Documentatieblad werkgroep Achttiende eeuw. Jaargang 1991
(1991)– [tijdschrift] Documentatieblad werkgroep Achttiende eeuw– Auteursrechtelijk beschermd
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Hans Erich Bödeker
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Kaum genutzt hat die deutsche Buch- und Leserforschung bislang die verschiedenen Handlungsbücher der Buchhändler. Gerade die Buchändler waren kulturelle Schlüsselfiguren, waren Vermittler zwischen Angebot und Nachfrage.Ga naar voetnoot3. Lokal, regional und überregional spielten sie eine wichtige Rolle in der geschriebenen Kommunikation. Sie garantierten die Diffusion und Zugänglichkeit von Texten. Ihre Verlagstätigkeit läßt das Ausmaß und den Charakter der lokalen literarischen Produktion erkennen; ihre Läden befriedigten die Neugier der potentiellen Käufer, eröffneten ihnen den Zugang zu Büchern, Broschüren, Zeitschriften usw. Aus ihren selten genug überlieferten Handlungsbüchern kann man nicht nur die bestellten und gelieferten Bücher, sondern auch die Funktionen einer Buchhandlung, ihr kommerzielles Netzwerk, ihre Anbindung in den lokalen wie überregionalen Markt, ihre wirtschaftliche Situation, ihre Umsätze rekonstruieren. Durch eine Analyse lernt man zugleich die soziale Zusammensetzung und den Wandel des Kundenkreises des jeweiligen Buchhändlers kennen; man erhält Einblicke in seine literarischen und kulturellen Bedürfnisse und Interessen. Die Untersuchung von Handlungsbüchern ermöglicht tiefe Einblicke in die intellektuellen und kulturellen Lebenswelten eines Ortes, einer Region.
Ausgangsmaterial meiner laufenden buch und lesergeschichtlichen Untersuchungen sind die sogenannten ‘Kundenkreditbücher’ des Buchhändlers Friedrich Christoph Theissing (1759-1845) aus Münster in Westfalen.Ga naar voetnoot4. Die Kundenkreditbücher listen für den Zeitraum zwischen 1790 und 1823 in zwei Bänden von ca. 2000 Folioseiten die Namen der Kunden (häufig mit Angabe ihres Standes, ihres Berufes und ihrer Wohnung in Münster oder ihres Wohnortes), die Namen des Autors mit den Kurztiteln der verkauften Bücher sowie Angaben zu Bücherpreisen und Kaufdaten auf. Eine Untersuchung dieser Quelle erschließt wichtige Informationen über die lokale und regionale Diffusion der zeitgenössischen literarischen Produktion. Allerdings erschwert der Verlust des Firmenarchivs die Rekonstruktion der verlegerischen und buchhändleri- | |
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schen Aktivitäten Friedrich Theissings. Mit welchen Buchhändlern und Verlegern unterhielt er geschäftliche Verbindung? Wo lagen die regionalen geschäftlichen Schwerpunkte? Wie waren seine Beziehungen zu Leipzig, dem Zentrum des Buchhandels oder zu Lemgo, dem westfälischen Zentrum? Welche Bücher produzierte der Theissingsche Verlag? Vor allem aber, welche Bücher wurden im Buchladen selbst über den Ladentisch verkauft? Diese Quellenlage bestimmt die Möglichkeiten wie die Grenzen meiner Forschungen. Andererseits liegen in überraschender Vielfalt Materialien - Briefe, Tagebücher, leider kaum Inventare - eines Teils des Kundenkreises dieses Buchhändlers vor. Zu bedenken ist allerdings auch, daß diese Kunden sich auch bei anderen Münsteraner Buchhändlern bzw. Buchhändlern außerhalb Münsters mit Literatur versorgt haben. Jeder Kunde war zugleich auch Leser, Leiher, Ausleiher und Geschenkempfänger von Büchern. | |
IIWestfalen lag um 1800 an der kulturellen, ökonomischen und politischen Peripherie. Die Region hatte durchaus den Status der vernachlässigten Nebenlande. Den überwiegenden Teil Westfalens, ca. drei Fünftel bis zwei Drittel der Fläche, nahm immer noch das Fürstbistum Münster ein. Daß die provinzielle Rückständigkeit lange Zeit hindurch mit Recht als Kennzeichen Westfalens galt, hat Gründe: die überwiegend agrarische Struktur der Region, der Mangel an bedeutenden Fürstenhöfen und Handelsstätten als Zentren kultureller Entwicklung - Westfalen hat nie bedeutende literarische Zentren besessen -, die bis zur Einführung der Eisenbahn höchst ungünstigen Verkehrsverhältnisse sowie der vorherrschende orthodoxe Katholizismus, der der Aufklärung und Reform im Munsterland nur ein schwaches Echo finden ließ.
Die Stadt MünsterGa naar voetnoot5. war bis 1802 Haupt- und Residenzstadt des Fürstbistums Münster, der nördlichen Bastion des Katholizismus. Hier residierte ein Bischof, saß die Regierung des geistlichen Territoriums, gab es eine Universität. Residenzstadt war Münster freilich nur dem Namen | |
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nach, denn die Landesherren hielten sich aufgrund der Personalunion mit dem Kurfürstentum Köln seit dem frühen 18. Jahrhundert vorwiegend in Bonn auf. Die Bedeutung der Hofhaltung für das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Stadt war dadurch mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Die Funktionen als einer provinziellen Metropole, ihre politisch-administrativen und die kulturellen Zentralitätsfunktionen, in zweiter Linie auch die Funktion als Wirtschaftszentrum für das geistliche Territorium, prägten die beruflichen und sozialen Strukturen der mit 14.000 Einwohnern größten Stadt des Fürstbistums und darüber hinaus des engeren westfälischen Raumes. Jeder 20. der Einwohner des Fürstbistums lebte in Münster.
Die starke Präsenz eines weniger durch seine Zahl als durch seine Stellung und verwandtschaftliche Beziehung ins Gewicht fallenden Adels, der mit der domkapitularischen Geistlichkeit familial verbunden war, bestimmte neben dem größeren Kreis der rd. 60 Familien des städtischen Honoratiorentums, den zahlreichen höheren und mittleren Bematen und einem zahlenmäßig starken Pfarr- und Ordensklerus das soziale Profil der Stadt. Diesen Schichten stand ein Gewerbebürgertum gegenüber, unter dem die Handwerker überwogen. Die niedrige Arbeitsteilung des Münsterischen Handwerks verweist auf ihre Organisation in Kleinbetrieben und ihre Orientierung auf den lokalen Markt. Ansehen und Reichtum konzentrierten sich selbstverständlich stärker bei der Kaufmannschaft, deren über die Landesgrenzen hinausreichenden Handelsbeziehungen sich jedoch in einem verhältnismäßig engen Rahmen abspielten. Geistlichkeit, Beamtenschaft und die Vertreter der sogenannten freien Berufe machten zusammengenommen fast den gleichen Prozentsatz der Erwerbstätigen aus wie Händler und Handwerksmeister (ca. 20·%); die sogenannten freien Berufe waren zahlenmäßig gleichbedeutend mit dem Handel. 1802 umfaßte die Gruppe der Beamten und der freien Berufe fast 22·% der männlichen Erwerbstatigen. 9·% der Erwerbstätigen waren im Bereich ‘Handel und Verkehr’ als Meister, 18·% der Erwerbstätigen im Bereich ‘Handwerk und Gewerbe’ tätig. Die Lohnabhängigen, also die Gesellen und Gehilfen des Gewerbebereichs wie die Arbeiter und Dienstboten, machten etwa 20.·% der Bevölkerung aus. Der Anteil der Armen an der städtischen Bevölkerung Münsters lag im Durchschnitt unter 10·%.
Über den Grad der Alphabetisierung der westfälischen Bevölkerung im Ausgang des 18. Jahrhunderts liegen keine Forschungen vor, auch nicht über Münster. Gleichwohl dürfen wir annehmen, daß hier bei einer Gesamtzahl von rd. 1.600 Schülern und Schülerinnen, die große Mehrzahl der Münsterischen Kinder Schulen besuchen konnten, gab es doch in jeder Pfarrei der Stadt mindestens eine Elementarschule. Auf diesem | |
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Elementarunterricht konnte das traditionsreiche Gymnasium Paulinum als Vorstufe für die Hochschule aufbauen.
Nach fast allen Zeugnissen über die altmünsterische Gesellschaftsordnung waren Adel, Bürger und Beamte deutlich voneinander abgehobene soziale Schichten. Und die Zeitgenossen wußten sehr genau zwischen Adeligen, Zivilbeamten und Bürgern zu unterscheiden, wobei die letzteren noch von den ‘Gemeinen’ abgehoben wurden. In der von den Traditionen des geistlichen Staates geprägten Stadt Münster lebte die ständisch gegliederte Gesellschaft des Ancien Régime nahezu unangefochten bis in das 19. Jahrhundert hinein fort. Der gegenüber den benachbarten protestantischen Regionen verspätete kulturelle Aufbruch Munsters im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts spiegelte sich auch in der verzögerten Konstituierung der lokalen Aufklärungsgesellschaft. Die schmale Schicht der bürgerlichen und adeligen Gebildeten institutionalisierte sich nur vorsichtig in den neuen Formen der Geselligkeit: den Clubs, den Logen und Lesegesellschaften. Zwischen 1775 und 1800 waren in Münster fünf dieser geselligen Vereinigungen entstanden; sie hoben sich noch deutlich durch die Zuordnung der teilweise unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten voneinander ab, doch sind Ansätze zur Uberschreitung der sozialen Schranken unverkennbar.
Münster war bis zum Ausgang der fürstbischöflichen Zeit (1802) eine fast ausschließlich katholische Stadt. Noch 1850 umfaßte der katholische Bevölkerungsanteil 90·%. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der evangelischen Bevölkerung auf 9·%. Diese Homogenität zwischen Einwohner und Glaubensgemeinde lassen die katholische Konfession als gesellschaftlich bedeutenden Faktor erscheinen. Die einheitlich politische und konfessionelle Entwicklung garantierte Münster einen festen Einflußbereich. Doch ebenso wie dieser konfesssionelle Rahmen die Bedeutungsentfaltung Münsters sicherte, setzte er ihr auch Grenzen.
Münster blieb in den Jahren um 1800 trotz mehrfachen Souveränitätswechsels immer Verwaltungszentrum. Durch die eingeleiteten tiefgreifenden verfassungsmaßigen und politischen Veränderungen war Münster auch deren sozialen Folgen stets unmittelbar ausgesetzt. Im Jahre 1816 wurde Münster preußische Provinzialhauptstadt. Bevölkerungs- und Gesellschaftsstruktur, die Besitzverhältnisse und die Gewerbeentwicklung wurden durch diese Funktionen geprägt. | |
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IIIDer verspätete und zögernde kulturelle Aufbruch des Münsterlandes im letzten Viertel des 18. JahrhundertsGa naar voetnoot6. spiegelte sich auch in der Entwicklung der Buchdruckereien und Buchhandlungen, die zünftisch eingebunden und der Zensur unterworfen waren.Ga naar voetnoot7. Ihr Aufschwung im Rahmen der vom leitenden Minister Franz von Fürstenberg initiierten Reformen des Bildungs- und Schulwesens machte Münster zu einer regional bedeutsamen Stadt für Buchdruck und Verlag.Ga naar voetnoot8. ‘Beachtlich war der Reichtum des Erbauungsschrifttums für breite Kreise. Zwar gab es ahnliches auch in Regensburg und München; doch in Münster war das Besondere, daß man an der Tradition festhielt und der Aufklarung wenig nachgab.’Ga naar voetnoot9. Die schöne und die wissenschaftliche Literatur fristete dagegen weiterhin ein kümmerliches Dasein. Immerhin entstanden auch in Münster - mit erheblichem Zeitverzug gegenüber anderen deutschen Stadten - seit dem Ende des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts Ansatze von Strukturen eines literarischen Marktes. Dieser Aufschwung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Münster eine Randerscheinung in der deutschen Verlagslandschaft blieb.
Auch der Buchhandel, Gradmesser der literarischen Aufgeschlossenheit der Stadt, entwickelte sich durchaus erfolgreich. Während es 1770 nur eine bedeutendere Buchhandlung in Münster gegeben hat, gab es 1802 schon drei und 1810 vier bedeutendere Buchhandlungen. Daneben hatte es immer kurzlebige Unternehmungen oder Filialen auswärtiger Buchhandler gegeben. Gleichzeitig arbeiteten neun Buchbinder in Münster.
Der aus dem Münsteraner Honoratiorentum stammende Friedrich Christoph TheissingGa naar voetnoot10. hatte erst 1786, also nach der Gründung der Universi- | |
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tät, das Privileg zur Errichtung einer Buchhandlung und einer Druckerei erhalten. Allerdings war die Druckerei, jedenfalls im letzten Jahrzehnt des 18. und im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, für sein Geschäft weniger wichtig. Theissing versuchte vielmehr - vermutlich wegen der Konkurrenz der florierenden Aschendorffschen Druckerei - das Schwergewicht auf den Buchhandel zu legen. Damit entsprach er der in den letzten Jahrzehnten einsetzenden neuen Entwicklung der Trennung von Verleger und Sortimenter. Theissings Buchhandlung stieg rasch zur führenden und angesehensten Münsters auf und erfreute sich des regen Zuspruchs der alteingesessenen bürgerlichen und adeligen Eliten sowie der Professoren und Studenten der jungen Universität. Das wiederum veranlaßte Friedrich Theissing 1805, in die Nähe der Universität zu streben. Im Nebeneinander von Dom und bischöflichen, d.h. zugleich staatlichen Behörden einerseits und der Universität andererseits, entwickelte sich die Theissingsche Buchhandlung zu einem Treffpunkt der Münsteraner Gebildeten, an dem man Gleichgesinnte fand, an dem man sich über neue Bücher unterrichten konnte. 1818 gelang es ihm dann, die Waldecksche Buchhandlung zu übernehmen. Über den Alltag des Buchhändlers Theissing, das Leben in seiner Buchhandlung, wissen wir leider allzu wenig.
Die Leistungen Theissings als eines ‘intermédiaire culturel’ für die allgemeine Bildungsgeschichte Münsters und des Münsterlandes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der rührige und aufgeschlossene Friedrich Theissing, der u.a. in der führenden Universitätsstadt Göttingen sein Handwerk erlernt hatte, führte nach zaghaften Ansätzen durch Heinrich Perrenon in den 70er Jahren die zeitgenössische schöne Literatur und die wissenschaftlichen Publikationen der Aufklärung in Münster ein. Als einziger Münsteraner Buchhändler hatte er kontinuierliche Kontakte nach Leipzig, dem Mekka des deutschen Buchhandels, sowie nach Göttingen, der führenden aufklärerischen Universität. Er versorgte auch die Buchhändler mit neuer Literatur. In seinem Kundenkreditbuch tauchen als Kunden seine Münsteraner Kollegen Aschendorff und Coppenrath sowie einige Buchhändler der umliegenden Städte, etwa in Paderborn oder Deventer auf. Überdies gehörten zahlreiche Buchbinder des westfälischen Raumes zu seinen Stammkunden.
Joseph Heinrich Coppenrath, der im Jahre 1809 die 1768 gegründete Perrenonsche Buchhandlung übernahm, wurde für Theissing zu einem gefährlichen Konkurrenten.Ga naar voetnoot11. Während bei Theissing noch in tradi- | |
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tioneller Weise die Bücher in losen Blättern auf Eichenregalen gestapelt lagen, standen bei Coppenrath die gängigen Bücher broschiert oder gebunden in eleganten Schränken aus Mahagonie. Coppenrath hatte damit die erste moderne Buchhandlung in Münster eröffnet. Sie sollte für die Lesekultur in Münster in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine überragende Bedeutung gewinnen. 1803 gliederte Theissing seiner Buchhandlung eine Leihbibliothek an, die alle aufgeschlossenen Münsteraner anzog. Die dritte Auflage des Katalogs dieser Leihbibliothek listete 1828 2000 Romane und Erzählungen, 500 Theaterschriften, 300 Gedichtbände und 363 vermischte Schriften auf.Ga naar voetnoot12. Dieser Leihbibliothek, der bald auch andere Gründungen folgen sollten, war ein ‘Journal Leselnstitut’ angeschlossen.Ga naar voetnoot13. Allerdings sollte man den Aufschwung des literarischen Lebens in Münster nicht überschätzen. So klagte 1798 Friedrich Theissing: ‘Münster ist kein Ort, der zur Buchhandlung vorzüglich gelegen wäre. ... Der Münsterische Buchhändler lebt an einem Ort, dessen Volkszahl 15.000 Seelen nicht übersteiget, dessen Universitätsbürger kaum 100 sind und dessen an sich schon sehr kleines lesendes Publikum in diesen drangvollen Zeiten sehr beigeschmolzen ist. ... Endlich ist Westfalen eine Gegend, wo Geist der Handlung überhaupt und besonders der des litterärischen Gewerbes noch in seinem Keime liegt, wo ein Gelehrter außer einem Schulbuche nichts schreibt und wo eigene Verlags-Artikel, die dem Buchhandel in anderen teutschen Gegenden soviel Nahrung und Leben geben, eine seltene, kaum gewinbare Erscheinung sind.’Ga naar voetnoot14. | |
IVDie immer wieder hervorgehobene Bedeutung der Buchhandlung Theissing für die Vermittlung der literarischen Kultur nach Münster wirft die Frage nach der sozialen Zusammensetzung ihrer rd. 1.700 Kunden und deren Geschmack auf. Die erhobenen sozialen Daten des Kundenkreises sind auf dem jetzigen Stand der Forschung noch zu lückenhaft, zu | |
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disparat, zu unterschiedlich, um eine differenzierte soziale Analyse nach Stand, Beruf, Ausbildung und Karrieremuster, Herkunft, Heiratsverhalten, Konfession usw. zu ermöglichen. Soweit es sich gegenwärtig ausmachen läßt, bestand der Kundenkreis aus etwa 35·% Adeligen und rd. 65·% Bürgerlichen. Die adeligen Kunden lebten etwa zur Hälfte von ihren Einkünften und Renten; die andere Hälfte nahm führende Positionen in der staatlichen Administration oder in der Kirche und ihrer Institutionen ein. Die Mehrzahl der adeligen Kunden war akademisch ausgebildet. Dabei darf man nicht verkennen, daß die aufklärerisch aufgeschlossene Bildungsreform Fürstenbergs an dem westfälischen Adel weitgehend vorbeiging. Das Bildungsideal des westfälischen Adels orientierte sich weiterhin an dem traditionellen Grundmuster einer ‘Kavalierserziehung’.
Unter den bürgerlichen Kunden Theissings waren zwei Drittel Beamte und etwa ein Drittel stammte aus den Familien der bürgerlichen Honoratioren, die mit den Beamten verwandt und verschwägert waren.
Der Kundenkreis des Buchhändlers bestand zu einem beträchtlichen Teil aus Mitgliedern des katholischen Klerus, und zwar des Ordensklerus wie der Weltgeistlichkeit, sowie aus Verwaltungsbeamten aller Ränge und Sparten, aus Ärzten, Advokaten und Gelehrten - vom Professor bis zum Schulmeister - sowie wenigen Offizieren. Dem Charakter der Universitatsstadt entsprach der hohe Anteil der Studenten unter seinen Kunden. Sie lag weitaus höher als der Anteil der Offiziere. Verschwindend gering dagegen war der Anteil der Kaufleute, wobei die meisten der Kunden Theissings in Münster wohnten, noch unbedeutender der der Handwerker, einmal abgesehen von den Buchbindern. Die akademisch ausgebildeten bürgerlichen Beamten waren etwa zu 50·% in der territorialen und zu 30·% in der kommunalen Administration beschäftigt, und etwa 20·% lehrten am Gymnasium oder an der Universität Münster.
Der Anteil der Frauen als Buchkäufer liegt etwa bei 3·%. Theissings Kundinnen kamen vorwiegend aus adeligen Schichten, so bestellten die adeligen Stiftsfräulein aus den westfalischen Damenstiften in Asbeck, Borghorst, Freckenhorst, Fröndenberg, Langenhorst, Lemgo, Metelen und Nottuln häufig Bücher. Neben den Stiftsfräulein gab es auch andere adelige weibliche Kunden, während bürgerliche weibliche Kunden kaum in den Bestellbüchern zu finden sind. Offensichtlich war in Münster der Bücherkauf weiterhin eine Angelegenheit der Männer.
Etwa 60·% der Kunden Theissings lebten in Münster; die restlichen 40·% verteilten sich auf die kleineren und größeren Orte des katholi- | |
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schen Westfalens. Schwerpunkte waren die größeren Orte wie Warendorf, Burgsteinfurt, Vechta, Rheine, Coesfeld usw., wo mehrere Kunden lebten. In den meisten kleineren Orten und Ortschaften des Münsterlandes lebte jeweils nur ein Kunde. Die konfessionellen und territorialen Grenzen des Fürstbistums wurde nur selten überschritten. Ausnahmen in der näheren Umgebung Münsters waren vor allem das katholische Paderborn und das gemischt konfessionelle Osnabrück. In Osnabrück lebten nach Münster die meisten Kunden Theissings. Zu den das Fürstentum umgebenden protestantischen Gebieten bestanden kaum geschäftliche Beziehungen. Soweit sich bisher ermitteln ließ, war Ludwig Friedrich August von Cölln im Lippischen Oerlinghausen der einzige protestantische Pfarrer unter Theissings Kunden. Bei den wenigen außerhalb Westfalens - etwa in Bonn, Bremen, Bückeburg, Hildesheim, Kopenhagen, Oldenburg, Würzburg usw. - lebenden Kunden Theissings handelte es sich im wesentlichen um ehemalige Münsteraner, die an diesen Orten neue Stellungen gefunden hatten und noch enge familiale Beziehungen zu Münster pflegten.
Insgesamt werden die Münsteraner Kunden Theissings weniger als 10·% der städtischen Bevölkerung ausgemacht haben. Die Kleriker, Verwaltungsbeamten, Lehrer, Studenten, Offiziere und wenigen Kaufleute machten die spezifisch katholische residenzstädtische Variation der ‘gebildeten Stände’ aus.Ga naar voetnoot15. | |
VAuch die systematische RekonstruktionGa naar voetnoot16. der Leseinteressen der Kunden, also die Beschaffenheit des Theissingschen Bücherangebots, steht noch in den Anfängen.Ga naar voetnoot17. War das Theissingsche Angebot an Literatur | |
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ein genaues Spiegelbild der literarischen Produktion um 1800? Oder lassen sich vielleicht Schwerpunkte feststellen, die Rückschlüsse auf den spezifischen Geschmack des Münsteraner Publikums zulassen?Ga naar voetnoot18. Das sind Fragen, die erst eine präzise Analyse der gekauften ca. 40 bis 50.000 Bücher, d.h. etwa 30.000 Titel, beantworten könnte. Keiner der Theissingschen Bücherkataloge, welche die auf den Messen in Leipzig neu erschienene Literatur präsentierten, ist überliefert. Die Angebote könnten jedoch zu einem großen Teil durch die im Münsterschen Intelligenzblatt publizierten Bücheranzeigen rekonstruiert werden.Ga naar voetnoot19. Nach einer ersten Einsicht ergibt sich, daß, wenngleich offensichtlich nahezu alle wichtigen Neuerscheinungen annonciert wurden, dennoch eine provinzielle Verzögerung unverkennbar ist.
Alle Studien zur literarischen Produktion des 18. Jahrhunderts weisen einen bedeutsamen Rückgang der religiösen Literatur nach. Anders in Münster. Auch wenn in diesem literarischen Sektor Theissing - im Gegensatz zu seinem Konkurrenten Aschendorff - nicht führend war, lag der Anteil der verkauften religiösen Literatur doch beträchtlich über dem Durchschnitt. Bestimmte Heilige und Erbauungsschriftsteller, wie Franz von Sales, Fénélon, Tauler, Scupoli, Thomas von Kempis u.a. erfreuten sich besonderer Verehrung. Diese sogenannten ‘Brotartikel’ der Buchhandler, also die besonders gängige Literatur der Gebets- und Gesangbücher, der Erbauungsliteratur usw. haben in Münster nicht nur die adeligen Stiftsdamen oder die Buchbinder gekauft, über deren Kundenkreis wir bisher wenig wissen.
Bemerkenswert ist, daß die Literatur der Aufklärung in ihren anspruchsvollen Vertretern bei den Verkäufen eher unterrepräsentiert war. Beliebte Autoren der deutschen Literatur waren zunächst noch immer Klopstock, Gellert etc., also Autoren des Beginns der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese ‘Verspätung’ sollte sich noch bis ins 19. Jahrhundert hinein fortsetzen. Vom Geist des ‘Sturm und Drang’ war man in Münster dagegen weit entfernt. Und von Goethes Werken waren beliebt Götz von Berlichingen und die ‘geläuterte’ Iphigenie, während man den ‘Werther’ strikt ablehnte. Literatur wurde in Münster noch | |
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lange Zeit hauptsächlich nach moralischen Kriterien bewertet, kein Wunder, daß auch Christoph Martin Wieland abgelehnt wurde. Diese Haltung spiegelte sich auch in den zensierten Büchern, zu denen unter anderen Herders ‘Älteste Urkunde des menschlichen Geschlechts’, Nicolais ‘Reisen’, Goethes ‘Neue Schriften’ oder Wielands ‘Gedichte’ gehörten.
Die französische Literatur fehlte fast völlig, mit der bezeichnenden Ausnahme von Rousseau; aber Rousseau wurde nicht als Sozialphilosoph, sondern als Autobiograph und empfindsamer Romancier gelesen. Im Gegensatz zur französischen Literatur waren die führenden englischen Romanschriftsteller nahezu vollständig vertreten. Wegen der Kurztitel ist es jedoch nicht möglich zu untersuchen, ob die ausländische Literatur in Originalsprache oder in Übersetzung gelesen wurde.
Aber die Flut der Schauspiele und Romane, der Almanache und der Kalender etc., die von der Literaturwissenschaft so gern als Trivialliteratur apostrophiert werden, erreichte auch Münster.
Die Hauptwerke der europäischen Philosophie der Aufklärung gelangten, mit der doppelt bezeichnenden Ausnahme der französischen Aufklärungsphilosophie, nach Münster. Stark vertreten waren die deutschen Popularphilosophen der Zeit. Die Reaktion auf Kants Philosophie fiel in Munster unterschiedlich aus, wenn auch mehr ablehnend als zustimmend. Es ist nicht zu übersehen, daß neben den bekannten deutschen Vertretern des Merkantilismus, es vor allem französische Werke waren, denen die Münsteraner ihre Aufmerksamkeit widmeten. Allerdings ist auch hier eine traditionale Orientierung unverkennbar.
Zahlreiche Belege über den Verkauf von Journalen und Zeitschriften lassen sich im Kundenkreditbuch ausmachen. Diese Zeitschriften wurden nicht nur von Institutionen sondern auch von privaten Kunden abonniert. Die Jenaer ‘Allgemeine Literaturzeitung’ gehörte zu den beliebtesten Zeitschriften in Münster. Unter den abonnierten politischen Zeitschriften wird man eine konservative Ausrichtung nicht verkennen dürfen. So wurden in Münster Schlözers Stats Anzeigen weitaus weniger gekauft als deren konservativerer Gegenpart, Schirachs Hamburgische Politische Journal.
Das Charakteristikum der Buchkäufe der Kunden Theissings dürfte allerdings darin liegen, daß es sich im wesentlichen um juristische, theologische, wirtschaftliche, medizinische etc. Bücher handelte. In der Regel dürfte die schöne Literatur kaum mehr als 10·% der gekauften Titel ausmachen. Das berufliche Interesse der Käufer bestimmte eindeutig ihren Literaturerwerb. Wert zur Anschaffung hatte für die Kun- | |
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den Theissings vornehmlich das, was anerkannten wissenschaftlichen und literarischen Rang besaß. Tatsächlich gelesen haben diese Kunden jedoch weitaus mehr, als die bei Theissing gekauften Bücher. Dazu zählte natürlich auch eine Vielzahl zweit- und drittrangiger Autoren. Lektüre und Buchbesitz wurden von unterschiedlichen Einstellungen und Notwendigkeiten gesteuert und gingen teilweise getrennte Wege. Zu untersuchen wäre damit, ob nicht der Käuferkreis der Buchhandlung seine schöngeistigen literarischen Interessen in Autoren unterschiedlichen Ranges im Angebote der Theissingschen Leihbibliothek gespiegelt fand. Dafür sprechen viele Indizien.
Die Lesestoffe geben Auskunft über Wissensbestände, Orientierungen, Werte und Normen ihrer Käufer. Um jedoch nicht kurzschlüssig von dem Lektüreverhalten auf das Bewußtsein der Leser zu schließen, müssen das Leseverhalten und die Verarbeitungshandlungen der Leser berücksichtigt werden. Erst wenn es gelingt, Lesestoffe und Leseverhalten des Kundenkreises detailliert zu rekonstruieren, sind Aussagen über seine Lesebedürfnisse möglich. Damit drängt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen der Lektüre auf. | |
VINimmt man die von der Forschung herausgearbeitete Geschichtlichkeit der Lektürepraktiken ernstGa naar voetnoot20., müssen diese Untersuchungen des Kaufverhaltens durch Analyse des Leseverhaltens, also der Gebrauchsweisen, der Handhabungen, der Aneignungsformen und der Formen des Lesens ergänzt werden. Die unterschiedlichen Lektürestile und Lesevorgänge gründen in den Wandlungen der Institution Literatur wie in denen der lesenden Menschen. Untersuchungen zum Besitz von Büchern sind also durch die des Umgangs mit dem Buch und die der Leseweisen zu erweitern. Eine solche Geschichte der Leseweisen setzt neue und andere Quellen voraus als die der Kreditbücher. Zusammen mit den Bemerkungen über die Lektüre in Tagebüchern und Briefen vermag die Untersuchung von Bilddokumenten der künftigen Forschung wichtige Impulse und Grundlagen zu geben.Ga naar voetnoot21. | |
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Den gebildeten Kunden des Buchhändlers TheissingGa naar voetnoot22. war Lesen nichts Passives, kein bloßes Entziffern. Als akademisch ausgebildete Leser war Lesen für sie eine aktive Verstandesleistung. Sie waren zwar keine Literaten, aber doch mehr oder weniger professionelle Leser, keine ‘Lese-Dilettanten’. Ihr Leseverhalten läßt sich durch die geläufige These eines Übergangs vom traditionellen ‘intensiven’ Lesen von wenigen, althergebrachten, religiösen oder erbaulichen Texten zum modernen ‘extensiven’ privaten, leisen und individuellen Lesen zahlreicher weltlicher Texte nicht beschreiben. Die Analyse ihres Leseverhaltens kann kaum von einer Abfolge beider Lesetypen ausgehen. Lesen entwickelte sich nicht nur in einer Richtung, es nahm verschiedene Formen an. Nicht also die Dichotomie war charakteristisch für das Leseverhalten der Kunden Theissings, sondern vielmehr die Gemengelage von altem Lesestil und neuem Leseverhalten. Alle Zeugnisse sprechen dafür, daß ihr Lesen vielseitiger, komplexer, vielfältiger und möglicherweise auch individueller war, als es die Dichotomie ‘intensiv’ - ‘extensiv’ unterstellt.
Die Münsteraner Gebildeten unterschieden jedoch zwischen der berufsbezogenen Lektüre und der nichtberufsbezogenen, die sich ausschließlich auf die ‘Mußestunden’ beschränkte.
Einen großen Raum in ihrem Leseverhalten nahm die religiöse Lektüre ein, wobei die Bibellesung eine besondere Rolle spielte. Auch für die sogenannte Wiederholungslektüre der Kunden Theissings gibt es zahlreiche Belege. Ihr Leseverhalten stellte die überkommene Gleichsetzung von ‘lauter’ Lektüre und Wiederholungslektüre in Frage. Durch Wiederholungslektüre wollten sie sich der Texte vergewissern, was mit der Tradition der Wiederholungslektüre übereinstimmte. Im Gegensatz zur traditionellen Wiederholungslektüre verteilte sich ihre Lektüre allerdings auf verschiedene, ganz unterschiedliche ästhetische, philosophische oder literarische Texte. Diese aufklärerische Wiederholungslektüre konnte sich an bestimmte Tageszeiten, an bestimmte Jahreszeiten binden, konnte sich ritualisieren. Vor allem Klopstock war in Münster ein Autor, dessen wiederholte Lektüre sich ritualisierte. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts war die traditionelle Anforderung, Bücher mehr als einmal zu lesen, noch nicht erschüttert. In ihrem Leseverhalten kündigte sich die Lektürepraktik an, die die Ergriffenheit des Lesers als Bedingung | |
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der wahrhaften Aufnahme des Textes erforderte. Dieser Lesestil könnte als Wiederbelebung ‘identifikatorischen Lesens’ in einer Zeit allgemein festgestellter Ausbreitung des ‘extensiven Lesens’ gedeutet werden. Unter den Kunden Theissings ging die Wiederholungslektüre also fast überall mit einer extensiven Lektüre einher. Beide Rezeptionsweisen, die ergriffene Rührung und die intellektuelle Auseinandersetzung, waren allerdings offensichtlich mit einem Verlangen nach Kommunikation verknüpft.
Zu den individuellen, privaten, einsamen, der Öffentlichkeit entzogenen Formen des Lesens kam das Lesen in frischer Luft, im Garten, unter Baumen, im Stehen oder während eines Spaziergangs hinzu.
In der gebildeten Lebenswelt Münsters wurden durchaus noch Texte vorgelesen und im Zuhören rezipiert. Die Lektüre der Gebildeten war also nicht nur die abgeschlossene, private Lektüre; sie war zugleich Ausdruck und Beweggrund neuer Formen von Geselligkeit und Gesellschaftlichkeit. Die Vorlesepraxis der Gebildeten Münsters, die in einer prinzipiellen Gleichberechtigung der Teilnehmer gründete, weichte jedoch das traditionelle autoritative Vorlesen des Hausvaters, Pfarrers oder Lehrers auf. Zu den Texten, die man sich wechselseitig vorlas, gehörten literarische Texte ebenso wie wissenschaftliche Literatur. Und diese nichtautoritäre, gleichberechtigte Praxis des Vorlesens konnte sich verknüpfen mit einer nachfolgenden Diskussion über das Gehörte.
Die aufklärerische Neigung zum Vorlesen war zugleich ein geselliges Moment. Vorlesen, gemeinsames Lesen in verschiedenen Zirkeln, gehörte zur alltäglichen Lebenserfahrung und zur kulturellen Praxis der Münsteraner Gebildeten. Allerdings war diese Praxis des Vorlesens ohne gleichzeitige Verrichtung von Arbeit ein Privileg der gebildeten Schichten. Die Leseabende der Gebildeten, die literarischen Kränzchen, unterschieden sich grundsätzlich von dem traditionellen kollektiven Vorlesen religiöser Bürger in der um den Hausvater versammelten Hausgemeinschaft.
Die wiederholten Hinweise auf das nichtberufsbezogene Lesen in den Mußestunden war bezeichnend für die Lesegewohnheiten der gebildeten Zeitgenossen. Sie schrieben dem nichtberufsbezogenen Lesen seine Zeit zu. Im späten 18. Jahrhundert wurde das nichtberufsbezogene Lesen am Abend üblich. Der Abend wurde, noch bevor die Regulierung der Arbeitszeit die Mußestunde begrenzte, die bevorzugte Lesezeit der Gebildeten. Gleichzeitig konkurrierte ihr Lesen mit allen anderen Aktivitäten und Interessen, die aus dem Arbeitsleben verbannt wurden. Ob aber dieser strukturelle Wandel das Lesen unmittelbar in die Funk- | |
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tion der Kompensation drängte, ist fraglich. Festzuhalten ist allerdings eine eindeutige Geschlechterrollenverteilung der Lektüre: die berufsbezogene oder politisch interessierte Lektüre des Mannes ist nicht zuletzt durch die Buchkäufe manifest, die Lektüre der Belletristik durch die Frauen in Münster steht allerdings erst in den Anfängen. Weibliches Lesen beinhaltete damals in Münster noch überwiegend religiöse Literatur.
Neben der Tendenz der Privatisierung des Lesens stand bei den Gebildeten fast gleichberechtigt ein intensives, gesellschaftlich betontes, auf die nachfolgende Kommunikation hin orientiertes Leseverhalten.
Nach vorliegenden autobiographischen Quellen implizierte das Kaufen von bestimmten Texten und das Ausleihen von Texten ein durchaus unterschiedliches Leseverhalten. Die Quellen legen nahe, in lebensgeschichtlicher Perspektive unterschiedliche Phasen des Leseverhaltens anzunehmen. Lektüre verlief im Normalfall diskontinuierlich. Es ist also von der Gleichzeitigkeit unterschiedlichen Leseverhaltens, also eines Spektrums verschiedenen Leseverhaltens bei den einzelnen Käufern, auszugehen. Offensichtlich führten verschiedene Texte, verschiedene Orte und Milieus sowie verschiedene Zeitpunkte zu jeweils unterschiedlichem Leseverhalten. Eine solche Geschichte des Lesens als Geschichte einer ‘kulturellen Praxis’ (R. Chartier) ist eingebettet in gröϐere verhaltensgeschichtliche Untersuchungen. |
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