen tüchtigen Fusztritt geben, und er trifft den wirklichen Polizisten, nicht eines der hundert Spiegelbilder...
Vom Pech verfolgt, vom Glück genarrt, mit jeder Geste, jedem kleinen Erlebnis den andern Anlass höhnischen Gelächters, Clown wider Willen, Clown aus unfasslicher Schiksalsbestimmung, wird