Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden. Deel 102
(1987)– [tijdschrift] Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap– Auteursrechtelijk beschermd
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Calvinismus und Freiheitsrechte.
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einen und dem um die Niederlande gruppierten internationalen Calvinismus auf der anderen SeiteGa naar voetnoot2, beschäftigte das Reich und seine Organe ebenso wie die Provinzund Generalstaaten der Niederlande, zeitweilig sogar England, die skandinavischen Königreiche und PolenGa naar voetnoot3. Die Ereignisse sind daher in der deutschen und europäischen Frühneuzeitforschung weithin bekanntGa naar voetnoot4. Auch die politiktheoretischen Zusammenhänge sind wiederholt behandelt worden, vor allem auch von niederländischen HistorikemGa naar voetnoot5. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sich auf Seiten der Calvinisten profilierte Persönlichkeiten zu Wort meldeten, voran Ubbo Emmius und spater auch Johannes AlthusiusGa naar voetnoot6. Im Vordergrund der bisherigen Forschung stand die Frage, wieweit und in welchen Elementen das neue politische Denken des ‘westeuropäischen’ Calvinismus in Ostfriesland wirksam wurde, spezielldiecalvinistisch-monarchomachische Widerstandstheoriesowiedas Vernunftund NaturrechtGa naar voetnoot7. Zugespitzt auf den berühmten Juristen und Politiktheoretiker Johannes AlthusiusGa naar voetnoot8, der von 1604 bis zu seinem Tod 1638 als Syndikus in Emden tätig war, ergibt sich aus dieser Problemstellung die bekanntermaßen irritierende Frage nach Priorität und Vorrang von Henne und Ei, war doch die ‘Politica’ in erster Ausgabe bereits 1603 in Herbom erschienen. Ohne den Wert dieser Zusammenhänge in Abrede zu stellen, schlagen die folgenden Überlegungen einen anderen Weg ein: Es geht nicht vorrangig um eine Entwick- | |
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lungsgeschichte des politischen Denkens, jedenfalls nicht insofem sie sich in den Werken der großen Philosophen und Staatsdenker entfaltet. Untersucht werden soll vielmehr die ‘politische Kultur’, der die philosophisch-juristisch explizite Staatstheorie zweifellos angehört, die aber wesentlich breiter fundiert ist und ihrerseits das Denken der großen Staatsphilosophen mitprägte. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ist so gewählt, daß im wesentlichen nur Belege aus der Zeit vor dem Amtsantritt Althusius herangezogen werden. Die politische Kultur zeigt sich im Handeln und Argumentieren der Träger eines politischen Gemeinwesens. In Alteuropa waren das in erster Linie die Politikeliten in Stadt und Land. In extremen Situationen, in denen es, wie auf der Wende des 17. Jahrhunderts in Ostfriesland, um die politische und gesellschaftliche ‘Grundordnung’ ging, waren jedoch auch breitere Schichten der Bürgerschaft und der Landbewohner beteiligt - entweder direkt durch politische Aktionen und deren verbale Rechtfertigung oder indirekt durch die notwendige Rückkoppelung der politischen Elite an die Gemeindebasis in den Städten und Dörfern. Es geht um das Selbstverständnis der politisch Handelnden im weitesten Sinne. ‘Politische Kultur’ meint in der frühneuzeitlichen Welt, zumal im 16. und in weiten Strecken des 17. Jahrhunderts, noch in einer weiteren Hinsicht eine Verbreiterung des Beobachtungsfeldes: Ungeachtet ihrer längerfristigen Impulse für die Säkularisierung der Politik intensivierten Reformation und KonfessionalisierungGa naar voetnoot9 nochmals für ein Jahrhundert lang die engen Bande zwischen Kirche und Staat, zwischen Religion und Politik, die das Staats- und Politikdenken von Renaissance und Frühhumanismus bereits entschieden gelockert hatte: Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein war es die Verbindung zwischen religiösen und politischen Positionen und nicht - wie bisweilen behauptetGa naar voetnoot10 - die angeblich moderne Distanzierung vom konfessionellen Meinungsstreit, die die gesellschaftliche und politische Dynamik ausmachte und dementsprechend auch das Denken über die Ordnung in Staat und Gesellschaft prägte. Man kann geradezu von einem Sach- und Literaturkomplex ‘politische Theologie’ sprechen. Auf unseren Fall angewendet, ergibt sich die Notwendigkeit, die Auseinandersetzungen um Konfessionsstand und Verfassung der Emder, später auch der Groninger Stadtkirche mit in die Überlegungen einzubeziehen. Nur wenn beide Äste des Meinungsstreites untersucht werden, ergibt sich ein tiefenscharfes Bild von der politischen Kultur der antiabsolutistischen Partei in der Grafschaft Ostfriesland sowie ihrer Anhänger in Deutschland und den Niederlanden. Die Ereignisse und der sie begleitende Traktatenstreit zwingen dem Betrachter diese doppelte Perspektive geradezu auf. Der Konflikt um Inhalt und Gestalt der politischen Ordnung war zugleich ein Ringen um Bekenntnisstand und Regiment in | |
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der Kirche. Chronologisch genau genommen, ist der politische sogar aus dem kirchlichen Kampf erwachsen. Und auch im Meinungsstreit ging es zunächst ein knappes Jahrzehnt lang vorrangig um die Christologie, um das rechte Abendmahlsverständnis sowie um den Kirchenbegriff, bevor im Jahrzehnt nach 1595 die Frage nach den rechtlichen und politischen Grondlagen der Staatsgewalt in Emden und Ostfriesland in den Vordergrond trat.
1. Die konfessionellen Streitschriften: Läßt man die Kontroversen der engeren Reformationszeit und der Jahrhundertmitte sowie die kontinuierlich durchlaufenden Auseinandersetzungen mit den Täufern beiseiteGa naar voetnoot11, so beginnt der Entscheidungskampf zwischen konfessionell formierten CalvinistenGa naar voetnoot12 und Lutheranem im Jahre 1588 mit einem Streitschriftenaustausch zwischen Christoph Pezel, Vorsteher der bremischen Kirche und Wortführer des deutschen Calvinismus, und Tilman Heshus in Hamburg, dem ‘Papst’ der lutherischen Orthodoxie in NordwestdeutschlandGa naar voetnoot13. Pezel, der seine Schrift dem calvinistischen Grafen Johann von Ostfriesland widmete, verfaßte auf Bitten seiner Emder Glaubensgenossen eine Widerlegung von zehn Glaubensartikeln aus der Feder des Tilman Heshus, die dessen Sohn Gottfried als Hofprediger des lutherischen Grafen Johann in Ostfriesland publiziert hatte, um in Ostfriesland eine konfessionell formierte lutherische Landeskirche einzurichtenGa naar voetnoot14. Opfer war unter anderem Ubbo Emmius, der den Norder Schuldienst verlassen mußte und daraufhin zum führenden Theoretiker der calvinistischen Oppositionspartei wurde. In den 1590er Jahren folgte eine ganze Serie von aufeinander bezogenen StreitschriftenGa naar voetnoot15. Abgesehen von kleineren Schriften, wie einem Abendmahlslied des Emder Predikanten Menso AltingGa naar voetnoot16, legte die uns hier interessierende | |
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calvinistische Partei insgesamt sechs zum Teil umfangreiche Streitschriften vor - und zwar 1590/1591 einen Abendmahlsbericht; 1592 die gegen Hamelmann, einen weiteren Wortführer der Lutheraner gerichtete Missive oder Sendbriefe; 1593 den Bericht Von dem Emdischen Kirchenzustand; 1594 das Emder Bekenntnis; ebenfalls 1594 den Gründlichen und wahrhaftigen Reformationsbericht; schließlich 1597 eine Christliche Erinnerung.Ga naar voetnoot17 Hauptverfasser waren die Emder Prediger, voran Menso Alting und Gerhard Geldenhauer, heraten von Ubbo Emmius, und Christoph Pezel in Bremen, der zum Emder Abendmahlsbericht eine profilierte, von den Lutheranern heftig attackierte Vorrede schrieb. Da alle Wortführer der Emder Calvinisten Niederländer warenGa naar voetnoot18, die später vor allem in Groningen und Friesland auch direkt Einfluß ausübten, greifen wir in diesen Schriften zugleich das kirchen- und allgemeinpolitische Denken des niederländischen Calvinismus, und zwar - diese Spezifizierung ist im folgenden stets zu beachten - des rigiden, orthodoxen Calvinismus. Denn das bis über die Mitte des 16. Jahrhunderts hinaus dogmatisch keineswegs einheitliche niederländisch-nordwestdeutsche Reformiertentum war in Emden seit den ausgehenden 1570er Jahren einer Calvinisierung unterworfen worden, und zwar unter energischer Leitung Menso Altings, der zugleich der wichtigste Autor der genannten konfessionellen Traktate war. Die Niederlande, einschließlich der Provinz Holland, wurden | |
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bekanntlich im Verlaufe der ersten beiden Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts von dieser Calvinisierung erfaßt, einmündend in die contraremonstrantische Bewegung. In gewissem Sinne greifen wir in den ostfriesischen Traktaten der 1580er und 1590er Jahre die contraremonstrantische Position avant la lettre. Es ist im Auge zu behalten, daß die folgenden Ausführungen stets auf diese rigide Ausprägung des Calvinismus bezogen sind, und damit auf einen Ausschnitt des Reformiertentums, dessen theologisches Spektrum vor allem in den Niederlanden wesentlich breiter war. Nachdem für die Lutheraner zunächst vor allem der Norder Pastor Johannes Ligarius (1532-1596) gestritten hatte, meldeten sich seit Mitte der 1590er Jahre wieder die Führer der lutherischen Orthodoxie außerhalb Ostfrieslands zu Wort, und zwar Aegidius Hunnius in Wittenberg und Balthasar Mentzer in Gießen, um die Reichsöffentlichkeit auf den Konfessionsstand der Emder Kirche aufmerksam zu machen, der mit dem Reichsrecht nicht zu vereinbaren warGa naar voetnoot19. Schließlich sind noch aus dem näheren räumlichen und zeitlichen Umfeld zwei Schriften zu nennen, die ohne direkten Zusammenhang mit dieser konfessionellen Kontroverse weitere wesentliche Grundsatzpositionen über das Kirchen-, Staats- und Gesellschaftsverständnis des ostfriesischen und niederländischen Calvinismus fixieren und zugleich auf die weitere Entwicklung im 17. Jahrhundert vorausdeuten: Die 1602 in Groningen entstandene Apologia offte Verandtwordinge des Edicts ... jegen der Wederdoper unde ander secten unordningen, die die zuerst für Emden erhobenen staatskirchenrechtlichen Forderungen auf die niederländische Schwesterstadt überträgt, und das Ostfriesische Kleinod von 1612, ein detaillierter Katechismuskommentar des Emder Predigers Daniel Bernhard Eilshemius, in dem die Lehre des Emder Calvinismus gleichsam kanonisiert wurdeGa naar voetnoot20.
2. Die politischen Traktate: Als der calvinistische Charakter der Emder Stadtkirche durch den Delfzijler Vertrag und die Konkordate von 1599 gesichert war, erschienen keine konfessionellen Streitschriften mehr. Stattdessen kam es zu einem Austausch von politischen Traktaten, der seinen Höhepunkt in den Jahren 1602 und 1603 erreichte. Die Emder Calvinisten veröffentlichten vier teils sehr umfangreiche Flugschriften; die gräfliche Partei antwortete mit zwei Gegendarstellungen: Nach einem ersten Schlagabtausch, der von beiden Seiten mit aggressiven, zugleich aber auch witzig die in der kleinen Welt Ostfrieslands wohlbekannten persönlichen Schwachen des Gegners ausnutzenden Flugschriften geführt worden warGa naar voetnoot21, erschien | |
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die große ‘Apologie’ der Calvinisten, die aus drei Teilen bestand - dem zur propagandistischen Unterstützung vollzogener und geplanter Widerstandshandlungen im Sommer 1602 rasch auf den Markt geworfenen Vorlauffer für die notwendige volkommene Verantwortung mit 48 Seiten; der eigentlichen Apologia, das ist volkommene Verantwortung, die Anfang 1603 in Groningen erschien und auf 584 Seiten die zeitgeschichtlichen Ereignisse kommentiert und dokumentiert; schließlich den noch im gleichen Jahr folgenden Stücke und Beylage, darzu die Embdische Apologia sich referiret mit rund dreißig Schriftstücken und 182 SeitenGa naar voetnoot22. Die Autorenschaft dieser anonym erschienenen Traktate läßt sich nicht mehr eindeutig bestimmen. Hauptverantwortlich dürfte der Groninger Rektor und Historiker Ubbo Emmius gewesen sein, beraten von den Emder Theologen und Politikern, dazu von Johannes Althusius, der wahrscheinlich die speziellen juristischen Passagen beisteuerteGa naar voetnoot23. Obgleich die konfessionellen und politischen Traktate von den führenden Köpfen des Emder und Groninger Calvinismus verfaßt wurden, spiegeln sie nicht nur das politische Denken von ‘Intellektuellenzirkeln’ wider. Sie lassen sich auch für das politische Selbstverständnis breiterer Schichten in Anspruch nehmenGa naar voetnoot24. Denn die Veröffentlichungen zielten auch darauf ab, die Anhängerschaft bei der Sache zu halten und der massiven Werbungskampagne des LandesherrnentgegenzuwirkenGa naar voetnoot25. Darüber hinaus sind dort zahlreiche Akten und Urkunden abgedruckt, die das handlungsleitende Politikverständnis der städtischen Gremien zu erkennen geben, vom | |
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Stadtrat über das Presbyterium und die einzelnen Bürgerkorporationen bis hinab zur Bürgervollversammlung. Und schließlich ermöglichen die detailliert geschilderten Ereignisse wichtige Einblicke in die kirchlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen breiterer Schichten in der Stadt und auf dem Lande - und damit in die politische Kultur des nordwestdeutschen und niederländischen Calvinismus auf der Höhe des konfessionellen Zeitalters. Die Auswertung der Traktate erfolgt in drei Untersuchungsschritten: Zunächst sollen Methode, Argumentationsstrategie und Themenbereiche, vor allem die Rechtsmaterien, der Traktate untersucht werden (II, §1); dann geht es um einige Kernbegriffe, die auf der Wende des 16. Jahrhunderts im Zentrum der internationalen Politikdiskussion standen (II, §2); schließlich soil der Versuch untemommen werden, das Politikverständnis der antiabsolutistischen, calvinistischen ‘Patriotenpartei’ mit Hilfe des Paradigmas ‘frühneuzeitlicher Stadt- und Ständerepublikanismus’ synthetisch zu beschreiben (II, §3). Die Befunde sind jeweils getrennt für die konfessionellen und die politischen Traktate zu erheben. Denn trotz der engen Verzahnung standen die beiden Äste des ostfriesischen Meinungsstreits selbständig nebeneinander, wurden die kirchlich-religiösen und die staatlich-politischen Sachverhalte weitgehend, wenn auch nicht völlig getrennt behandeltGa naar voetnoot26. Über die methodischen Konsequenzen hinaus ist dieser Sachverhalt zugleich ein erster Hinweis auf die inhaltlichen Vorstellungen der Calvinisten über das Verhältnis von kirchlichen und weltlichen Elementen innerhalb der öffentlichen Ordnung. - Auf den Ergebnissen der Detailanalyse aufbauend, sollen abschließend einige allgemeine Erörterungen über die politische Kultur in Deutschland und den Niederlanden angestellt werden (III). | |
II. Die politischen und gesellschaftlichen ordnungsvorstellungen der konfessionellen und politischen traktate1. Methode und themenbereiche der argumentationa) Dominanz von Historie und positivem Recht der Friesen.- Argumentation und Methode der konfessionellen Traktate sind dominant historisch und positivrechtlich: Der landesherrliche Angriff auf Bekenntnisstand und Verfassung der Emder Gemeinde sei unrechtmäßig, weil Gott bereits die Voreltem zur Zeit der Reformation mit der ganzen Helligkeit der Wahrheit erleuchtet habe und dieser Glanz auch während der Interimskrise Mitte des 16. Jahrhunderts nicht verfinstert worden sei. Wenn die lutherische Partei eine andere Lehre durchsetzen wolle, so stehe das im Widerstreit zu Geschichte und Tradition der ostfriesischen Kirche, sei ‘Schwärmerei unruhiger einkommender Leute’Ga naar voetnoot27, die die Emder irre machen wolltenGa naar voetnoot28. Dieser | |
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Neuerung, die nicht zuletzt aus Rücksicht auf das Reichsrecht stets als ubiquitistischer Abfall von der Lehre Luthers charakterisiert wirdGa naar voetnoot29, stehe auch der Bürgereid, also eine positive Rechtssetzung entgegen, die jeden Bürger der Stadt Emden auf die ‘reformierte Religion, die ... öffentlich in den Kirchen gepredigt wird’Ga naar voetnoot30, festlege. Auch der Anspruch auf die Kirchengüter und auf das Pfarrwahlrecht, die beiden Saulen gemeindlicher Kirchenordnung, wird positivrechtlich begründet: Die Voreltern der heutigen Gemeindeglieder, und nicht der Landesherr, hätten Kirchen und Pfarrstellen dotiert und seit alters über sie verfügtGa naar voetnoot31. In gleicher Weise erscheint der Widerstand primär positivrechtlich begründet, wenn auch die konkreten Rechtssetzungen nicht genannt werden: In diesen Gottes Ehre, das Gewissen und ewige Seligkeit belangenden Sachen [könne niemand] mit fuge [beschuldigt werden] einiges ungehorsames oder Rebellion, dieweil auch in weltlichen, politischen Rechten einem jeglichen Untertan erlaubt ist, seine angeerbten, elterlichen Freiheit und Gut gegen seiner von Gott gegebener Obrigkeit gebührlich zu verbieten [d.h. ‘erbitten’ im Sinne von ‘einfordem’, H. Sch.]Ga naar voetnoot32. Nur in Beispielen aus der Bibel und aus der Zeit der Urkirche, die jedoch eher illustrierenden Charakter haben, leuchtet bisweilen eine über dem positiven Recht stehende göttlichrechtliche Legitimation auf - etwa im Hinweis auf den Widerstand des Israeliten Naboth gegen König Ahab, der ihm sein väterliches Erbe nehmen wollte (1. Könige, Kap. 21), oder auf den Kampf der Propheten und Kaiser Konstantins gegen die Irrlehren ihrer ZeitGa naar voetnoot33. Daß man in Ostfriesland die historisch-positivrechtliche Argumentation bevorzugte, war eine Konsequenz der besonderen kirchenrechtlichen (mittelalterliches Pfarrwahlrecht) und reformationsgeschichtlichen Umstände: Die calvinistischen Gemeinden Ostfrieslands, vor allem diejenige in Emden, konnten als einzige auf deutschem Boden mit einem gewissen Recht ihre Herkunft bis in die Reformationszeit zurückverfolgenGa naar voetnoot34. Und sie waren zu einem solchen historischen Nachweis gezwungen, weil reichsrechtlich nur die Ordnung derjenigen Kirchen geschützt war, die bereits 1552/1555 existierten. Und da dieser Schutz darüber hinaus nur der Confessio Augustana von 1530 galt, war man gezwungen, den eigenen Bekenntnisstand historisch auf diese Confessio zurückzuführen und die vom Landesherrn vertretene lutherische Orthodoxie als Neuerung und Abfall zu brandmarken. Der | |
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ostfriesische Calvinismus harte sich somit in einer völlig anderen Situation zu behaupten als der französische, niederländische und englische Calvinismus. Dementsprechend war der rechtliche und propagandistische Legitimationsansatz ein anderer. Die politischen Traktate verfolgten im großen und ganzen dieselbe Argumentationsstrategie wie die konfessionellen. Da sie durchgehend später verfaßt wurden und demselben engen Kreis calvinistischer ‘Intellektueller’ aus Emden und den benachbarten Niederlanden entstammen, läßt sich geradezu von einer Übertragung der konfessionspolitischen Methoden in den weltlichen Kontext sprechen: Auch dort sind es ganz überwiegend die besondere historische Entwicklung Ostfrieslands und die daraus resultierenden positivrechtlichen Setzungen, vor allem im Verhaltnis zwischen Stadt und Landesherrschaft, mit denen die Emder Patriotenpartei ihre Ansprüche auf politische Selbstbestimmung legitimiert: Ubbo Emmius entwickelte bekanntlich die Theorie von den ‘friesischen Freiheiten’, die er, historisch weit zurückgreifend, auf positivrechtliche Abmachungen zwischen den Friesen und Kaiser Karl dem Großen zurückführteGa naar voetnoot35. Im Falie Emdens wies man darüber hinaus auf die mittelalterlichen Rechte der Stadt Hamburg hin, um den Anspruch des Grafen auf die Stadtherrschaft zu widerlegenGa naar voetnoot36. Erst die Übereinkunft zwischen friesischem Volk und Ulrich Cirksena habe Mirte des 15. Jahrhunderts in Ostfriesland eine Landesherrschaft begründet, und zwar eine mit begrenzter Gewalt, was u.a. das freie Verfügungsrecht der Gemeinden über das Kirchengut und die Pfarrbesetzung einschließtGa naar voetnoot37. In dieser Perspektive erscheinen die zeitgenössischen Abmachungen des Delfzijler Vergleichs (1595) und der Konkordate (1599) als Emeuerung der historischen Übereinkunft zwischen Ulrich Cirksena und einem freien Volk der Friesen. Der historisch-positivrechtlichen Methode entspricht der Relativismus im Geltungsanspruch der Emder Traktate: Die postulierte und historisch nachgewiesene Begrenzung landesherrlicher Gewalt gilt nur für die Grafschaft Ostfriesland. Man vertritt kein ‘universelies’ Politikmodell. Im Gegenteil - man lehnt universelle Staatsmodelle scharf ab, weil sie die historischen Unterschiede vemeinen und die alten Rechte brechen. Die Grafen Edzard und Enno werden gerade deshalb zu Tyrannen, weil sie die in anderen Territorien des Reiches gültige unbegrenzte Herrschaft auf Ostfriesland übertragen wollenGa naar voetnoot38. Das absolutistische Modell als solches wird nicht in Frage gestellt. Es ist dort rechtmäßig, wo die historischen Grondlagen der Landesherrschaft andere waren als in Friesland. Neben der vorherrschenden historischen Deduktion steht eine Reihe anderer Argumente - aus dem Römischen Recht, der antiken Philosophic (namentlich Cicero), dem zeitgenössischen Völkerrecht, dem Reichsverfassungsrecht, bisweilen | |
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auch aus der BibelGa naar voetnoot39. Diese juristischen Belege sind auf wenige Passagen konzentriert. Moderne Interpreten haben hier zu Recht Einschiebungen von Juristenhand vermutet, namentlich von Johannes AlthusiusGa naar voetnoot40. - An exponierter Stelle erscheint als zusätzliche Legitimationsfigur die Vernunft und das Göttliche oder Natürliche Recht. Das geschieht in der Regel dort, wo aktuelle handlungspolitische Konsequenzen gezogen werden - etwa für das Verhaken der Stande auf den Landtagen, der bürgerlichen Gemeinde in Emden oder bei der Begründung des prinzipiellen Widerstandes gegen das Modell unbegrenzter HerrschaftGa naar voetnoot41.
b) Eschatologisches Bewußtsein. - Eine weitere Argumentationsfigur ist im Hintergrund stets präsent und tritt an vereinzelten, hervorgehobenen Stellen explizit hervor. Auch sie scheint aus den konfessionellen Auseinandersetzungen in die politischen Traktate übernommen worden zu sein: Es ist die eschatologische Argumentation, die für die politische Kultur des Calvinismus besonders charakteristisch ist, in der Geschichte des politischen Denkens aber nicht selten zugunsten einer modernistischen Interpretation vemachlässigt wird. Auch hier geht man aus von der konkreten, und zwar zeitgeschichtlichen Situation. Die gegenwärtige Lage der reinen Kirche Christi, und das ist natürlich nur die calvinistische!, diese Lage sei in Friesland, im Reich und Europa gekennzeichnet durch das eschatologische Ringen zwischen Gut und Böse - zwischen dem Papst und den Spaniem auf der einen Seite, die die ‘Deutsche Nation wieder einkriegen’ (d.h. unterwerfen) und sich ‘die ganze Christenheit untertänig’ machen wollenGa naar voetnoot42, und den von den Niederlanden geführten Vertretem des reinen Gotteswortes auf der anderen SeiteGa naar voetnoot43. Emden, Ostfriesland und Groningen sind die Zentren, in denen die Entscheidung fallen muß. Der Kampf der politischen Machtblöcke ist Ausdruck eines heilsgeschichtlichen Ringens zwischen dem Antichrist und dem Heiland um die Herrschaft in der WeltGa naar voetnoot44. Es ist der Kampf ‘in diesen letzten Zeiten’, der um die Reinheit der Lehre in der Kirche Gottes gekämpft wird - zunächst in Emden, dann auch in Groningen, als es darum ging, Kirche und Gesellschaft nach den Prinzipien des Calvinismus neu zu ordnenGa naar voetnoot45. Die vom ostfriesischen Grafen geförderte lutherische Orthodoxie steht im Bündnis mit der antichristlichen Partei. Durch sie dringt das eschatologische Ringen bis in den Kern der christlichen Lehre vor: Der Antichrist droht, sich des Abend- | |
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mahls und der Taufe zu bemächtigen, indem er die ubiquitistischen Lutheraner zu seinen Dienem beruft. Die schwanger gehenden Frauen stehen in der Gefahr, ‘mit dem bösen Feind beschwert’ zu sein, wenn die rechtgläubigen Theologen der ‘antichristischen Gaukelei’ und der Vermischung von Dienst des Satans und Gottes Ordnung nicht entschieden entgegentretenGa naar voetnoot46. - Auch in den politischen Traktaten findet sich das eschatologische Bewußtsein, wenn auch nur selten explizit - so in der Apologie, wenn bei der Beschreibung der gegen Emden erbauten Festung zu Loga die an der Einweihung beteiligten lutherischen Geistlichen zu Priestem des Bösen stilisiert werden, und vor allem in der exponierten Schlußpassage, die den aktiven Widerstand Emdens gegen den Grafen Enno zum Kampf ‘wider seine macht der Finstemis’ erklärtGa naar voetnoot47. Die rasch hingeworfenen Streitschriften konnten diese eschatologische Perspektive nur schlagwortartig andeuten. Ausgearbeitet erscheinen sie rund zehn Jahre später in der Einleitung des Katechismuskommentares, den der Emder Prädikant Daniel Bernhardus Eilshemius 1612 veröffentlichte, also ein Jahr nachdem im Osterhusischen Akkord Stadt und Landesherr Frieden geschlossen hattenGa naar voetnoot48. Auf der Basis der infralapsarischen Prädestinationslehre stellt Eilshemius die Weltgeschichte dar als Kampf der Kinder Gottes, die zugleich seine Kirche sind, mit den Kindern des Menschen, die in der Kainsnachfolge stehen und ‘allerlei Superstitiën und falschem Gottesdienst’ anhängen. Dieser Kampf prägte auch die Geschichte Frieslands: lm frühen Mittelalter scharten sich die Kinder Gottes um König Aldegillus, der sich rasch zum Christentum bekehrte, während die Kinder der Menschen geführt wurden von dessen zum Heidentum zurückgekehrten Sohn Radbodus. In den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wiederholte sich diese mittelalterliche Konstellation. Zunächst war es der Kampf zwischen der lutherischtyrannischen Landesherrschaft und dem calvinistischen Emden. Als diese politische Unterdrückung durch den Osterhusischen Akkord (21. Mai 1611) beendet worden war, wurde das eschatologische Ringen fortgesetzt zwischen Emden, dessen Name ‘Wahrheit’ bedeuteteGa naar voetnoot49, und dreist auftrumpfenden Sekten und ‘Verführem ... zum falschen Weg des Lebens’, die sich vor allem in den benachbarten Niederlanden eingenistet hättenGa naar voetnoot50. | |
2. ‘Obrigkeit’, ‘widerstand’, ‘tyrann’ und ‘volk’ in der spannung säkularer und heils-geschichtlicher politiktheorieDer in endzeitliche Vorstellungen eingebettete Dualismus zwischen Gut und Böse, zwischen Kräften der Wahrheit und jenen der Finstemis prägte auch den Inhalt der Traktate. Die politiktheoretischen Aussagen erhalten dadurch eine Ambiguität, die | |
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eine klare Zuordnung der calvinistischen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Das gilt für nahezu alle Kemprobleme des frühneuzeitlichen Staatsdenkens, angefangen bei Stellung und Kompetenz der Obrigkeit über die Bewertung des Volkes, den Widerstand und die Gewaltanwendung bis hin zur Staatsform. In der Obrigkeitslehre der konfessionellen Traktate verbindet sich ein entschiedenes Plädoyer für eine in Staat und Kirche einflußstarke und allseits präsente Obrigkeit mit einer nicht weniger radikalen Infragestellung ihrer religiösen und politischen Kompetenzen. Zwar stellen die konfessionellen Traktate unmißverständlich klar heraus, daß alle Obrigkeit von Gott ist - die christliche nicht anders als die heidnischeGa naar voetnoot51. Damit setzt man sich von den Täufern ab, die - wie Münster beweise - Obrigkeit generell verachtenGa naar voetnoot52. Entscheidend für die konkreten Kompetenzen in Staat und Kirche ist aber die Stellung innerhalb des heilsgeschichtlichen Duislismus: Steht der Inhaber der Staatsgewalt auf der Seite der Gotteskinder, so ist er berechtigt, ja verpflichtet, in nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens massiv einzugreifen: Er darf die Lehre der Kirche verndem, widerspenstige Pradikanten absetzen, Verordnungen und Sanktionen zur Verchristlichung der Gesellschaft erlassen, Dissidenten, vor allem die Sekten, vertreiben, und alle strafen, die sich seinen Anordnungen widersetzenGa naar voetnoot53. Hier besteht kein Unterschied zur lutherischen ObrigkeitslehreGa naar voetnoot54. Im Gegenteil, die Präsenz der Obrigkeit ist umfassender und theoretisch-theologisch stringenter abgesichert, vor allem in der Kirche: So kritisiert die ‘Missive’ das Vorhaben der Gnesiolutheraner, den staatlichen Einfluß auf das Kirchenregiment dadurch zu beseitigen, daß man ‘Juristen und ehrbare politische Leute aus den Konsistoriis ... abschafft’. Das staatliche Mitspracherecht in der Kirche zu beseitigen, sei ‘deutsches Papsttum’Ga naar voetnoot55. Die Gehorsamspflicht der Untertanen wird mit gleicher Entschiedenheit postuliert wie in den meisten lutherischen Obrigkeitslehren, und zwar mit denselben theologischen Argumenten und Bildem: Im Emder Katechismus des Eilshemius wird die Obrigkeitslehre vom fünften Gebot her entwickelt: Es ist ‘das Amt der Obrigkeit, sich gegen ihre Untertanen wie ein Vater gegen seine Kinder zu verhalten’; und es ist die Pflicht der Untertanen, dies mit kindlichem Gehorsam und Liebe zu vergelten. Wenn das Bild vom ‘Landesvater’ die politische Kultur der Frühneuzeit nachhaltig geprägt hatGa naar voetnoot56, so waren die politiktheoretischen Voraussetzungen hierzu auch im Calvinismus gegeben! Steht der Inhaber der Staatsgewalt mit dem Antichrist im Bündnis, wofür bereits der Umgang mit ‘liederlichen Pradikanten’ ein Anzeichen ist, so ergibt sich eine | |
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ganz andere Stoßrichtung. In diesem Fall, und zwar nur in diesem Fall!, arbeiteten die konfessionellen Traktate die Grenzen obrigkeitlicher Befugnisse in der Kirche so wie das Mitspracherecht unterer Instanzen heraus: Bei Entscheidungen über die Lehre, bei Anstellung oder Entlassung von Prädikanten und anderen Angelegenheiten der Verfassung und des Glaubens sind die Prädikanten, das Presbyterium und die Kirchengemeinde zu Rate zu ziehenGa naar voetnoot57. Ist keine Übereinkunft zu erzielen, d.h. faktisch: schwenkt die Obrigkeit nicht auf die von den calvinistischen Theologen festgelegte Linie ein, so sind die Untertanen von ihrer Gehorsamspflicht entbunden. Das Recht zur Selbsthilfe tritt in Kraft - von der Einsetzung der Prädikanten ohne Zustimmung der Obrigkeit bis hin zum aktiven WiderstandGa naar voetnoot58. In diesem Kontext kommt auch die Lehre von den unteren Magistraten zum TragenGa naar voetnoot59. Die Hauptverantwortung liegt aber bei den Prädikanten in Ausübung ihres Hirtenamtes: Menso Alting, der dem lutherischen Hofprediger des Grafen Edzard in der Emder Kirche die Kanzei versperrt, als er die Leichenpredigt auf die jung verstorbene Grafentochter halten willGa naar voetnoot60, - das ist das Schlüsselbeispiel für den notwendigen Konflikt mit der Obrigkeit! Eine derart ambivalente Obrigkeitslehre ist nicht geeignet, vorzustoßen zu einer politiktheoretisch stringenten, prinzipiellen und nicht nur situationsgebundenen Begrenzung der obrigkeitlichen Gewalt in Staat und Kirche. Ansätze dazu bietet allenfalls die Unterwerfung der Fürsten und Magistrate unter die richterliche Gewalt des PresbyteriumsGa naar voetnoot61. Da die calvinistische Kirchenzucht aber geistliche Gerichtsbarkeit ist, blieb die eigentliche politische Gewalt der Obrigkeiten davon unberührt, jedenfalls in der Praxis presbyterialer ZuchttätigkeitGa naar voetnoot62. Die Obrigkeitslehre der politischen Traktate zeigt dieselbe Struktur, vor allem hinsichtlich des göttlichen Ursprungs sowie bei den Pflichten und Rechten gegenüber der KircheGa naar voetnoot63. Wo sie über die konfessionellen Traktate hinausweist und eine weltlich-politische Qualitätsbestimmung der Obrigkeit vornimmt, da verhindert der erwähnte historische Relativismus, daß man zu einer universellen, d.h. allgemeingültigen Begrenzung politischer Gewalt vorstößt. Die Gewalt, die den ostfriesischen Grafen in Staat und Kirche zusteht, ist begrenzt wegen der besonderen Vorgeschichte | |
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ihrer Landesherrschaft und nicht wegen genereller Bedenken gegen eine absolute Herrschaft. Man erkennt ausdrücklich an, daß in anderen Ländem des Reiches den Fürsten eine absolute, unbegrenzte Gewalt zusteht, die üblichen Einschränkungen durch das göttliche und natürliche Recht vorausgesetztGa naar voetnoot64.
Die anderen Zentralbegriffe frühneuzeitlicher Politikdiskussion können wir nur in knapper Auswahl besprechen. Sie zeigen dieselbe Ambivalenz: Widerstand gegen die obrigkeitliche Konfessionspolitik ist in dem einen Fall gottgebotene Pflicht, im andem Aufruhr, ja frevelhafte Auflehnung gegen die Gottesordnung selbst - die politische und kirchliche Opposition der Calvinisten in Ostfriesland, den Niederlanden und Frankreich ist legitimGa naar voetnoot65; was die Lutheraner in Braunschweig, der Oberpfalz, Sachsen, Augsburg und Hamburg gegen ihre Obrigkeit tun, ist widerrechtliche EmpörungGa naar voetnoot66 und liegt nahe beim Münsteraner Wiedertäuferreich, dem Modellfall satanischer GewaltanmaßungGa naar voetnoot67. Namentlich den lutherischen Flacianem und Ubiquitisten lastet man ‘Auflehnung wider ihre Obrigkeit’, ‘Tumult und Aufruhr’ anGa naar voetnoot68. - In den konfessionellen Traktaten wird zwar formal zwischen religiöser und politischer Begründung des Widerstandes unterschiedenGa naar voetnoot69. In der Argumentation nicht anders als in der politischen Praxis fließen beide jedoch immer wieder zusammenGa naar voetnoot70, was von den lutherischen Repliken aufmerksam registriert und scharf kritisiert wirdGa naar voetnoot71. Die politischen Traktate des friihen 17. Jahrhunderts befassen sich nur selten mit dem religiös begründeten Widerstand. Das bedeutet jedoch keine prinzipielltheoretische, sondem nur eine historisch-pragmatische Akzentverlagerung. Denn nach den Konkordaten von 1599 waren die konfessionellen und kirchenpolitischen Fragen aus den aktuellen Auseinandersetzungen ausgeschiedenGa naar voetnoot72. Im Vordergrund stand nun der politische Widerstand, bei dem Emden kurz vor Veröffentlichung der Apologie erstmals offensiv militärische Mittel eingesetzt hatteGa naar voetnoot73. Bezeichnenderweise ist dies dann auch der Zeitpunkt und der systematische Problemzusammenhang, an dem massiv politiktheoretische Aussagen mit allgemeinem, universellem Anspruch auftauchenGa naar voetnoot74: Jeder Mensch, der so angegriffen wird, daß seine geistige und materielle Existenz auf dem Spiel steht, ist zur Notwehr berechtigt. Er darf ‘sein Weib und Kind, sein Hab und Gut bestes Vermögens wider unrechtmäßige | |
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Gewalt schützen’Ga naar voetnoot75 s. Als Begründung werden Beispiele aus der Geschichte, vor allem aber Natur- und Gottesrecht angeführt: Selbstverteidigung ist ‘von Gott und allen Rechten freigelassen’Ga naar voetnoot76. Hier kommt das politiktheoretische Instrumentarium der französischen Monarchomachen ins SpielGa naar voetnoot77. Doch auch diese politisch-säkulare Argumentation entfaltet sich vor dem oben herausgearbeiteten heilsgeschichtlichen Hintergrund: Der ‘Vorläufer’ geht im Spatjahr 1602 mit einem Motto aus den Sprüchen Salomons (Kap. 28, Vers 15) in die Welt hinaus: ‘Ein Gottloser, der über ein arm Volk regiert, das ist ein brüllender Löw und gieriger Bär’. Die Apologie zitiert auf dem Titelblatt den 119. Psalm, der über 176 Verse hinweg das Thema der Gerechten und der Gottlosen variiertGa naar voetnoot78. Und auf dem Höhepunkt ihrer Widerstandslegitimation lenkt die Apologie auf die religiose Unterdrückung zurück, obgleich realgeschichtlich dazu kein Anlaß mehr bestand: Positiv- und vernunftrechtlich ist Widerstand erlaubt, notwendig machen ihn aber erst religiöse Umstände: Wenn aber neben dem Angriff auf den Besitz und auf die irdische Ehre eines Menschen Gottes, seiner Kirchen und Diensts Ehr zugleich verletzt wird, ist die Verantwortung [d.h. der Widerstand, H. Sch.] nicht allein frei, sondem auch notwendig wegen der Bekenntnis so Christus Jesus von den Seinen erfurdertGa naar voetnoot79. Dieselbe Struktur weist der mit der Widerstandslehre eng verbundene Tyrannenbegriff auf: In den konfessionellen Streitschriften erscheint er funktional zu den jeweiligen religiösen Positionen: Was den einen Fürsten zum Glaubenshelden und Werkzeug Gottes macht, das kennzeichnet den anderen als antichristlichen Tyrannen. Ausschlaggebend ist nicht die politisch-rechtliche, sondem die konfessionelle Qualität seiner HandlungenGa naar voetnoot80. Dagegen konzentrieren sich die politischen Traktate vordergründig auf säkulare Sachverhalte - Verschlagenheit, Untreue in der Ehe und gegenüber den Untertanen, Rechtsbruch und Gewalt, das sind die Kennzeichen des Tyrannen. Doch selbst hier ist der religiöse, ja eschatologische Zusammenhang gewahrt: Graf Enno III., für die ‘Apologie’ das Urbild eines Tyrannen, ist nicht nur politisch und moralisch verwerflich. Er steht darüber hinaus mit den Kräften der | |
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Finsternis und dem Antichrist im Bündnis - indem er, ein Gegenbild zum Fürsten im Vaterstand, seiner Tochter die ‘abscheuliche Blutschand’ mit seinem Bruder zumuten will und bereit ist, in dieser Angelegenheit gemeinsame Sache mit dem Antichrist in Rom zu machenGa naar voetnoot81; Auch der politische Tyrann muß gleichzeitig als Anhänger des Antichrist erscheinenGa naar voetnoot82!
Selbst der für die frühneuzeitliche Politikdiskussion zentrale VolksbegriffGa naar voetnoot83 bleibt inhaltlich ambivalent, und zwar sowohl im religiösen wie im säkularen Kontext. Wenn es darum geht, der rechten Lehre zum Sieg zu verhelfen, erscheint das Volk als ein entscheidender Akteur, als Mittrager religiöser und politischer KompetenzenGa naar voetnoot84. In solchen Situationen ist das Volk der natürliche Partner der calvinistischen Theologen: Durch die Lutheranisierungspolitik Graf Edzards in die Enge getrieben, verlangt man für die geplante Disputation mit dem lutherischen Hofprediger Öffentlichkeit - das Volk soil entscheiden. Wo der Kirche ‘falsche’ Prediger aufgedrängt wurden, liegt es bei der Gemeinde, ihnen während der Predigt offen zu widersprechenGa naar voetnoot85. In Ostfriesland, das der ‘unrechtmaßigen’, ‘tyrannischen’ Herrschaft lutherischer Grafen unterworfen ist, kommt dem Volk bei der inhaltlichen Festlegung des ‘gemeinen Nutzen’ ein entscheidendes Mitspracherecht zu - des kirchlich-religiösen nicht anders als des politisch-gesellschaftlichenGa naar voetnoot86. - Neben solchen positiven Aussagen stehen aber distanzierte oder gar negative Kommentare zur Rolle des Volkes in Staat und Kirche: Die Prädikanten haben nötigenfalls in Absprache mit wenigen verständigen, angesehenen und vornehmen Leuten ohne Wissen des ‘gemeinen zur Unruhe neigenden Volkes’ zu handeln. Denn ‘dem unsinnigen Volk genug tun’, ist ihres Amtes nichtGa naar voetnoot87. Urbild eines unsinnigen Volkes ist das biblische Volk, zu dem die Propheten und selbst Christus ‘den ganzen Tag die Hände ausgestreckt [haben], das sich [aber] nichts sagen läßt und [ihnen] widerspricht’Ga naar voetnoot88. Ausschlaggebend dafür, welcher Volksbegriff jeweils gilt, ist wiederum das kirchen- oder heilsgeschichtliche Umfeld - unter der Herrschaft des Antichrist in Gestalt eines lutherischen Landesherrn sind Stellung und Funktion des Volkes andere als unter ‘rechtglaubiger’ Obrigkeit wie in Kursachsen zur Zeit des calvinistischen Kurfürsten Christian oder in Emden und Groningen, nachdem dort 1595 calvinistische Stadträte das Regiment übernommen hattenGa naar voetnoot89. Auch in der säkularen Argumentation der politischen Traktate erscheint einerseits ‘Volk’, ‘gemeines Volk’, ‘gemeiner Mann’ als Grundinstitution politischer und | |
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kirchlicher OrdnungGa naar voetnoot90. Andererseits wird ‘Volk’ aber immer wieder von den eigentlichen Trägern der politischen Mitverantwortung in Kirche und Staat abgegrenzt. Dabei fällt auf, daß der positive Volksbegriff in der Regel soziologisch nicht näher spezifiziert ist, während dort, wo eine soziale Zuordnung erfolgt, ‘Volk’ meist negativ besetzt ist - als ‘gemeines’ Handwerkervolk, im Gegensatz zum politisch handlungsfähigen Bürgertum oder gar als unruhige, leicht beeinflußbare Masse der Unterschichten, zumal der SeeleuteGa naar voetnoot91. Eine universelle Theorie der ‘Volkssouveränität’ läßt sich nicht einmal in Ansätzen erkennen. Zwar erscheint ‘Volk’ wiederholt als Stifter und Träger öffentlicher Gewalt in Staat und Kirche. Das bezieht sich aber stets nur auf Friesland und ist Ausdruck besonderer rechtlicher und gesellschaftlicher VerhältnisseGa naar voetnoot92. Möglichkeiten und Grenzen einer calvinistischen Theorie des Volkes markiert wiederum besonders deutlich der Katechismuskommentar des Eilshemius - neben den Kindern Gottes stehen die Kinder Satans; dem erwählten korreliert das verdammte Volk. Und selbst in der Kirche, bei den Gotteskindern also, bleibt der tatsächliche Wert des Volkes in der Schwebe: Wenn Christus die Gemeinde als Träger der Zuchtgewalt in der Kirche einsetzte (Matthäus 18), so heißt das Wort Ecclesia oder Gemeinde nicht das ganze Volk, aus welchem eine jede Gemeinde besteht, sondern einige vornehme Personen, die von der Gemeinde dazu verordnet, daß sie im Namen der Gemeinde und von ihretwegen solche Sachen verwalten und richten sollenGa naar voetnoot93. Wollte man in den Formulierungen ‘von der Gemeinde dazu verordnet’ und ‘im Namen der Gemeinde’ Anklänge einer kirchlichen Lehre der Volkssouveränität sehen, würde man den Charakter der altcalvinistischen Gemeinde verkennen: Gemeinde ist nicht Ursprung der kirchlichen Gewalt, sondem nur der Ort, wo die direkt von ChristusGa naar voetnoot94 hergeleiteten Gerichts-, Regierungs- und Verwaltungsbefugnisse auf die Kirchendiener übertragen werden, auf die Prädikanten, die Ältesten, Diakone und LehrerGa naar voetnoot95. | |
3. Alteuropäischer stadt- und ständerepublikanismus als politisches leitbild der Friesischen CalvinistenZiehen wir eine Zwischenbilanz! Die politischen und konfessionellen Traktate der niederländischen und ostfriesischen Calvinisten sind gekennzeichnet durch einen historischen Relativismus und ein ausgeprägtes eschatologisches Bewußtsein. | |
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Daraus ergaben sich in Kernfragen der zeitgenössischen Politiktheorie ambivalente Wert- und Funktionsbestimmungen: Weder in der Obrigkeitslehre, dem Widerstandsrecht und dem Tyrannenbegriff, noch bei der politisch-verfassungsrechtlichen Stellung des Volkes stieß man zu theoretischen Aussagen vor, die unabhängig von den konkreten historischen und konfessionspolitischen Bedingungen für jedes Gemeinwesen geiten sollten. Es kam zu keiner prinzipiell antiabsolutistischen Begrenzung der Staatsgewalt und auch nicht zu deren Rückbindung an die Souveränitat des Volkes. Sucht man in dem ostfriesischen Meinungsstreit nach einer stringent modernen Politiktheorie, so findet man sie eher auf der Seite des lutherischen Landesherm: Vor allem der Kanzier Thomas Franzius, aber auch der ehemalige Emder Syndikus Dothias Wiarda führten die Bodinsche Lehre von der Fürstensouveranitat ins FeldGa naar voetnoot96. Sie brachten damit die neuzeitliche Dynamik ins Spiel, die darauf abzielte, die staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse Ostfrieslands an den im Reich und Europa gültigen ‘Standard’ frühmoderner Staatlichkeit anzupassen. Angesichts der engeren Verbindungen zu den Hugenotten und in die benachbarten Niederlande ist es selbstverständlich, daß auch die Calvinisten mit der neuesten politiktheoretischen Diskussion vertraut waren. Die von der bisherigen Forschung prononciert in den Vordergrund gestelltenGa naar voetnoot97 monarchomachischen Einflüsse blieben jedoch sekundär. Die in Frankreich entwickelten Argumente wurden stützend herangezogen, an manchen Stellen wirken sie aufgesetzt. Der theoretische Kern der politischen Kultur, die die ‘Emder Revolution’ von 1595 und den anschließenden Ständekampf hervorbrachte, lag woanders: Es war das politische Denken des alteuropäischen Stadtbürgertums, das in Deutschland im Reformationsjahrhundert nochmals an Bedeutung gewonnen hatteGa naar voetnoot98 und auch im niederländischen Aufstand eine wichtige Rolle spielte, vor allem in den flämischen und brabantischen Städten, allen voran in GentGa naar voetnoot99. | |
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Im Zentrum dieses Denkens standen gemeindlich-genossenschaftliche Ordnungsvorstellungen: Die Bürger besitzen gewisse Grund- und Freiheitsrechte. Bei Grundsatzentscheidungen innerhalb der Stadt steht den Bürgergemeinden und ihren Korporationen ein Mitspracherecht zu, insbesondere auch in Religions- und Kirchenfragen, die unmittelbar zu den bürgerlichen Angelegenheiten gerechnet werden. Nach außen, dem Landesherrn gegenüberGa naar voetnoot100, besitzen die städtischen Kommunen Autonomierechte, die sie berechtigen, sowohl im Rahmen des Landes als auch darüber hinaus eigenständig tätig zu werden, vor allem auch wirtschafts- und kirchenpolitisch. Dieser Anspruch der Emder ‘Patriotenpartei’ war es, der 1595 konkret den offenen Konflikt heraufbeschwor. Als nämlich der Emder Prädikant Menso Alting ganz selbstverständlich den benachbarten Groningem beim Aufbau ihrer calvinistischen Stadtkirche zur Hilfe eilte, während der ostfriesische Graf unter Hinweis auf seine Souveränitätsrechte eine solche Tätigkeit jenseits der Grenze verbot. Hier stand der neue Flächenstaat mit einer genau umrissenen Grenze gegen das vormodernstaatliche Denken des Stadtbürgertums. - Ein weiteres Charakteristikum dieses stadtbürgerlichen Politikverständnisses war das Vertragsdenken: Der Landesherr war für die Stadt ein Vertragspartner, mit dem man Absprachen über die konkreten Rechtsverhältnisse in Staat und Kirche getroffen hat, die beide Seiten binden. Änderungen sind nur durch einen neuen, in gegenseitigem Einvernehmen geschlossenen Vertrag möglich. Werden die bürgerlichen Politik- und Freiheitsrechte verletzt, ist die Bürgergemeinde zur Selbsthilfe berechtigt, d.h. zum aktiven Widerstand. Für dieses mehr pragmatisch als theoretisch begründete stadtbürgerliche Ordnungsmodell habe ich an anderer Stelle die Bezeichnung ‘frühneuzeitlicher Stadtrepublikanismus’ vorgeschlagenGa naar voetnoot101. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die politischen und kirchlichen Ordnungsvorstellungen der Calvinisten östlich und westlich des Dollarts maßgeblich von diesem ‘Stadtrepublikanismus’ geprägt wurdenGa naar voetnoot102. In den politischen Traktaten findet sich das stadtrepublikanische Politik- und Ordnungsverständnis Seite für Seite - in der Rechtsargumentation ebenso wie bei der Ereignisschilderung und in den abgedruckten Urkunden und Aktenstücken: Der Aufstand von 1595 erscheint als legitime Selbsthilfe der Bürgergemeinde, die ‘zu ihrer eigenen gemeinen und privaten Wohlfahrt’ das Regiment in eigene Hände nehmen darf, weil der Landesherr und sein Stadtrat permanent gegen die Grundprinzipien des ‘gemeinen Besten’ verstießen, gegen die weltlichen ebenso wie gegen die kirchlichenGa naar voetnoot103. Auch in den weiteren Phasen folgten Ablauf und Rechtfertigung | |
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der ‘Emder Revolution’ dem Muster gemeindlich-genossenschaftlichen oder ‘republikanischen’ Politikverständnisses, wie wir es aus zahlreichen kommunalen Aufstandsbewegungen Alteuropas kennenGa naar voetnoot104: Es wurden Bürgerausschüsse eingesetzt, voran ein Colonellen-Kollegium, das die Verteidigung zu organisieren hatte; auf dem Markt trat ‘mit Gewehr und Waffen’ eine Bürgervollversammlung zusammen; der Bürgereid wurde erneuert, wodurch sich jeder nochmals verpflichtete, den Mitbürgern und der Stadt ‘mit Gut und Blut getreulich beizustehen’Ga naar voetnoot105. Später wurden die Befestigungsanlagen der gräflichen Burg geschliffen, weil ‘aedes huiusmodi magnis et opulentis civitatibus intolerabiles sunt’Ga naar voetnoot106 - also nicht nur wegen der militärischen Bedrohung, sondem auch als Ausdruck eines republikanischen Selbstbewußtseins. Im Laufe der weiteren Auseinandersetzungen nahm der Wille zur republikanischen Selbstdarstellung rasch zu - das Rathaus, wo bislang der gräfliche Magistral residiert hatte, wurde als Haus der Bürgerschaft reklamiert, der Stadtschlüssel in die kommunale Gewalt übernommen, der Schutz der Stadt in die Hand einer Bürgerwache gelegtGa naar voetnoot107. Sogar ein republikanisches Staatszeremoniell läßt sich erkennen, das einerseits vorschrieb, bei Ehrbezeugungen für auswärtige Gesandte, wie etwa den kaiserlichen Kommissar Hanniwald, jeden Anflug höfischabsolutistischer ‘Servitut’ zu vermeidenGa naar voetnoot108, andererseits den Anspruch erhob, daß Vertreter der Stadt am landesherrlichen Hof mit gebührendem Respekt empfangen werdenGa naar voetnoot109. Auch später, als der Stadtrat nicht mehr vom Landesherrn eingesetzt, sondern von einem Bürgerausschuß gewählt wurde, bleibt nach Darlegung der Apologie das Mitspracherecht der BürgergemeindeGa naar voetnoot110 und ihrer Korporationen erhalten. Die Vierziger, die Zünfte, die Milizhauptleute und auch der Kirchenrat wurden immer dann herangezogen, wenn Grundsatzentscheidungen der Außenpolitik, des Finanz- | |
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haushaltes und des Konfessionsstandes zu fallen warenGa naar voetnoot111. Erst der Syndikus Johannes Althusius, der ein obrigkeitsbewußter Mann war, wenn es um die konfessionell und politisch ‘rechte’ Obrigkeit ging, drängte diese Auffassung Schritt für Schritt zurückGa naar voetnoot112 - ein Beleg für die innere Spannung zwischen den gemeindlich-genossenschaftlichen Ursprüngen und den späteren Ausformungen des Emder Politikverständnisses. Zum stadtrepublikanischen Selbstverständnis gehörte der Anspruch auf eigenständige Politik nach außen, und zwar über die Landesgrenzen hinausGa naar voetnoot113. Im Falle Emdens bezog sich das konkret auf die benachbarten Niederlande. Auch andere norddeutsche Landstädte beharrten bis ins 17. Jahrhundert hinein auf einem solchen RechtGa naar voetnoot114 und gerieten dadurch in Gegensatz zu den neuen Souveränitätsvorstellungen, die auch in der ‘Außenpolitik’ den Landesherren ein Monopol einräumten und den neuzeitlichen Flächenstaat durch kommunikationshemmende Grenzen abschotteten. Wiederum ist zu betonen, daß diese Forderungen autochthon-stadtrepublikanischen Vorstellungen entsprechen und es eines Anstoßes durch gleichgerichtete Ausführungen bei den Monarchomachen nicht bedurfteGa naar voetnoot115. Eine besondere Leistung des ostfriesischen Meinungsstreites besteht darin, zwischen Stadt und Territorium, zwischen stadtrepublikanischen und ständischen Freiheitsvorstellungen eine Brücke geschlagen zu haben. Das war die Folge der spezifischen Gesellschafts- und Verfassungsstrukturen Frieslands, vor allem der Anwesenheit eines freien Bauernstandes auf den Landtagen. Hinzu kam das Vorbild der benachbarten NiederlandeGa naar voetnoot116. Die Verkopplung beginnt bei den ‘Grund- und Menschenrechten’, die zum Kernbestand ständischer Ordnungsvorstellungen gehörtenGa naar voetnoot117. Die Emder Traktate beinhalteten eine ganze Liste von willkürlichen Verhaftungen und Verstößen gegen den Hausfrieden in Stadt und Land, um damit den Widerstand gegen den Landesherrn | |
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zu legitimierenGa naar voetnoot118. Wichtiger noch war die Übertragung eines anderen Kardinalprinzips stadtbürgerlichen Politikverständnisses - der engen Korrelation zwischen Rechten und Pflichten: In der alteuropäischen Stadt konnte nur derjenige politische Rechte in Anspruch nehmen, der bereit und in der Lage war, seine Kräfte nach Vermögen für die bürgerliche Gemeinde einzusetzenGa naar voetnoot119. Indem die Emder Traktate dasselbe für die politische Partizipation im Territorium postulieren, öffnet sich der Stadtrepublikanismus zu einem Ständerepublikanismus. Den Auricher Landtagsbeschluß, der mit den Stimmen von Adel und Landesherrschaft eine von Bürgern und Bauern abgelehnte Steuer verfügte, kommentiert die Apologie folgendermaßen: Und wer honorem, die Ehr aus einem Dinge suchet und sich zumaßet, daß der auch onera, die Lasten mit auff sich nehme. Wer das commodum oder Vorteil genießen will, daß er auch incommodum, oder den Schaden mitfühlen und also beiderseits die Proportion und Gleichmäßigkeit in Achtung nehmen solle. Item, wer keine Last begehrt zu tragen, daß der keine Macht habe, andem die Last beizuschauben, und daß er in solchen Sachen, darzu er nichts tun will, keine Stimme haben sollGa naar voetnoot120. Den im mittelalterlichen Feudalsystem wurzelnden adligen Ordnungsvorstellungen, die in abgewandelter Form auch den frühmodernen Fürstenstaat mitprägten, stellt man das bürgerliche Prinzip gleicher Rechte und Lasten entgegen. Ja noch mehr, die politische Partizipation wird als direkte Funktion von Leistungen für das ‘gemeine Beste’ bestimmt. - Von hierher war es nur noch ein kleiner Schritt zum prinzipiell antiadlig und antifürstlich eingestellten Republikanismus, wie ihn einflußreiche Kreise in den Niederlanden vertraten, vor allem in der Provinz HollandGa naar voetnoot121. Ein weiteres politiktheoretisches Kardinalproblem, das Stadt und Territorium gleichermaßen berührt, ist die Vertragsfrage. Sie wird in den politischen Traktaten breit abgehandeltGa naar voetnoot122, und zwar vorwiegend auf der Grundlage des altständischen positivrechtlichen Vertragsdenkens, das durch Aufnahme der neuen, vernunftsrechtlichen Vertragslehre angereichert wird. Im Kern handelt es sich jedoch nicht um eine universalistische Vertragslehre, die jeden Staat und jede Herrschaft in einem ursprünglichen, zwischen Volk und Fürst abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag begründet sieht. Der Akzent lag auch hier auf den besonderen, historisch nachweisbaren Rechtsverhältnissen zwischen Stadt und Landschaft einerseits und Grafenhaus andererseits, die in Ostfriesland anders als in den übrigen deutschen | |
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Territorien auf vertraglicher Übereinkunft beruhtenGa naar voetnoot123. Landesherr und Stadt bzw. Stände erscheinen im mittelalterlichen Sinne als rechtlich gleichrangige Vertragspartner, die gesellschaftliche und politische Grundsatzfragen in gegenseitigem Einvernehmen regeln und beiderseits verbindliche Absprachen treffen. Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts war diese altständische Vertragslehre zunehmend in die Defensive geraten, weil mit Herausbildung des Souveränitätsbegriffes eine qualitative Ungleichheit zwischen dem Inhaber der Staatsgewalt und allen übrigen gesellschaftlich-politischen Kräften postuliert wurde und an die Stelle des mittelalterlichen Ausgleichs- das moderne Befehlsverfahren trat. Im ostfriesischen Meinungsstreit war es vor allem Thomas Franzius, der landesherrliche Kanzier und ehemalige Wittenberger Rechtsprofessor, der die Idee der Staatssouveränität einsetzte, um das alte Vertragsdenken auszulöschenGa naar voetnoot124. Die Emder ‘Theoretiker’ nahmen die 1599 zwischen Landesherrschaft und Ständen abgeschlossenen Konkordate zum Anlaß, die prinzipielle Unvereinbarkeit der beiden Positionen scharf herauszuarbeiten. Diese Konkordate - so lautet ihre Fundamentalkritik - seien ‘nicht als ein Vertrag und Vereinbarung streitender Parteien, sondern als ein Dekret oder Befehl des Herrn Grafen [veröffentlicht worden], darin er gebietet und ... seines Gefallens schließt’Ga naar voetnoot125. An die Stelle des in Ostfriesland einzig verfassungsgemäßen Einigungsverfahrens, an dessen Ende ein Vertrag steht, habe die landesherrliche Seite das Verordnungs- und Befehlsverfahren gesetzt, hergeleitet aus einer allen übrigen politischen Kräften des Landes qualitativ überlegenen höchsten Staatsgewalt. Die Emder beharren demgegenüber auf dem alten Vertragsmodell. Sowohl die landesherrliche Gewalt selbst als auch jede einzelne politische und religiöse Regelung beruhe auf einer freiwillig gegebenen Zustimmung der freien Friesen in Stadt und Land. Die historisch wohlfundierte Tradition dieses Vertragsund Einigungsverfahrens schließe für Ostfriesland die ‘soluta potestas’ des Landesherrn als legitimes Verfassungsmodell ausGa naar voetnoot126.
Die politische Kultur des niederländischen und ostfriesischen Calvinismus wäre nur unzureichend beschrieben, ließe man es bei diesen säkularen Komponenten des alteuropäischen Republikanismus bewenden. Denn das gemeindlich-genossenschaftliche Politikmodell war religiös-kirchlich verankert: Wie bei zivilen so steht der Bürgerschaft auch bei religiösen und kirchenpolitischen Grundsatzentscheidungen ein Mitspracherecht zuGa naar voetnoot127. Der ‘gemeine Nutzen’, für den die Bürgergemeinde Mit- | |
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verantwortung trägt, schließt die Religions- und Kirchenverfassung einGa naar voetnoot128. Die Verpflichtung auf das reformierte Bekenntnis gehört daher zum BürgereidGa naar voetnoot129. Das Presbyterium ist eines jener Kollegien, mittels derer die Bürgergemeinde am städtischen Regiment partizipiertGa naar voetnoot130. Ähnliches gilt für die autonome, kirchliche Armenfürsorge durch das Kollegium der Diakone, die ebenso wie die Beteiligung der Gemeinde an der Prädikantenwahl damit begründet wird, daß das Kirchengut von den Bürgem gestiftet wurdeGa naar voetnoot131. Der Kampf für die politische Selbständigkeit der Stadt und gegen die landesherrliche Superiorität ist zugleich ein Kampf für die städtische Gemeindekirche sowie gegen das neuzeitliche landesherrliche Kirchenregimentund vice versaGa naar voetnoot132. Über diese äußeren Entsprechungen hinaus gab es eine theologische und politiktheoretische Begründung für die Verzahnung von weltlicher und kirchlicher Ordnung: Das stadtrepublikanische Politikmodell war sakral fundiert in der Gleichsetzung von religiöser und weltlicher Stadtgemeinschaft - auch das eine Vorstellung, die bereits im Mittelalter das städtisch-bürgerliche Selbstverständnis tief geprägt hatteGa naar voetnoot133 und durch die Konfessionalisierung neu belebt worden war, und zwar nicht nur bei ProtestantenGa naar voetnoot134. Speziell bei den Calvinisten war darüber hinaus das Vorbild der Genfer Stadt- und Kirchenrepublik prägend, die mindestens Ubbo Emmius aus eigener Anschauung kannte. In diesem Denkschema sind bürgerliche Freiheit und Selbstbestimmung direkt an konfessionelle Einheit und Rechtgläubigkeit gebunden. Daraus resultiert die Haltung der Calvinisten in der für die politische Kultur der Frühneuzeit so wichtigen Toleranzfrage: Wer die Glaubenseinheit der Stadt zerstört, zerstört auch die bürgerliche EinheitGa naar voetnoot135. Gegner dieses Prinzips werden als Libertiner, Epikureer, Davidianer und Atheisten gebrandmarkt, deren Machenschaften politische Ordnung prinzipiell in Frage stellen, weil sie menschliches Zusammenleben an der Wurzel vergiften. Neben den Anhängem von Sekten sind es die führenden politischen | |
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Berater des Grafen Enno, voran Thomas Franzius und Dothias Wiarda, die die Emder zu dieser Kategorie von ‘Unmenschen’ zählenGa naar voetnoot136. Das markiert nochmals die eschatologische Komponente im politischen Bewußtsein der friesischen Calvinisten. Ausführlich und radikal entfaltet sich die sakrale Begründung der calvinistischen Politikkultur in der gleichzeitig mit der Emder Apologie veröffentlichten und demselben Autorenkreis entstammenden ‘Apologia ... des Edicts ... der Stadt Groningen ... jegen der Wederdoper unde ander secten unordningen’Ga naar voetnoot137. Die ‘Apologie’ verteidigt ein vom Magistrat der Stadt Groningen gegen die Täufer erlassenes Edikt. Realgeschichtlich blieben zwar sowohl das Edikt als auch die ‘Apologie’ ohne große Auswirkungen, weil vor allem der Oranierstatthalter darauf drangte, daß sich die religiösen Verhältnisse in Groningen nicht gar zu sehr von denjenigen in der Provinz Holland unterschieden. Entscheidend für unsere politiktheoretische Frage ist aber, welche Ziele und Wünsche die Calvinisten bei der politisch-kirchlichen Neuordnung verfolgten. Und die greifen wir in der ‘Apologie’. Von den Emder und Groninger Verhältnissen ausgehend, befaßt sich dieser Traktat bereits mit der kirchen- und gesellschaftspolitischen Situation in den Niederlanden insgesamt. Es geht um die in Holland etablierte gesellschaftliche Mehrkonfessionalitat und um das ihr zugrundeliegende Toleranzmodell. Beides wird mit Entschiedenheit abgelehnt. Denn ‘Landfrieden und bürgerliche Eintracht bestehen nicht darin, alle Gotteslästerungen zu dulden. Durch das Exerzitium verschiedener Religionen wird vielmehr Hader, Parteiung und Bitterkeit unter den Leuten erweckt ... und der bürgerliche Frieden’ zerstörtGa naar voetnoot138. Von dieser Prämisse eines sakral fundierten bürgerlichen Friedens her entwirft die Groninger Apologie ein nachgerade grandioses calvinistisches Gegenmodell zur Politik der Toleranz, der Gewissensfreiheit und des konfessionellen AusgleichsGa naar voetnoot139. Sowohl die holländischen als auch die polnischen Verhältnisse werden scharf angegriffenGa naar voetnoot140, ebenso die These, Toleranz fördere den materiellen Wohlstand der StädteGa naar voetnoot141. Das protestantische Prinzip der Gewissensfreiheit wird zwar prinzipiell anerkannt, faktisch aber außer Kraft gesetzt: Ein in biblischer Wahrheit gründendes ‘Gewissen ist keines Menschen, sondem allein Gottes Urteil unterworfen. ... Bei allen Sekten ist [aber] kein Gewissen, sondern nur eine blinde Verstocktheit oder ein ungegründeter Wahn’Ga naar voetnoot142. Um das politische Gemeinwesen und seine Bürger vor | |
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dem Verderben zu bewahren, ist es nach Auffassung der Groninger und Emder Calvinisten daher nötig, daß die ‘politische Obrigkeit ... nicht allein selbst gottesfürchtig, sondem auch des ganzen Kirchenstandes Pfleger und Vorstand sei’Ga naar voetnoot143. Dazu muß sie das von Gott verliehene ‘äußerliche Schwert und Strafamt’ einsetzen, das nicht nur zur Bestrafung ‘politischer Sünden’, sondern auch der ‘Sünden wider die erste Gesetzestafel’, religiöser Verfehlungen also, gedacht istGa naar voetnoot144. Der Magistrat ist somit berechtigt, ja verpflichtet, die Stadt von Sekten zu reinigenGa naar voetnoot145 und die politische und gesellschaftliche Ordnung nach den Prinzipien der wahren, d.h. der calvinistischen Lehre, zu gestalten. Vor allem die ‘res mixtae’ sind nach diesen Grundsatzen zu organisieren, also Eheschließung, Armenfürsorge, das Schul- und Erziehungssystem. Dissidenten müssen auch die bürgerlichen Rechte genommen werden, bis hin zur Enterbung der Kinder von TäufernGa naar voetnoot146. ‘Der rechte Friede der Christen’ bedeutet somit für die Emder und Groninger Calvinisten nicht ein friedliches Nebeneinander verschiedener Glaubensgemeinschaften, wie es die holländischen Kritiker des Groninger Wiedertäufermandates postuliert hatten. Für den Einzelchristen wie für die christliche Stadt ist christlicher Friede ‘allein in dem wahren Glauben’ zu findenGa naar voetnoot147. Nicht Duldung, Gewissensfreiheit und weltanschauliche Pluralität kennzeichnen die calvinistische Stadt und den calvinistischen Staat, sondem Reinheit der Lehre und Sitten, garantiert durch die Zusammenarbeit - nicht Vermischung wie bei den ErastianernGa naar voetnoot148 - zwischen rechtgläubiger Kirche und rechtgläubiger Obrigkeit. Zumindest im Norden der Niederlande und des Reiches waren es nicht die säkularen Probleme einer neuzeitlich pluralistischen Gesellschaft und eines freiheitlichen Staates, die die politische Kultur des frühneuzeitlichen Calvinismus prägten, sondem Aufbau und Schutz der christlichen Kirche und der christlichen Gesellschaft ‘in diesen letzten Zeiten’Ga naar voetnoot149. | |
III. Zu charakter und ‘qualität’ der Calvinistischen politiktheorie sowie zur politischen kultur in Deutschland und den NiederlandenAngesichts der grundsätzlichen Bedeutung, die der Meinungsstreit am Dollart sowohl für die deutsche und niederländische Geschichte als auch für den internationalen Calvinismus beanspruchen darf, mag es erlaubt erscheinen, abschließend die Ergebnisse unserer Analyse in eine größere Perspektive zu stellen. Es geht zum einen um Charakter und ‘Qualität’ der calvinistischen Politiktheorie auf der Höhe des konfessionellen Zeitalters sowie um deren Position innerhalb einer europäischen Geschichte des politischen Denkens. Zum anderen geht es um die politische Kultur | |
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in Deutschland und in den Niederlanden, - hauptsächlich während der Frühneuzeit, in der grundlinie aber auch darüber hinaus. Im 17. und 18. Jahrhundert sind die Gegensätze im Staats- und Gesellschaftsaufbau ebenso wie bei der kollektiven Mentalität schroff, wie sie schroffer nicht sein können: hier die libertäre - tolerante, multikonfessionelle, gemeindlichständestaatliche Republik der Vereinigten Niederlande, dort die dominant fürstenstaatliche, obrigkeitlich bis absolutistische Welt der deutschen Territorialstaaten, die in der Regel als Konsequenz des cuius-regio-eius-religio-Prinzips religiös-weltanschaulich homogen waren. Im Reich die reglementierende Verordnungstätigkeit einer etatistischen Beamtenbürokratie; in den Niederlanden wenig ‘Staat’ und eine relativ offene Gesellschaft, die im freien Spiel der Kräfte das ‘gemeine Beste’ definiertGa naar voetnoot150. Waren diese Unterschiede, die sicherlich zu differenzieren wären, im großen und ganzen aber nicht bestritten werden können, ein Ergebnis der Tatsache, daß in den Niederlanden der Calvinismus zur prägenden Kraft der politischen Kultur geworden war, während er im Reich marginal blieb? War es - zugespitzt formuliert - die Tragik des neuzeitlichen Deutschland, daß ‘der Geist des Calvinismus’ im 16. Jahrhundert nur an einer Stelle, im außersten Nordwesten zum Durchbruch gelangte, wie geme mit Bliek auf die ‘Emder Revolution’ formuliert wirdGa naar voetnoot151? Nachdem wir die politischen und theologischen Traktate der nordostniederländischen und ostfriesischen Calvinisten analysiert haben, erscheint gegenüber einer solchen These Skepsis angebracht. - Ich stelle meine abschließenden generellen Überlegungen in sechs Punkten zusammen:
1. Aus der Analyse des Traktatenstreits ergaben sich erhebliche Bedenken gegen eine zu moderne Interpretation der calvinistischen PolitiktheorieGa naar voetnoot152: Der dominante Konfessionalismus der calvinistischen Partei, verbunden mit einem damals bei den anderen Großkonfessionen kaum noch anzutreffenden eschatologischen Bewußtsein ließen politische und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen entstehen, die weltan- | |
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schauliche und soziale Geschlossenheit und Einheitlichkeit des Gemeinwesens postulierten und in einem streng dualistischen Gut-Böse-Schema jede Öffnung als Zugeständnis an den Antichrist ablehnten. Idealbild war die mittelalterliche Stadt als ‘geschlossene’, religiös begründete Lebensgemeinschaft, nicht ein sozial und weltanschaulich differenzierter libertär-säkularer Flächenstaat. Und - nicht weniger charakteristisch - alle zentralen Probleme politischer Organisation einschließlich der Staatsformfrage wurden relativ gewichtet und funktional zu den je konkreten historischen, vor allem kirchenpolitischen Umständen beantwortet. Das propagierte stadt- und ständerepublikanische Politikmodell galt nur für Ostfriesland und die historisch vergleichbaren niederländischen Provinzen. Das Signum der Neuzeit - Dynamisierbarkeit und Universalisierbarkeit - hat dieses politische Denken nicht getragen und konnte es auch nicht tragen.
2. Die politische Kultur der Calvinisten war auf dem Höhepunkt des konfessionellen Zeitalters ambivalent, nicht anders als diejenigen der Lutheraner und Katholiken, die bekanntlich ebenfalls sowohl absolutistische als auch libertär-ständestaatliche Politikmodelle vertratenGa naar voetnoot153 - bis hin zu monarchomachischen PositionenGa naar voetnoot154. Welche der beiden Seiten sich durchsetzte, um dann längerfristig die politische Kultur eines Landes mitzuprägen, das hing von den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, unter denen sich der Calvinismus durchzusetzen bzw. zu behaupten hatte, besonders von den Kräften, mit denen er ein Bündnis einging - mit der stadtbürgerlichen und adligen Opposition, wie in den Niederlanden, Frankreich, Schottland und England, oder mit den Fürsten bzw. anderen Obrigkeiten.
3. In Deutschland kam hauptsächlich die zweite Alternative zum Tragen, und damit die obrigkeitliche Variante der politischen Kultur des Calvinismus. Denn die reformierte Konfession drang nur in Ausnahmefällen von unten her vor, wie es in Ostfriesland und im Rheinland meist im Anschluß an die Einwanderung niederländischer Konfessionsflüchtlinge zu beobachten ist. Ein großer Schub der Calvinisierung erfolgte in Deutschland durch eine sogenannte ‘Zweite Reformation’, die etwa gleichzeitig mit den Ereignissen in Ostfriesland eine Reihe von deutschen Territorien und Städten erfaßte. Dabei handelte es sich um den versuchten oder | |
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vollzogenen Wechsel von der lutherischen zur reformiert-calvinistischen KonfessionGa naar voetnoot155. In all diesen Fällen - vielleicht mit Ausnahme der Grafschaft Nassau, wo starke niederländische Einflüsse zum Tragen kamenGa naar voetnoot156 - vertraten die calvinistischen Theologen und Politiker ein rigide obrigkeitliches, ja absolutistisches Staatsund Gesellschaftsmodell. In den Emder Traktaten ist uns das in Bezug auf Kursachsen, dem spektakulärsten, wenn auch gescheiterten Fall einer solchen ‘Zweiten Reformation’ begegnetGa naar voetnoot157. Wo der Calvinismus innerhalb eines deutschen Territoriums zum Sieg gelangte, förderte er nicht das auf vertraglicher Einigung basierende libertär-partizipatorische Modell des Ständestaates oder des Stadtrepublikanismus, sondern das auf souveräner Befehlsgewalt basierende obrigkeitlich-herrschaftliche Staats- und Gesellschaftsmodell der Fürsten und der frühmodemen Bürokratie. Und zwar geschah das nicht selten entschiedener als im Falie des Luthertums. Diese Abweichung von der calvinistisch-westeuropäischen und friesischen Ausprägung calvinistischer Politikkultur war aber keine deutsche, obrigkeitliche Verformung eines ursprünglich ‘demokratischen’ Politikverständnisses, sondern eine logische Konsequenz des aufgezeigten Relativismus und Funktionalismus im politischen Denken der Calvinisten.
4. Die in den ostfriesisch-groningischen Traktaten greifbare Politiktheorie ist historisch falsch eingeordnet, wenn man sie als alleinige Durchbruchstelle westeuropäisch-monarchomachischer Gedanken im Reich klassifiziert. Die Argumente der in den Städten Emden und Groningen konzentrierten ‘Patriotenpartei’ wurden vielmehr im wesentlichen bestimmt durch eine gemeindlich-genossenschaftliche oder kommunale, stadt- und ständerepublikanische Tradition politischer Kultur, die im Reich seit dem Mittelalter stark ausgeprägt war, und zwar keineswegs, wie gerne behauptet wird, nur in der Schweiz und Südwestdeutschland, sondern auch und eher nachhaltiger in Norddeutschland und den Niederlanden. Und diese Tradition ist keineswegs, wie ebenfalls häufig zu lesen, in der Reformation verschwunden. Wie der Aufstand Emdens und andere vergleichbare Ereignisse belegen, blieb sie in zahlreichen Stadten bis ins 17. Jahrhundert hinein erhalten. Somit existierte in Deutschland bis weit in die Neuzeit hinein ein libertärpartizipatorischer Strang politischer und gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen, und damit eine ähnliche politische Kultur wie in den benachbarten NiederlandenGa naar voetnoot158. Entscheidend dafür, daß im 17. Jahrhundert beide Länder unterschiedliche Wege | |
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gingen und sich die eingangs beschriebenen Gegensätze in der politischen Kultur auftaten, war nicht die unterschiedliche Rezeption des Calvinismus, sondem das radikal entgegengesetzt verlaufene Schicksal der gemeindlich-genossenschaftlichen stadtund ständerepublikanischen Tradition: Im Reich wurde sie im Zuge der frühmodernen Fürstenstaatsbildung durch das obrigkeitlich-herrschaftliche Politikmodell unter dem neuen Signum der Bodinschen Souveränitatslehre in den Hintergrund gedrängt, während sie sich umgekehrt in den Niederlanden behauptete, ja zum Fundament der neuzeitlichen Staatsbildung wurde.
5. Diese entgegengesetzte Entwicklung war nicht Folge einer Stärke oder Schwäche des politischen Denkens des jeweiligen Bürgertums. Sie läßt sich auch nicht primär konfessionsgeschichtlich erklären. Sie lag vielmehr in der Konsequenz der unterschiedlichen politischen und vor allem verfassungsrechtlichen Entwicklungen, die die burgundischen Provinzen einerseits und das übrige Reichsgebiet andererseits seit dem ausgehenden Mittelalter durchlaufen hatten. - Diese Beobachtung gilt auch für andere Randgebiete des mittelalterlichen Reiches: lm europäischen Vergleich schält sich aus unseren Überlegungen die These heraus, daß die Stärkung der städtischen Freiheitsbewegungen und deren Fortentwicklung zu republikanischen Theorien in Oberitalien, der Schweiz und in den Niederlanden nicht zuletzt dadurch begünstigt wurden, daß diese Länder von der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Formierung des Reichssystems nicht mehr betroffen wurden.
6. Abschließend noch eine kurze Bemerkung zum Einfluß des Calvinismus auf die politische Kultur der Niederlande: lm Verlaufe des 17. Jahrhunderts zeigte sich auch hier der ambivalente Charakter der calvinistischen Politiktheorie. Nachdem sich die Calvinisten in der Anfangsphase des Aufstandes ständestaatlicher und monarchomachischer Ideen bedient hatten, wurden sie in der Praxis wie in der Theorie mehr und mehr zu Anhängem einer quasimonarchischen Statthalterschaft der Oranier. Wenn sich über Jahrzehnte hin, als - wie Professor Kossmann gezeigt hat - der Republikanismus in der akademischen Politiktheorie der Niederlande praktisch tot warGa naar voetnoot159, in der politischen Kultur vor allem der Provinz Holland Reste stadt- und ständerepublikanischer Ideen erhielten und Mitte des 17. Jahrhunderts wieder entschieden in den Vordergrund traten, so geschah das ohne Zutun des kontraremonstrantischen Calvinismus, wenn nicht gar gegen ihn. Im Pamphletenstreit der 1650er und 1660er Jahre erscheint die politische Kultur der niederländischen Calvinisten in strengem Gegensatz zu derjenigen der Regentenrepublikaner: Statt Frieden und Freiheit für den Handel propagieren sie den Willen zur Fortsetzung des Kampfes gegen die Spanier sowie die Formierung der Gesellschaft für diesen Krieg; statt einer fragmentierten Militärverfassung, die sich nach den Interessen der einzelnen Provinzen und Städte richtet, verlangen sie ein starkes Heer unter dem Oberbefehl eines Oraniers; statt der republikanisch-libertären Ständeunion den Einheitsstaat in der Hand des quasimonarchischen Statthalters; statt Toleranz und | |
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Multikonfessionalität eine gefestigte Dominanz der calvinistischen ÖffentlichkeitskircheGa naar voetnoot160. Diese Beispiele, die sich durch weitere Belege aus dem Meinungsstreit des späteren 17. und des 18. Jahrhunderts ergänzen ließen, machen deutlich, daß gerade die Besonderheiten der politischen Kultur in den Niederlanden, durch die sich die frühneuzeitliche Republik vom absolutistischen Europa unterschied, eher in anderen als in den streng calvinistischen Traditionen wurzelten. Ich denke hier vor allem an den Humanismus sowie - im konfessionellen Spektrum - an diejenigen Spielarten des Reformiertentums, die sich von den beschriebenen Positionen des rigiden Calvinismus abgesetzt haben, aber natürlich auch an die zahlreichen nonkonformistischen Gruppen außerhalb der reformierten Konfession. - Diese Feststellung darf indes nicht den Bliek auf die große politiktheoretische wie machtpolitische Leistung des Calvinismus für die niederländische Republik verstellen: In dem Moment, als im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts eine Grundsatzentscheidung zwischen spanischabsolutistischem oder niederländisch-libertärem Weg fallen mußte, waren es die calvinistischen Theologen, Politiker und die zahlreichen Presbyterien samt ihren Gemeinden innerhalb und außerhalb der Niederlande, die neben Leben und Besitz ein Konzept über die rechte Ordnung von Kirche und Staat zur Verfügung steilten, das dem katholischen Absolutismus der Spanier Paroli zu bieten vermochte. Daß seine politiktheoretischen Grundlagen nicht neuzeitlich säkular, sondem konfessionell gebunden waren und daB man sich an (überkommenen stadtbürgerlich-ständischen Ordnungsvorstellungen orientierte, war kein Mangel. Es trug vielmehr wesentlich zur Durchschlagskraft der Argumente, und damit zum Erfolg des niederländischen Aufstandes bei. |
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