Beatrix. Eine Brabantische Legende
(1919)–Anoniem Beatrijs– Auteursrecht onbekend
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DIE Wundergeschichte von der Nonne Beatrix hat ihren Entstehungsort, nach wissenschaftlicher Vermutung, in den südlichen Niederlanden gehabt. Sie ist hier, in der belgischen Provinz Brabant, noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts sogar als mündliche Überlieferung lebendig gewesen. Dem deutschen Sagenforscher Johann Wilhelm Wolf ward sie von einer greisen Insassin des Klosters Vrouwen-Perk bei Löwen mitgeteilt als die auszeichnende Begnadung eben dieses Klosters, denn die Nonne leitete ihren zu Buche gegebenen Bericht mit den Sätzen ein: ‘In unserer Abtei hatten wir im Chore ein Muttergottesbild, von dem die Schwestern sich die folgende Geschichte erzählten. Es gab vielerlei solche Geschichten bei uns, aber diese ist die schönste.’ (Vgl. J.W. Wolf: Niederländische Sagen, Leipzig 1843, S. 418.) Auch Wichmans (Brabantia Mariana S. 637) erblickt die Heimstätte des Beatrixwunders in diesem Löwener Kloster, das sich als besonders gnadenselig durch den Bekehrungsvorgang der heiligen Katharina von Löwen noch anderweitig berühmt machte. Ein ungefährer Anhaltspunkt für die zeitliche Bestimmung der merkwürdigen Begebenheit liegt in dem Berichte des deutschen Mönchs Caesarius von Heisterbach vor, der die Legende im siebenten Hauptstück seines Dialogus miraculorum als Kapitel XXXV eintrug und hier mit der Feststellung anhebt: ‘In einem Nonnenkloster, den Namen weiß ich nimmer, lebte vor gar nicht vielen Jahren eine Jungfrau, die hiß Beatrix.’ Danach dürfte sich das Ereignis nicht allzu lange vor dem Jahre 1222 abgespielt haben; denn in diesem Jahre war es, daß Caesarius sein Werk abschloß. Er seinersëits mag von der Sache entweder durch niederländische Novizen, die sich in Heisterbach, dem rheinischen Kloster, aufhielten, Kunde bekommen haben, oder hat davon vielleicht unmittelbar in den flämischen Niederlanden selbst gehört, wohin er als Begleiter des Abts von Heisterbach des öfteren gekommen ist. Auf seinen Bericht gründen sich in der Folgezeit alle jene mannigfachen Wiedergaben, die den Stoff durch die Jahrhunderte in andere Länder und in andere Sprachen weitergetragen haben. Die vorliegende Versdichtung fügt dem karg bemessenen Wortlaute des Caesarius eine große Menge von Einzelheiten und Ergänzungen hinzu, die der Geschichte eine erzählerisch wie menschlich gleich vollkommene Abrundung verleihen. So wird die Liebeszugänglichkeit der Nonne und ihre Flucht aus dem Kloster dadurch zum voraus erklärlicher und zugleich verzeihlicher gemacht, daß der Verfasser des Gedichts, im Gegen- | |
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satze zu Caesarius, zwischen Beatrix und ihrem Verführer eine seit Kindheitstagen unerfüllt gebliebene Herzensneigung vorhanden sein läßt. Ihren Drang gibt sie kund ohne Arg, voll natürlicher Begehrlichkeit: sie selber tut den ersten Schritt und bestellt den Geliebten brieflich zu ihrem Fenster. Aber gerade weil ihr Gefühl stark und gerade ist. wirkt die Zudringlichkeit des Junkers während ihres Rittes auf sie verletzend; sie will ihm nicht lediglich zur Lust dienen, sondern die Hingabe des Körpers wie eine geweihte Handlung vollziehen. Bei Caesarius ist nichts davon gesagt, daß sie Kinder bekommen habe; im Gedichte drückt dadurch, daß sie Mutter ist, das Elend des Verlassenseins nach den ersten sieben Jahren auf sie desto schrecklicher; für drei kann sie mit ihrer Hände Arbeit, auch wenn sie es wollte, den Lebensunterhalt nicht zusammenbringen; weniger ihret- als der Kinder wegen geht sie auf die Straße und wird zur Buhlerin. Es ist ein Opfer, welches sie mit ihrem Menschentume für die Kinder bringt, und so gewinnt sie unbewußt eine fast berechtigte Anwartschaft auf die Begnadigung des Himmels, die ihr später zuteil wird. Bei Caesarius erscheint ihr, als sie nach ihren Irrfahrten an die Klosterpforte anklopft, Maria in eigener Person, wie denn die Jungfrau auch in einigen späteren Bearbeitungen der Legende selbst handelnd auftritt, hier und da, indem sie, als das Standbild, plötzlich lebendig geworden von ihrem Pfeilerstein herabsteigt und den Küsterdienst der Nonne antritt oder auch indem eben dieses Standbild der Flüchtigen bei ihrer Heimkehr die Schlüssel der Sakristei handgreiflich zurückgibt. Dementgegen läßt der Verfasser des Gedichts die entscheidende Bekanntgabe des Gnadenaktes nur mittelbar, in dem dreimaligen Traume der Reuigen erfolgen. Wie und auf welche Weise die himmlische Macht sich irdisch verkörperte und betätigte, hieran wird mit keiner vorwitzigen Auslege- und Darstellungskunst gerührt; es bleibt Sache der gläubigen Einbildungskraft jedes einzelnen, sich das Geheimnis sinnfällig auszumalen. Bei Caesarius heißt es, daß Beatrix erst auf dem Totenbette enthüllte, was ihr widerfahren war. Im Gedichte ist es ein, nicht bloß katholisch-dogmatische, sondern rein seelische Gesetze befriedigender Zug, daß Beatrix keine Ruhe gewinnt, ehe sie sich von ihrer Sünde durch ein volles beichtendes Eingeständnisgereinigt hat. Die schöne Erscheinung des weißen Jünglings mit dem Apfel und dem toten Kinde, die Person und die Handlungsweise des lebensklngen und wohlmeinenden Abtes, seine Fürsorge für die Kinder der Nonne, dies alles sind neu hinugedachte epische Umstände, welche im Bilde, wie Caesarius es hinterlassen hat, fehlen. | |
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Wer als Verfasser des Gedichts zu gelten hat, vermochte die Forschung bisher nicht zu ermitteln; wann und wo das Gedicht geschrieben sein könnte, bleibt ebenso ungewiß. Überliefert ist nichts als das Schriftmal selber, eine einzige, schön und sorgfältig auf Pergament hergestellte Abschrift, die heute in der Königlichen Bücherei im Haag aufbewahrt wird. Ihr Alter geht mutmaßlich bis etwa auf das Jahr 1374 zurück. Das Werk wurde der Vergessenheit, in der es schlummerte, erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wieder entrissen. 1841 veröffentlichte W.J.A. Jonckbloet einen wortgetreuen, mit wissenschaftlichen Anmerkungen versehenen Abdruck der Handschrift: Beatrijs, eene Sproke uit de XIII Eeuw, 's Gravenhage. Diese Ausgabe diente der jetzigen Verdeutschung als Unterlage.
Februar 1919. F.M.H. |
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