| |
| |
| |
Legende
I.
Ich habe als erste von diesen Formen die Legende gewählt, weil sie in einem bestimmten Abschnitt der abendländischen Kultur als abgeschlossenes Ganzes vor uns liegt; ich meine die christliche Legende, wie sie sich in der katholischen Kirche seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten herausgebildet und bis heute erhalten hat. An dieser Stelle beobachten wir sie zwar nicht in ihrer umfassendsten Gestaltmöglichkeit, ihrer größten Verallgemeinerung, dafür aber in einer vollkommen ausgeprägten Besonderung.
Es ist ein Vorteil, wenn wir eine Form an einer Stelle greifen können, an der sie wirklich zu sich gekommen, wirklich sie selbst ist, das heißt in unserem Fall, wenn wir die Legende in dem Kreise und in der Zeit untersuchen, wo sie mit einer gewissen Ausschließlichkeit gelesen wurde, wo ihre Geltung nicht hinwegzudenken ist, wo sie eine der Himmelsrichtungen ist, in die man sah, ja vielleicht sogar die einzige, nach der man sich bewegen konnte.
Freilich hat dieser Vorteil auch seine Gefahr; wir dürfen nicht so ohne weiteres die mittelalterliche Legende als Paradigma hinnehmen und müssen uns hüten, das Bild, das wir von ihr gewinnen, allzuschnell begrifflich so auszuwerten, daß wir meinten, wir hätten die Legende damit in ihrer Gesamtmöglichkeit umrissen. Vergleichen wird schwer, wenn wir uns mit einer besonderen Erscheinung zu sehr identifiziert haben. Allerdings ist die Gefahr in diesem Falle nicht allzu groß, denn vieles in unserem eigenen und heutigen Leben trennt uns von der katholischen Legende und wir sehen sie gerade von uns aus in einer gewissen Entfernung.
| |
| |
Wir betrachten die Welt der mittelalterlichen Legende zunächst oberflächlich, wie sie uns quellenmäßig faßbar ist.
Zusammenfassungen von Geschichten mit den Zeugnissen über Leben und Taten der Heiligen liegen uns in kleineren und größeren Sammlungen seit den ersten Jahrhunderten des Christentums vor. Acta Martyrum oder Acta Sanctorum finden wir das ganze Mittelalter hindurch und nicht nur als Bücher, die man gelesen hat, sondern auch in starker Wirksamkeit auf bildende Kunst und Litteratur. Da ist als ganz besonders maßgebend die Legendae sanctorum oder Legenda aurea - hier treffen wir das Wort Legende zum ersten Mal - des Bischofs Jacobus von Varazzo zu nennen, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts zusammengestellt wurde und jahrhundertelang einer besonderen Art kunstgemäßer Ausformung der Legende die Wege gewiesen, sowie einen starken Einfluß auf die italienische Novelle ausgeübt hat.
Die eigentliche große Sammlung der Viten aller von der katholischen Kirche anerkannten Heiligen beginnt in einer Zeit, die auch sonst noch für die Begriffsbestimmung der Heiligen von Wichtigkeit ist, im 17. Jahrhundert. Sie wurde angefangen von einem Jesuiten, Pater Heribertus Rosweidus aus Flandern, und nach seinem Tode fortgesetzt von einem Ordensgenossen, dessen Namen sie trägt, von Johannes Bollandus. Wir nennen sie im allgemeinen Acta Sanctorum oder die Bollandisten. Das Werk ist auch heute noch nicht vollendet. Im strengen Sinne kann es auch nicht vollendet werden, denn die Zahl der Heiligen ist keineswegs historisch beschränkt: es können sozusagen jeden Tag neue hinzukommen, und sie kommen hinzu. Da die Verehrung der Heiligen mit dem Tagesritus der katholischen Kirche zusammenhängt, sind die Viten und Acta nach den Tagen des christlichen Jahres geordnet. Die beiden von Bollandus bearbeiteten Bände für Januar sind 1643 erschienen. 1902 war die Originalausgabe bis auf 63 Bände gediehen. Seitdem sind noch mehrere hinzugekommen; das ganze Unternehmen wird jetzt von einer Kommission ausgeführt, die auch seit 1882 eine Zeitschrift, die Analecta Bollandiana, herausgibt. Im ganzen enthält die Sammlung schätzungsweise 25 000 Heiligenleben; dabei ist zu berücksichtigen, daß in zahlreichen Fällen mehrere
| |
| |
Viten desselben Heiligen überliefert sind, die sämtlich von den Bollandisten ediert werden.
Damit haben wir genügend Material beisammen - nachdem zuerst das Mittelalter, das, sagen wir vorläufig, den Heiligen und seine Legende als Weltanschauung in sich trug, seine Viten gesammelt hatte und danach eine beginnende wissenschaftliche Besinnung es unternahm, ihn in seinem ganzen Umfang und seiner Vielfältigkeit, natürlich immer noch innerhalb der Kirche, zu kompilieren.
Heiliger und heilig liegen hier in einer Sonderwelt vor; von diesem Bereich her ist diesen Worten eine Bedeutung gegeben, die abgeschlossener ist als jene, die wir gewöhnlich mit ihnen verbinden, abgeschlossener auch als die Bedeutung, in der wir heil und heilig in unserer Einführung erwähnt haben.
| |
| |
| |
II.
Was ist der Heilige, was sind die Heiligen, deren Leben in den genannten Quellen in einer bestimmten Weise dargestellt ist? Obwohl sie als Personen für sich allein genommen werden können, auf sich selbst stehen, bilden sie zusammen eine Gemeinschaft kraft einer inneren Zusammengehörigkeit, zudem aber auch dadurch, daß sie in ihrer Gesamtheit das Kirchenjahr vertreten.
Der Heilige ist also an die Institution Kirche gebunden; und so verwandelt sich die Frage: was ist der Heilige?, weil sie nur von dieser Bindung aus zu beantworten ist, in eine weitere, tieferstoßende, die methodisch erste: wie wird man ein Heiliger? Damit ist die Frage gestellt nicht von der Person sondern von der Institution aus, durch die der Heilige anerkannt wird.
Diese Anerkennung vollzieht sich in einer historisch gewordenen und festgelegten Form, der Form der Heiligsprechung (canonisatio), die von dem Papst Urban VIII. (1623-1637, der Entstehungszeit der Acta Sanctorum) endgültig geregelt worden ist.
Canonisatio heißt declaratio pro sancto eines ‘Seligen’ (beatus); canonisare heißt: ‘in das Verzeichnis (canon) der Heiligen eintragen’ und dem Heiligen den ihm gebührenden Kultus zuerkennen, wozu auch die Erwähnung in dem Gebete gehört, das der Priester im Meßkanon bei der Konsekration der Elemente des heiligen Abendmahls zu sprechen hat.
Betrachten wir das Verfahren der Heiligsprechung, wie es seit Urban VIII. üblich ist.
Es geschieht durch die congregatio rituum, in der einige Kardinäle und andere Würdenträger der Kirche Sitz haben, und wird eröffnet auf Veranlassung irgendwelcher Menschen, die von der Heiligkeit der betreffenden Person überzeugt sind,
| |
| |
meist vermittelt durch die Ortsgeistlichkeit. In der Regel soll zwischen dem Tode des designierten Heiligen und der Eröffnung des Verfahrens eine längere Zeit (50 Jahre) liegen. Das Verfahren selbst hat die Form eines Prozesses und zwar eines Prozesses in Instanzen. Es muß zunächst und zwar durch Zeugen erwiesen werden, daß der Betreffende, der, sobald das Verfahren eröffnet ist, servus Dei heißt, erstens heroische Tugenden bewährt und zweitens Wunder getan hat. Die Untersuchung findet zuerst durch den Bischof des Ortes, an dem der servus Dei gelebt hat, statt und wird danach von der Congregatio rituum geprüft. Ist diese Prüfung bestanden, so kann zur Seligsprechung (beatificatio) geschritten werden.
Nach vollzogener beatificatio rückt die Angelegenheit vor eine höhere Instanz - es müssen aber, damit dies möglich ist, neue Wunder geschehen. Sie werden von neuem geprüft, erneut wird das Verfahren eingeleitet, Zeugen werden vernommen, Gegengründe vorgebracht, bis schließlich, wenn das alles durchgeführt ist, der Papst ex cathedra den beatus für sanctus erklärt: ‘decernimus et definimus N. sanctum esse et sanctorum catalogo adscribendum ipsumque catalogo hujusmodi adscribimus statuentes ut ab universali ecclesia ... festum ipsius et officium devote et solenniter celebretur.’
Hinzuzufügen ist noch, daß die der prozessualen Untersuchung unterworfenen Tugenden des beatus - die theologischen: spes, fides, caritas und die moralischen: justitia, prudentia, fortitudo, temperantia - scholastischer Systematik und scholastischer Begriffgebung entsprechen. Auch der Begriff Wunder, der zweite zu behandelnde Hauptpunkt, gilt gemäß der scholastischen Definition: ‘illa, quae a Deo fiunt praeter causas nobis notas miracula dicuntur.’
Es wird in den Abhandlungen, die die beatificatio und die canonisatio besprechen, ausdrücklich auf die Prozeßform des Verfahrens hingewiesen. Die Gründe der Seligsprechung und der Heiligsprechung, heißt es, müssen ebenso streng behandelt werden wie in einem Kriminalverfahren, die Tatsachen ebenso genau bewiesen wie bei der Bestrafung eines Verbrechens. Auch der Staatsanwalt ist bei der Congregatio rituum
| |
| |
vertreten, er heißt - zwar nicht offiziell aber doch allgemein - advocatus diaboli.
So verhält es sich mit der Schaffung, der Anerkennung eines Heiligen seit Urban VIII. Gab es aber vorher keine Heiligen? Im Gegenteil: was im 17. Jahrhundert unter Einfluß der Gegenreformation, des Tridentinums, des Jesuitenordens geschieht, ist nur eine letzte, feste und vielleicht äußerliche Regelung eines Vorgangs, der sich in der christlichen Kirche bis zur Reformation von innen heraus und von selbst vollzogen hat. Die scharfe, juristisch angelegte Prozeßform ist der Abschluß eines Kulturprozesses. Was eine geistliche Behörde hier kraft ihres Amtes dekretiert, ist die Formel einer Form, und diese Formel ist so gefaßt, daß wir in ihr die Form noch erkennen und sie aus ihr ableiten können.
Zunächst können wir wieder Äußerliches aus ihr ableiten.
| |
| |
| |
III.
In einem kleinen, örtlich begrenzten Kreise lebt ein Mensch, der seinen Mitmenschen durch seine besondere Art auffällt. Seine Lebenshaltung, seine Lebensweise sind anders als die der andern; er ist tugendhafter als andere Menschen, aber seine Tugend ist nicht nur quantitativ, sondern qualitativ von jener der anderen verschieden. Wie das gemeint ist, erhellt aus der Tatsache, daß die Würdigung eines Heiligen aus der Prozeßform heraus und durch sie geschieht, und wir fangen schon hier an, die Bedeutung der Prozeßform, den Vergleich mit dem Strafrecht, zu verstehen.
Ein Mensch kann sehr viel böser sein als sein Nachbar, und dennoch bietet sich dem Strafrecht nicht der geringste Anlaß, sich mit diesem Menschen und seiner ‘Bösheit’ zu beschäftigen. Erst wenn diese seine ‘Bösheit’ sich in einer bestimmten Handlung zeigt, sich in eine Tat umsetzt, sagen wir tätig wird, dann erst wird er durch diese Handlung und in dieser Handlung strafbar: wir nennen diese Handlung Verbrechen und definieren im weiteren Sinne Verbrechen als: strafbares Unrecht. Im Verbrechen unterscheidet sich der Verbrecher qualitativ von den anderen Bösen. Das Verbrechen ist es, was bestraft wird, und wenn wir den Verbrecher bestrafen, so geschieht das, weil unsere Justiz ihn als Individuum mit seinem crimen identifiziert.
Der Strafprozeß hat demzufolge nicht zu untersuchen, ob der Angeklagte böse ist, sondern ob ein Verbrechen, ein crimen, vorliegt.
Kehren wir nun die Sache um, dann haben wir den Kanonisationsprozeß. Nur stoßen wir hier auf die Schwierigkeit, daß wir ein Wort, daß das Gegenteil von Verbrechen ausdrückt, nicht besitzen und daß wir auch die Definition strafbares Unrecht nicht in ihr Gegenteil verwandeln können. Wir
| |
| |
müssen uns hier mit dem Ausdruck tätige Tugend oder aktivierte Tugend begnügen. Und wir definieren die Haltung des eingangs geschilderten Menschen, dessen Tugend sich qualitativ von der seiner Mitmenschen unterscheidet als: tätige Tugend.
Nun gibt es aber in unserem Strafgesetz eine grundlegende Bestimmung ‘nullum crimen sine lege’: das geschriebene Gesetz ist die Norm der zu bestrafenden Handlung, so wie in der Fortsetzung ‘nulla poena sine lege’ das Gesetz Norm der Bestrafung wird. Eine solche Lex kann es in der geistlichen Umkehrung ebenfalls nicht geben, und so muß hier eine andere Norm gesucht werden. Das geschieht in doppelter Weise:
Der Kanonisationsprozeß stützt sich erstens vergleichbar dem Strafprozeß auf Zeugen. Während aber im Strafprozeß die Zeugen sich nur über Sachverhalte zu äußern haben und die Feststellung des Verbrechens dem Richterkollegium - wie dieses nun auch zusammengestellt sein mag - vorbehalten bleibt, haben im Kanonisationsprozeß die Zeugen, die in gewissem Sinne zugleich Sachverständige sind, auch darüber auszusagen, inwieweit nach ihrer Überzeugung bei dem servus Dei tätige Tugend vorliegt.
Dazu kommt zweitens - und das ist viel wichtiger - eine höhere Norm. Die Tugend in ihrer tätigen Eigenheit wird von oben herab bestätigt - sie wird bestätigt durch das Wunder, durch das ‘quod a deo fit praeter causas nobis notas’. Und wiederum sind es Zeugen, die nicht nur über den Sachverhalt auszusagen haben, sondern die ihre Überzeugung kund tun müssen, daß hier wirklich Wunder geschehen sind. Die letzte Entscheidung, ob Wunderkraft, ob Heiligkeit vorliegt, steht dann allerdings wieder den geistlichen Richtern zu.
Damit haben wir den Prozeß des Heiligen in seinem ersten Abschnitt verfolgt: bis zur Beatifikation. Wie wir schon gesagt haben, müssen eine ganze Anzahl Jahre vom Tode des servus Dei bis zu seiner Beatifikation, erst recht aber bis zu dem Termin verstrichen sein, an dem der Prozeß des beatus von einer zweiten Instanz als Kanonisationsprozeß wieder aufgenomen wird. Auch in dieser Zeit muß sich unabhängig von
| |
| |
dem beatus als Individuum die göttliche Bestätigung noch einmal offensichtlich, im Wunder, wiederholen.
Wie und wo geschehen diese posthumen Wunder, über die auch dieses Mal Zeugen aus der nächsten Umgebung des beatus zu berichten haben? An seinem Grabe, an dem Orte, wo er gewohnt hat, durch Kleider, die er getragen, durch Gegenstände, die er berührt oder die ihn berührt hatten, durch sein Blut, durch Teile seines Körpers.
Und was bedeuten sie? Es ist einmal mit einer gewissen Naivität gesagt worden, ‘ein echt katholisches Volk hält noch mehr auf tote als auf lebendige Heilige’. Manche Erzählung aus dem Mittelalter bestätigt diesen Satz. Wir lesen bei Petrus Damianus in seiner Vita des heiligen Romuald, daß die Bewohner Kataloniens den dort weilenden Italiener, den sie schon zu seinen Lebzeiten als Heiligen betrachteten, zu veranlassen suchten, in ihrem Lande zu bleiben, und als das nicht gelang, Mörder ausschickten, ihn zu töten, damit sie den, den sie lebend nicht zurückhalten konnten, wenigstens als Leiche bei sich behielten: ‘pro patrocinio terrae’. Aus dieser und ähnlichen Geschichten geht die Bedeutung des posthumen Wunders hervor.
Die tätige Tugend muß sich vollenden, sie ist nicht nur losgelöst vom lebendigen Menschen, sondern losgelöst vom Leben überhaupt denkbar; erst wenn sie nach dem Tode des Menschen selbständig geworden ist, steht sie auch wirklich auf sich selbst, gelangt sie zu ihrer völligen Eigenkraft. Die tätige Tugend hat sich vergegenständlicht.
Unser Strafgesetz kennt eine Verjährungsfrist: nach einer bestimmten Zeit kann der Verbrecher für das Verbrechen nicht mehr bestraft werden, das Verbrechen ist gelöscht - an dieser Stelle zeigt sich erneut, wie unsere Strafgesetzgebung letzten Endes davon ausgeht, Verbrechen und Verbrecher zu identifizieren. Es hat aber andere Zeiten gegeben, da man die Leiche des Mörders, der zeitlebens seiner Strafe entronnen war, ausgrub und sie an den Galgen hing, auf das Rad flocht - wo das Verbrechen fortlebte und bestraft werden konnte und mußte, selbst wenn der Verbrecher nicht mehr unter den Lebenden weilte. So haben wir uns die Tugend des Heiligen nach seinem
| |
| |
Tode vorzustellen. Sie besteht, sie lebt nun erst recht, sie wird erst recht bestätigt, nicht im Individuum, sondern an sich. Der Verjährungsfrist unseres Strafgesetzbuches können wir die Verewigungsfrist des Kanonisationsprozesses gegenüberstellen.
Nach der Bestätigungsfrist, in der die tätige Tugend begann ihr Eigenleben anzutreten und während der der servus Dei und eben diese seine tätige Tugend voneinander getrennt waren, wird sie bei einer neuen Instanz in einer anderen Weise an ihren ehedem persönlichen Träger wieder angeschlossen. Diese Wiedervereinigung meint der Kanonisationsprozeß, meint die Heiligsprechung. Der servus Dei ist venerabilis, ist beatus geworden, er befindet sich im Jenseits unter den Seligen. Dorthin kehrt seine Tugend, die sich verselbständigt, vergegenständlicht hat, zu ihm zurück. Beatus und tätige Tugend erfahren eine neue Prägung: Er wird Sanctus und sein Fest und sein Kultus sollen in der ganzen Kirche ‘devote et solenniter’ gefeiert werden, er hat seine himmlische Persönlichkeit erhalten. Was aber seine Tugend war, ist, nachdem er wieder mit ihr vereint wurde, seine Macht. Ich erinnere daran, daß virtus, was schon bei den Römern in besonderer Weise Tugend und Kraft oder Macht heißt, im mittelalterlichen Latein ohne weiteres miraculum bedeuten kann, und daß Tugend mit taugen verwandt ist. War das Wunder zuerst Bestätigung der Tugend, so wird es jetzt Zeichen der Macht. Geschah es anfangs durch Gott, um den Heiligen zu bezeichnen, so geschieht es jetzt durch den Heiligen sozusagen im Auftrage und im Einverständnis mit Gott für jemanden oder für etwas anderes. Man kann sich oder das Seine unter den Schutz des Heiligen stellen, man kann ihn anrufen, man kann ihn bitten, das Wunder zu bewirken.
Diese Macht zeigt sich nun aber noch einmal, zwar nicht ganz unabhängig, aber doch losgelöst von der Person des Heiligen.
Das Wunder nach seinem Tode knüpfte sich an einen Gegenstand, dieser - Gewand, Grab, Marterwerkzeug - zeugte von dem servus Dei, so wie das Wunder von ihm zeugte. Dieser Gegenstand war unentbehrlich in der Zeit, da seine Person ge- | |
| |
storben, aber seine tätige Tugend lebendig war. Der Gegenstand - wir nennen ihn bekanntlich eine Reliquie - mußte ihn in seiner Abwesenheit vertreten. Wie sollte man sonst erkennen, wessen Tugend in einem beliebigen Kreise durch ein Wunder bestätigt wurde, wie verstehen, daß das, was Gott Unbegreifliches tat, sich dennoch auf diese Person bezog? So wie die Reliquie nun aber den servus Dei in seiner Abwesenheit als Träger des Wunders vertrat, so kann sie ihn auch vertreten, nachdem er als sanctus im Himmel weilt. Sie kann alles, was mit dem Heiligen und seiner Heiligkeit zusammenhing, in sich hineinziehen und es wieder ausstrahlen, sie kann selbst in gewissem Sinne heilig sein und Träger der Macht werden.
Stellen wir diesen Zusammenhang noch einmal klar heraus:
Was dieser Heilige als Person bedeutete, nachdem man ihn erstens in menschlicher Umgebung als Täter der Tugend gesehen und die Bestätigung seiner Tugend durch Wunder erlebt hatte;
nachdem man zweitens nach seinem Hinscheiden die Tätigkeit seiner Tugend noch einmal selbständig erfahren und bestätigt gefunden;
nachdem man ihn drittens in einer neu geprägten himmlischen Gestalt wieder mit seiner Tugend zusammengebracht und mit Macht begabt:
alles das kann auch in einen Gegenstand hineingedeutet werden, das kann eine Reliquie von sich aus bedeuten.
| |
| |
| |
IV.
Wenn wir den Werdegang des Heiligen formelhaft im Kanonisationsprozeß und formgemäß auf der Erde und im Himmel beobachtet haben, kommt noch einmal die Frage: was heißt das alles? Was veranlaßt den Menschen, seine Mitmenschen in dieser Weise zu sehen? Aus welchem Gedankengang, aus welcher Lebenshaltung, aus welcher Geistesbeschäftigung wird jene Formenwelt geboren, in der Personen Heilige, Gegenstände Reliquien werden und in der wir von Wundern reden - jene Weltform, die in dem kirchlichen Kanonisationsprozeß als hierarchische Parallele zu einem Lebensvorgang festgelegt worden ist?
Was uns zunächst an der Weise auffällt, wie ein Heiliger - wir wollen sagen - zustande kommt, ist, daß er - ich muß mich wieder vorsichtig ausdrücken - selbst so wenig dabei beteiligt ist.
Nicht, daß er sich als Persönlichkeit passiv verhielte - keineswegs! Manchmal wird er vor seiner Geburt seiner Mutter verkündigt, sie sieht ein strahlendes Licht oder eine ähnliche Erscheinung. Und sobald er ins Leben tritt, ist sein Dasein auf Tun gestellt. Es gibt Heilige, die schon in der Wiege die Händchen zum Gebet falten. Als Knabe, als Mädchen, unterscheiden sie sich von Kindern ihres Alters durch ihre Frömmigkeit, durch ihre guten Werke. Und später offenbart sich immer erneut ihre aktive Kraft, sie handeln fortwährend. Es gibt tapfere Heilige, die mit Versuchungen, mit satanischen Feinden, mit dem Teufel kämpfen oder einem heidnischen Tyrannen entgegentreten. Es gibt fleißige Heilige, die zahllose gottgefällige Bücher schreiben oder die ununterbrochen von Land zu Land ziehen, um predigend das Heidentum zu bekehren. Es gibt Heilige, die freudig die ihnen auferlegten Martern ertragen und heroisch noch schwerere begehren. Tätig sind sie gewiß, und dennoch sind
| |
| |
sie bei dem Heiligungsprozeß, der sich erst im Leben vollzieht und danach in dem Verfahren der congregatio rituum spiegelt, unbeteiligt. Wir können sagen, sie werden, obwohl sie Hauptpersonen sind, in diesen beiden Prozessen, dem des Lebens und dem der Kanonisation, durch Kontumacialverfahren abgeurteilt.
Schärfer ausgedrückt, wir haben nicht die Empfindung, daß der Heilige von sich aus und für sich existiert, sondern daß er von der Gemeinschaft aus und für die Gemeinschaft da ist: erst in dem kleinen Kreis, in dem man ihn beobachtet, später für die ecclesia universalis, selbst dann noch, wenn er zwischen den Seligen im Jenseits wandelt oder geschmückt mit seinen Attributen auf dem Altare steht.
Was aber bedeutet er der Gemeinschaft?
Gut und Böse können wohl gewertet, aber nicht gemessen werden. Meßbar sind sie erst, wenn sie sich im Heiligen als tätige Tugend, im Verbrecher als strafbares Unrecht gestaltet haben. Erst wenn wir sie so in den Personen gesehen haben, können wir sie in ihrer meßbaren Selbständigkeit von ihren Trägern loslösen: Heilige und Verbrecher sind also Personen, in denen sich Gut und Böse in einer bestimmten Weise vergegenständlichen.
Da liegt der Grund, weshalb jene Gemeinschaft nicht fragt, wie der Heilige sich fühlt, wenn er fromm ist, wenn er handelt, wenn er leidet. Er ist ihr nicht in diesem Sinne ein Mensch wie andere, er ist ihr ein Mittel, Tugend vergegenständlicht zu sehen, vergegenständlicht bis in die höchste Potenz, bis in die himmlische Macht. Deshalb fehlt der Heilige in seinem Prozeß, deshalb sind es Zeugen und immer wieder Zeugen, die als Vertreter der Gemeinschaft ihre Überzeugung kundtun, daß die Vergegenständlichung stattgefunden hat, daß sie durch Wunder bestätigt worden ist - Zeugen, die sich dann wiederum von der kirchlichen Behörde beglaubigen lassen, daß ihre Überzeugung richtig war.
Was ist damit gewonnen, daß Tugend in dieser Weise meßbar, greifbar wird, was eben ist die bestimmte Weise, in der sie sich in dem Heiligen vergegenständlicht?
Wir kommen hier zu dem, was uns in die Geistesbeschäftigung, die den Heiligen bildet, einführt. Wir
| |
| |
können Gutes und Böses tun, ohne genau zu wissen, wie wir zu werten sind, wie wir dabei gerichtet sind. Erst wenn die Tugend meßbar, greifbar, faßbar geworden ist, erst wenn sie bedingungslos, uneingeschränkt in dem Heiligen vor uns steht, haben wir einen sicheren Maßstab: der Heilige bringt uns zum Bewußtsein, was wir auf dem Wege der Tugend tun und erfahren und sein möchten; er selbst ist dieser Weg zur Tugend, wir können ihm selbst folgen.
Ich werde nunmehr, um die Geistesbeschäftigung zu kennzeichnen, aus der das hervorgeht, was ich eine Form - in diesem Fall die Form Legende - nenne, genötigt sein, Kennworte einzuführen, das heißt Worte, die nicht in vollem Umfange ‘bedeuten’, sondern die ‘andeuten’, die nur eine Richtung geben.
Hier greife ich, da weder das deutsche folgen noch nachahmen diese Richtung genügend treffen, zu dem lateinischen, im Mittelalter gebräuchlichen Ausdruck imitatio.
Etymologisch hängt imitor zusammen mit aemulus = nacheifernd (aemulor, suche gleichzukommen) und mit imago = Abbild. Neben der Etymologie steht jedoch der Begriff Eindeutung. So hat das Mittelalter imitari eindeutend mit immutare in Verbindung gebracht: sich so verwandeln, daß man in etwas anderes eingeht.
Der Heilige, in dem als Person die Tugend sich vergegenständlicht, ist eine Figur, in der seine engere und seine weitere Umgebung die imitatio erfährt. Er stellt tatsächlich denjenigen dar, dem wir nacheifern können, und er liefert zugleich den Beweis, daß sich, indem wir ihn nachahmen, die Tätigkeit der Tugend tatsächlich vollzieht. Er ist als höchste Stufe der Tugend unerreichbar und liegt in seiner Gegenständlichkeit doch wieder in unserem Bereiche. Er ist eine Gestalt, an der wir etwas, was uns allseitig erstrebenswert erscheint, wahrnehmen, erleben und erkennen und die uns zugleich die Möglichkeit der Betätigung veranschaulicht - kurz, er ist im Sinne der Form ein imitabile.
Von dem Heiligen aus, den wir in seinem Werdegang so genau beobachtet haben, öffnet sich unser Blick auf die Welt, die ihn in dieser Besonderung gebildet hat. Wir schauen uns
| |
| |
im Mittelalter um und finden auf allen Seiten das gleiche. Da liegt auf einer steilen Anhöhe eine Kirche, und der aufsteigende Pfad ist eingeteilt in vierzehn Stationen. Jede Station bedeutet einen bestimmten Punkt aus der Leidensgeschichte Christi. Der Fromme folgt diesem Weg, und bei jeder einzelnen Station erlebt er jeweils die Verspottung, die Geißelung, die Kreurtragung. Er erlebt sie nicht nur als Erinnerung an Geschehenes, er erlebt sie buchstäblich, er begibt sich in sie hinein, er macht den Leidensweg mit, er wird mitverspottet, gegeißelt, er hilft das Kreuz tragen. Er vereinigt sich, soweit es einem Menschen möglich ist, mit dem Unnachahmbaren, er wird zum aemulus Christi, er wird oben in der Kirche, die wiederum ein imago Christi ist, in Christus aufgenommen. Eine Pilgerfahrt zu einem Orte, wo ein Heiliger ruht oder wo er durch seine Reliquie vertreten wird, ist nichts anderes als eine tatsächliche Wiederholung des Weges zur Heiligkeit - wohlverstanden, soweit sie einem Nicht-Heiligen möglich ist. Wenn zu Ende der Fahrt der Heilige das gewährt, was der Pilger von ihm durch seine Reise zu erreichen hoffte, zum Beispiel Heilung von einer Krankheit - so geschieht das, weil der Pilger in eingeschränktem Sinne selbst der Heilige geworden ist.
Diesen Sinn einer Pilgerfahrt haben auch die Kreuzzüge. Sie stehen zweifellos im Zusammenhang mit den großen germanischen Völkerverschiebungen, durch die das Abendland gestaltet wurde, sie sind ebenso sehr Völkerwanderungen wie die späteren Entdeckungsreisen. Aber sie unterscheiden sich von den vorhergehenden wie von den nachfolgenden durch ihren imitativen Charakter, der sich sowohl in ihrem Ziel wie in ihren Mitteln kundgibt. Sie mögen nach Ostland, nach Spanien oder nach Palästina gerichtet sein, sie stehen im Zeichen der Nachahmung Christi: ‘und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht wert’, heißt es. Die Ritter heften sich das Kreuz auf die Schulter und machen eine Pilgerfahrt großen, kriegerischen Stils, deren letztes Ziel die größte aller Reliquien ist, das Grab Christi, das wiederum Christus selbst bedeutet.
In dieser Weise können die höchsten Handlungen und Personen des Christentums begriffen werden, ohne daß damit ihre
| |
| |
religiöse Bedeutung ganz erschöpft wird, das Meßopfer, Maria und Jesus selbst. Jesus bedeutet gewiß noch anderes, aber er ist auch der ‘höchste Heilige’, dessen aemuli ihrerseits wieder die anderen Heiligen sind. Und wiederum kann das Geschehen im Leben Jesu selbst imitativ gefaßt werden, wenn man es, so wie es im Evangelium des Matthäus geschieht, als Erfüllung eines früheren nimmt, wenn man sagt: ‘und ist erfüllet, das gesagt ist von dem Propheten Jeremias, der da spricht...’, oder auch so, daß man dieses Geschehen im Neuen Testament als Wiederholung eines Vorgangs im Alten Testament betrachtet, wie zum Exempel der Opfertod am Kreuze in Abrahams Opfer schon vorgebildet ist.
Wir würden ein sehr beträchtliches Stück der Welt des Mittelalters vor uns sehen, wollten wir in Einzelheiten nachweisen, wo überall die Geistesbeschäftigung der imitatio dem Leben des mittelalterlichen Menschen eingelagert ist, diese Geistesbeschäftigung der aemuli, der imagines, die sich keineswegs auf das religiöse Leben beschränkt. Und immer verhält es sich dabei so, daß sich in einer Person, einem Ding, einer Handlung ein anderes vollzieht, was in ihnen gegenständlich wird und was von dieser Gegenständlichkeit aus nun wieder anderen die Möglichkeit gibt, hineinzutreten und aufgenommen zu werden.
| |
| |
| |
V.
Diese Form nun, die sich im Leben verwirklicht, verwirklicht sich wiederum in der Sprache. Wir haben den Heiligen, wir haben seine Reliquie, wir haben seine Legende; wir haben die Person, wir haben das Ding, wir haben die Sprache. In allen dreien vollzieht sich diese Geistesbeschäftigung, diese Welt der imitatio.
Die abendländisch-katholische Legende hat - sie verdankt das der Sicherheit, mit der die kirchliche Behörde hier schon früh diesen ganzen Vorgang beobachtet und hierarchisch gedeutet hat - eine geschlossene Gestalt: sie gibt das Leben des Heiligen, oberflächlich gesagt seine Geschichte - sie ist eine Vita.
Diese Vita als sprachliche Form hat aber so zu verlaufen, daß sie in jeder Hinsicht dem Geschehen im Leben entspricht, das heißt so, daß sich in ihr dieses Leben noch einmal vollzieht. Es ist nicht damit getan, daß sie Ereignisse, Handlungen unparteiisch protokolliert, sondern sie muß diese in sich zu der Form werden lassen, die sie von sich aus noch einmal verwirklicht. Sie muß für Hörer oder Leser genau das vertreten, was im Leben der Heilige repräsentiert, sie muß selbst ein imitabile sein. Deshalb sieht in dieser Vita das Leben eines Menschen anders aus als in dem, was wir eine ‘historische’ Lebensbeschreibung nennen. Wir pflegen - ‘historisch’ gesprochen; und wir werden später zu sagen haben, was wir im Sinne der Form damit meinen - das Leben eines Menschen als ein Kontinuum aufzufassen, eine Bewegung, die ununterbrochen von einem Anfang zu einem Ende läuft und bei der sich alles Folgende immer auf ein Vorhergehendes bezieht. Wenn die Vita das Leben eines Heiligen so auffaßte, würde gerade das, was sie bezweckt, nicht erreicht werden. Sie hat das Tätigwerden der Tugend zu realisieren, sie hat zu zeigen, wie
| |
| |
die Tätigkeit der Tugend durch ein Wunder bestätigt wird. Nicht der Zusammenhang des menschlichen Lebens ist ihr wichtig, nur die Augenblicke sind es, in denen das Gute sich vergegenständlicht.
Die Vita, die Legende überhaupt zerbricht das ‘Historische’ in seine Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile von sich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge wieder auf. Die Legende kennt das ‘Historische’ in diesem Sinne überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder. Wo der Heilige kein Mittel ist, Tugend vergegenständlicht zu sehen. wo er nicht als imitabile gewertet werden kann, da ist er eben kein Heiliger und die sprachliche Form, die ihn als Heiligen vertritt, kann ihn dort schlechterdings nicht fassen.
Wir besitzen Beispiele, daß - Heilige - natürlich nicht im Bewußtsein ihrer Heiligkeit, sondern menschlich, autobiographisch - ihr eigenes Leben aufgeschrieben haben. Ich verweise auf die Confessiones des heiligen Augustin - oder ich müßte hier besser sagen, des Kirchenvaters Augustinus. Nirgends erinnern diese Bekenntnisse an eine Legende, in die Acta Sanctorum gehören sie nicht. Andererseits liegen uns Heiligenleben aus einer Zeit vor, in der die Form Legende nicht mehr ganz lebendig war, in der sozusagen auch von kirchlicher Seite her an eine ‘Vita’ historische Anforderungen gestellt wurden. An dieser Stelle kann man das Ringen zweier Formen beobachten, und man sieht zugleich, daß, sobald von historischer Einstellung her etwas gelockert wird, die Möglichkeit der imitatio aufhört, die Form zerbricht. Es ist eben die Eigenart der historischen Lebensbeschreibung, daß in ihr die Person sie selbst bleibt und uns zwar ein Beispiel sein kann, aber keine Möglichkeit bietet, uns ganz in sich aufzunehmen. Doch wenn die Lebensbeschreibung so verläuft, daß die historische Persönlichkeit nicht mehr ganz in sich geschlossen ist, wenn sie sie so baut, daß wir geneigt sind, uns in sie hineinzubegeben, wird sie Legende.
Wir können Ähnliches augenblicklich bei der Figur Friedrichs des Großen beobachten.
| |
| |
Sprache wäre keine Sprache und sprachliche Form keine sprachliche Form, wenn sich nicht in ihr selbständig vollziehen könnte, was sich auch im Leben begibt. So ist die sprachliche Form nicht nur in der Lage, das Leben eines Heiligen in einer entsprechenden Weise zu vertreten, sondern sie bildet auch Heilige.
Ich werde nun, nachdem wir den Prozeß der Heiligwerdung in Leben und sprachlicher Form beobachtet haben, tiefer stoßen und, vermittelt durch ein Beispiel, dieses Sprachewerden und Sprachesein einer Form, hier der Form Legende, veranschaulichen.
| |
| |
| |
VI.
Wir lesen in alten Märtyrerakten ungefähr folgendes:
Ein Mann stammt aus einer christlichen Familie, die zu Ende des 3. Jahrhunderts in einem östlichen Bezirk des römischen Reiches lebt, er tritt in das römische Heer ein, zeichnet sich im Kriege aus und steigt zu den höchsten militärischen Chargen empor. Der Kaiser entschließt sich zu den Christenverfolgungen, seine Umgebung stimmt ihm zu, nur dieser Mann tritt ihm entgegen. Der Kaiser, wutentbrannt, läßt ihn gefangennehmen und auf einem Rade mit scharfen Klingen martern. Eine Stimme aus dem Himmel ruft dem Gemarterten zu: ‘Fürchte dich nicht, ich bin mit dir’, und eine himmlische Erscheinung in weißen Kleidern reicht ihm die Hand. Viele bekehren sich, auch manche seiner Kriegskameraden. Er wird von neuem gemartert, neue Wunder geschehen. Er wird in den Apollotempel geführt und soll dem Gotte opfern. Aber er sagt: ‘Willst du von mir Opfer empfangen?’ und macht dabei das Zeichen des Kreuzes. Darauf antwortet eine Stimme aus dem Götterbilde: ‘es gibt keinen Gott außer dem Gott, den du verkündigst’. Der Märtyrer sagt: ‘wie wagst du es dann, in meiner Anwesenheit zu verweilen? Geh und bete den wahrhaftigen Gott an.’ Dem Munde des Götzen entfährt ein wildes und jämmerliches Geheul, und die Bilder zerspringen in Stücke. Der Christ wird von den Heidenpriestern von neuem geschlagen und gemartert, schließlich auf Befehl des Kaisers enthauptet.
Es ist nach dem Vorhergehenden deutlich, daß wir hier einen Bericht über tätige Tugend, Wunder, einen Heiligen vor uns haben. Wir stellen nun zunächst diesem Bericht - der schematisch das, was wir mit geringen Abweichungen in mehreren Märtyrerakten finden, wiedergibt - eine kurze Übersicht des zeitgenössischen Geschehens, aus dem er hervor- | |
| |
gegangen ist, und dem er in seiner Weise entspricht, an die Seite.
Wir befinden uns in der Zeit der diokletianischen Christenverfolgung. Diokletian, der in der wachsenden Christengemeinde eine Gefahr für seine weitgreifende Reorganisation des Römerreichs sieht, entschließt sich im Jahre 303, gedrängt von seiner Umgebung, sehr strenge Strafverordnungen gegen die Anhänger des Christentums zu erlassen. Christen aber befinden sich in allen Kreisen, auch unter den höchsten Beamten des Heeres und des Hofes; wir wissen, daß der Praepositus Cubiculi Dorotheus und sein Genosse Gorgonius hingerichtet worden sind. Daß die Mutigen unter den Christen ihm entgegentreten, ist selbstverständlich. Der Kirchenhistoriker Eusebius erzählt, wie in Nikomedia, wo die Verfolgung einsetzte, ein höherer Beamter, dessen Namen er verschweigt, das angeschlagene Edikt mit höhnischen Worten abriß. Es folgen Gefangennahmen. Folterungen, Hinrichtungen in allen Teilen des Reiches, sie werden unter Diokletians Nachfolgern, unter Galerius und Maximinus Daja, fortgesetzt. Kirchen werden niedergebrannt, kirchliches Eigentum wird eingezogen. Tausende fallen ab, viele bleiben treu. Aber noch vor dem Tode des Diokletian. der sich 305 von der Regierung zurückzieht, greift Konstantin ein, im Jahre 313 kommt das Duldungsedikt von Mailand; 325 ist das Konzil von Nicäa schon im Gange. Das Christentum hat gesiegt, die römischen Staatsreligionen sind im Verschwinden.
Beobachten wir weiter, in welcher besonderen Weise unser Bericht aus diesem Geschehen hervorgegangen ist, in welcher besonderen Weise er diesem Geschehen, diesen Vorgängen, diesen Tatsachen entspricht, damit wir daraus ersehen, daß das, was wir mit einem neutralen Wort Bericht nannten, in Wirklichkeit Legende heißen muß.
Die vielfältige Erscheinung, daß Christen verfolgt, gefangen, gemartert werden, soll zusammenfassend gekennzeichnet und ausgedrückt, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, er heißt: ein Rad mit scharfen Klingen; der sich durch alle Kreise und Stände ziehende Gegensatz zwischen der Vielheit der römischen Staats- | |
| |
religionen zu der einheitlichen neuen Religion heißt: der Märtyrer wird in den Tempel mit den vielen Götzenbildern geführt; der Widerstand des Christen heißt: er redet die falschen Götter an, sie antworten und unterwerfen sich ihm; die Nutzlosigkeit der Verfolgungen und der Sieg des Christentums heißen: die Götzenbilder zerspringen; wenn der Christ die Verfolgung und die Folter übersteht, heißt es: eine himmlische Stimme ruft ihm zu oder: eine himmlische Erscheinung in weißem Gewande reicht ihm die Hand...
Es ist als ob sich die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Geschehens verdichte und gestalte, als ob gleichartige Erscheinungen zusammengewirbelt und in dem Wirbel umgriffen würden, so, daß sie in einen Begriff eingehen, einen Begriff darstellen. Wenn man sagt: Ein Rad mit scharfen Klingen - so ist nicht ganz einzusehen, wie man einen Menschen damit martern soll, aber es ist unmöglich, den Begriff sämtlicher seelischen und körperlichen Foltern besser zu fassen als durch ein Rad mit scharfen Klingen. Wieviel liegt nicht in einem Gott, der zerspringt!
Was aber geschieht in diesem Prozeß der Umsetzung? Was teilt hier Geschehen in irgendwie letzte, nicht weiter teilbare Einheiten und schwängert diese Einheiten, was greift auswählend in das Geschehen hinein und legt dieses Geschehen in Begriffe fest? Es ist die Sprache; dieses Rad mit scharfen Klingen, dieser Gott, der zerspringt, sind sprachliche Bildungen, sprachliche Gebilde. Ein Vorgang spielt sich ab, bei dem die zwei sprachlichen Funktionen: das Aufetwas-hinweisen und das Etwas-darstellen miteinander vereinigt sind. Ein plötzliches Zusammenkommen und ein vollkommenes Ineinanderaufgehen von Meinen und Bedeuten findet statt.
Damit wiederholt sich auf einer zweiten Stufe ein Vorgang, der sich schon einmal vollzogen hat, als sich die Sprache an sich bildete. Hier erhartet die Sprache mit den Einheiten des Geschehens sich selbst in einer ersten litterarischen Form. Es wird hier zum zweiten Male etwas geboren, was auf einer
| |
| |
dritten Stufe wiederum geboren werden wird, wenn durch einen einmaligen, nicht wiederholbaren Vorgang die Form in einem Kunstwerk, in einem Gebilde des Künstlers, sich noch einmal verdichtet und so endgültig erfüllt wird.
Wo also unter Herrschaft einer Geistesbeschäftigung die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens sich verdichtet und gestaltet, wo dieses von der Sprache in seinen letzten, nicht teilbaren Einheiten ergriffen, in sprachlichen Gebilden wiederum Sein und Geschehen zugleich meint und bedeutet, da reden wir von der Entstehung der Einfachen Form.
Es ist nicht leicht, diese Gebilde nun, die wir bis jetzt Einheiten des Geschehens genannt haben, und die von der Sprache erfaßt wurden, zu benennen. In einer verschwommenen Terminologie pflegt die Litteraturgeschichte da, wo sie, ohne sie vollständig zu begreifen, diese Dinge berührt, von ‘Motiven’ zu reden. Sie pflegt aber auch stoffgeschichtliche Gegebenheiten oder bereits dem Kunstwerk in irgendwelchem Komplex ‘präformierten’ Stoff damit zu meinen. Motiv ist ein gefährliches Wort. Motiv heißt doch wohl zunächst Beweggrund, Bestimmungsgrund, etwas, was ein anderes auslöst. In diesem letzten Sinne könnte man zur Not das Wort hier gebrauchen. Unsere Gebilde lösen gewiß etwas aus, insoweit das Geschehen durch sie von einer Geistesbeschäftigung aus vorstellbar wird. Aber das ist doch nicht ihr erster, ihr tiefster Sinn. Man ist auf diesen Ausdruck durch die Musik gekommen, wo Motiv ‘das letzte charakteristische Glied’ eines Kunstgebildes bezeichnet. Und es war Scherer, der es zuerst in dieser Bedeutung in seiner Poetik benutzte. Aber auch so können wir es hier nicht nehmen. Nietzsche definiert das musikalische Motiv als ‘die einzelne Gebärde des musikalischen Affekts’. In der Tat, eine einzelne Gebärde der Sprache ist das, was wir bis jetzt das in Begriffe gefaßte Geschehen, die geladenen Einheiten genannt haben.
Wir werden das Wort sprachliche Einzelgebärde, oder kurz Sprachgebärde, weiterhin in diesem Sinne gebrauchen.
| |
| |
In unserem Beispiel sind die sprachlichen Einzelgebärden: Rad mit scharfen Klingen, himmlische Stimme, eine Erscheinung im weißen Kleide, die hilfreich die Hand ausstreckt, Götter, die angeredet werden, sich dem Zeichen des Kreuzes unterwerfen, Götterbilder, die zerspringen und so weiter.
Diese Sprachgebärden geben indessen, so wie sie hier in ihrer Gesamtheit vorliegen, noch keinen bestimmten Heiligen, sondern erst einmal irgendeinen frommen Christen zur Zeit einer Verfolgung, einen heiligen Märtyrer im allgemeinen, und so sehen wir in einer Anzahl Märtyrerakten die gleichen sprachlichen Gebärden in der gleichen Weise wiederkehren. Sie sind nun aber dabei so gelagert, daß sie jeden Augenblick bestimmt gerichtet und gebunden werden können, so daß sie eine gegenwärtige Bedeutsamkeit erlangen. In unserem Falle springt sozusagen aus den Gebärden, zu denen sich das Geschehen zur Zeit der diokletianischen Christenverfolgungen verdichtete, nicht ein heiliger Märtyrer, sondern der heilige Georg heraus; das heißt, die Gebärden richten sich so, daß sie in ihrer Gesamtheit gegenwärtig werden in einer Einzelperson, daß sie in ihrer Vergegenwärtigung einen besonderen Heiligen schaffen.
Das zeigt uns, daß eine Form in doppelter Weise vorliegt, wobei sich die eine zur anderen ungefähr so verhält, wie ein Schachproblem zu seiner Lösung. In dem Problem ist eine Möglichkeit gegeben und enthalten, in der Lösung ist diese Möglichkeit durch ein bestimmtes Geschehen verwirklicht. Was wir Legende genannt haben, ist zunächst nichts anderes als die bestimmte Lagerung der Gebärden in einem Felde. Was wir - ausnahmsweise haben wir dafür ein eigenes Wort - die Heiligen vita des heiligen Georg nennen, ist die Verwirklichung der in der Legende gegebenen und enthaltenen Möglichkeit. Wenn man sich einer scholastischen Terminologie bedient, so kann man sagen, daß das, was in der Legende potentialiter vorliegt, in der Vita actualiter gegeben wird. Wir verdeutlichen das Verhältnis der beiden Weisen, in denen wir die Form wahrnehmen können, wenn wir sie einen Augenblick in das Leben übertragen: von einer gewissen Geistesbeschäftigung
| |
| |
aus mußte aus dem Vorgehen Diokletians den Christen gegenüber Legende entstehen; wo sich diese Legende entweder mit einer entsprechenden Persönlichkeit im Leben verband, oder von sich aus eine solche Persönlichkeit schuf, da wurde sie die Vita dieser besonderen Person.
Wir werden auch bei den anderen Formen sehen, wie notwendig es ist, diese zwei Weisen zu unterscheiden. Ich nenne die erste Einfache Form, die zweite Aktuelle oder Gegenwärtige Einfache Form. Und ich wiederhole noch einmal, daß ich dort von einer Einfachen Form rede, wo sprachliche Gebärden - in denen sich einerseits Lebensvorgänge unter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung in einer bestimmten Weise verdichtet haben und die andererseits von dieser Geistesbeschäftigung aus Lebensvorgänge erzeugen, schaffen, bedeuten - so gelagert sind, daß sie jeden Augenblick besonders gerichtet und gegenwärtig bedeutsam werden können. In diesem Fall, wo sie besonders gerichtet und gegenwärtig bedeutsam geworden ist, ist sie eine Aktuelle oder Gegenwärtige Einfache Form. Legende ist Einfache Form; eine Legende, oder wie wir sagen, die Vita des heiligen Georg, ist Gegenwärtige Einfache Form.
| |
| |
| |
VII.
Wenden wir uns nun diesem besonderen Einzelheiligen, diesem Heiligen Georg, über dessen ‘historische’ Existenz nichts bekannt ist, zu.
Von der Geistesbeschäftigung aus, die wir imitatio genannt haben, hatten sich die sprachlichen Gebärden aus den Lebensvorgängen heraus verdichtet: dabei war jede von ihnen so gelagert, daß man folgen, in sie eintreten und aufgenommen werden konnte. In ihrer Gesamtheit waren sie so gerichtet, daß sie durch die Verbindung mit einer Persönlichkeit gegenwärtig, aktuell wurden. Dabei ist es gleichgültig, ob sie eine bestimmte Person aus dem Leben meinten, oder ob durch sie eine bestimmte Person geschaffen wurde. Fest steht, daß die Person, die entstand, alle Menschen, die sich in einer solchen Lage befunden hatten, meinte und bedeutete und daß diese Person die Möglichkeit gab, ihr zu folgen; daß sie ein imitabile war.
So entstand und so wuchs der Soldat als Christ, der Christ als Soldat, der Christenritter Sankt Georg. Überall, wo die beiden Begriffe Krieger und Christ, die Pflicht der Tapferkeit und die Pflicht des Glaubens, sich in irgendeiner Weise zusammen zeigen, ist dieser Heilige da, steht er vor uns, nachahmenswert, unnachahmbar - kurz, als eine Figur, die dem imitativen Bedürfnis vollkommen entspricht. So tritt er seinen Weg von der Spätantike ins Abendland an. Konstantin baut ihm als erster eine Kirche. Und als kaum zwei Jahrhunderte nach Diokletian in Frankreich Kampf und Katholizismus sich verbinden, da erscheint der streitbare Jüngling. Clotilde, die katholische Burgunderin, veranlaßt ihren Gemahl, den christgewordenen Chlodwig, seinen Kult einzuführen. Er kommt persönlich, das heißt seine Reliquien werden aus dem Orient nach Paris übergeführt - nun ist er da und es ist, als ob die Kirchen aus Palästina und Byzanz mit ihm herüberwandern.
| |
| |
Langsam verändert sich zu Ende des Jahrtausends und zu Anfang des neuen seine Gestalt, verändern sich seine Aufgaben, er bekommt ein neues Gepräge. Das Verhältnis der Pflicht des Soldaten zur Christenpflicht hat sich gewandelt. Aus dem Krieger, der sich, wo es gilt, als Bekenner aufzutreten, leidend dem Henker überliefert, wird ein Streiter, der den Glauben verteidigt, die Feinde seines Glaubens tätlich angreift, sie besiegt. St. Georg ist nicht länger Märtyrer, er wird Drachentöter und Befreier der Jungfrau.
Wir müßten, um dies ganz zu erklären, hier neben die Berichte der Märtyrerakten, die wir schematisch darstellten, die übrige litterarische Überlieferung über den heiligen Georg stellen. Sie ist weitverbreitet und ausgedehnt; Krumbacher hat sie zuletzt in einer - aus seinem Nachlaß herausgegebenen - Abhandlung, Der heilige Georg in der griechischen Überlieferung (München 1911), zusammengestellt. Das würde uns - so reizvoll es an sich wäre - zu weit führen. Nur das Wichtigste dieser merkwürdigen Erscheinung können wir andeuten. Schon früh muß sich der heilige Märtyrer, der auf der Grenze des Altertums als miles christianus aus dem Geschehen der Zeit Diokletians hervorging, verbunden haben mit Gestalten, die aus der Antike von einer neuen Zeit in ihrer Weise übernommen wurden. Nicht weit von der Stadt Lydda (griechisch Diospolis in Judäa) mit der man schon früh Georgios in Verbindung gebracht hatte - es heißt, daß er, nachdem er in Kappadokien geboren war, dort von seiner Mutter erzogen wurde - liegt an der Küste Joppe. Und in diesem Joppe hatte nach griechischer Überlieferung der Heros Perseus ein menschenverschlingendes Meerungeheuer erlegt und die Jungfrau Andromeda befreit. Unser Märtyrer scheint nun - manches in der Überlieferung weist darauf hin - mit vielem anderen auch den Charakter des Heros Perseus, wie er sich in der Spätantike umgebildet hatte, in sich aufgesogen zu haben. Der heilige Georg, der sich in der Zeit der Verfolkungen neu verwirklichte, war zu gleicher Zeit Fortsetzer und Vertreter - aemulus und imago - einer älteren Figur. Als solcher war er nun nicht mehr ein standhaft leidender, sondern auch ein tätig befreiender Held. Im Abendlande hat
| |
| |
er sozusagen von dieser tätig befreienden Fähigkeit lange keinen Gebrauch gemacht. Erst als es ihn als Ritter, als christlichen Kämpen braucht, verrät er sein streitbares Vermögen; es kehrt, von ihm vertreten, in ihm neu verwirklicht, jene ältere Figur zurück; er zeigt, wie auch diese Rittertugend in ihm tätig wird: er erlegt den Drachen, er befreit die Jungfrau - zwei sprachliche Gebärden, die sich aus neuem Geschehen zur Zeit der beginnenden Kreuzzüge von neuem verdichten.
Bald nach 1000 setzt diese Umprägung ein; in der Legende oder in der Vita, wie sie Jacobus de Voragine gibt, hat sie sich bereits vollzogen.
Nun reitet er den Kreuzfahrern voran, trägt ihre Fahne. Er erscheint Richard Löwenherz, wie die antiken Götter den Helden in der Schlacht erschienen sind. Er ist der Retter der Ritter, der Patron im heiligen Kriege; wo es zum Streite geht, ruft man ihn an und er gewährt den Sieg. Nicht weniger als dreizehn ritterliche Orden stellen sich in seine Obhut, wählen ihn als Vorgänger. Die bekanntesten sind wohl der bayrische Georgsorden und der englische Hosenbandorden (Edward III. 1350). So wird er im Hundertjährigen Kriege Landespatron des streitbaren Old England und der Kriegsruf heißt: England and St. George!
Alles dies wollen wir zusammen noch einmal Legende nennen. Es ist ein sprachlicher, ein litterarischer Vorgang. Benennend, erzeugend, schaffend, deutend bildet die Sprache unter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung eine Gestalt, die, aus dem Leben hervorgegangen, überall in das Leben eingreift. Sie braucht dazu kein Kunstwerk: nirgends hat durch einen einmaligen, nicht wiederholbaren Vorgang die Form sich noch einmal in dem Gebilde eines Künstlers verdichtet, wir besitzen kein Epos des heiligen Georg. Und dennoch ist er da, wir können ihn abbilden; und wenn wir sein Bildnis sehen, in dem nunmehr die sprachliche Gebärde zum Attribut vergegenständlicht ist, und wo er mit Rad, Drache, Fahne und Pferd dargestellt wird, erkennen wir ihn wieder, und er ist uns, soweit wir ihn brauchen, ein imitabile, eine Person, die uns konkret zum Bewußtsein bringt, was wir in einem bestimmten Lebensvorgang erfahren möchten und zu tun haben.
| |
| |
| |
VIII.
Wir haben den Werdegang der Form, die sich aus der Geistesbeschäftigung imitatio ergibt und die wir Legende nennen, in dem Kreise beobachtet, in dem sie ganz zu sich gekommen, in dem sie weltbeherrschend ist. Wir müssen sie jetzt zur Vollständigkeit noch einmal an anderen Stellen beobachten, wo sie weniger deutlich erkennbar ist, wo sie in einer gewissen Verdünnung vorliegt. Wir wenden uns jetzt der Legende in ihrer größeren Verallgemeinerung zu.
Ehe wir das aber tun, möchte ich so etwas wie eine Gegenprobe machen.
Als wir den Kanonisationsprozeß besprachen, haben wir gesehen, daß die tätige Tugend ein Begriff ist, der durch einen Gegenbegriff bedingt und ergänzt wird. Der Tugend entgegengesetzt ist das Verbrechen, und die Art, wie die Tugend festgestellt wurde, kam der Art, wie ein Verbrechen festgestellt wurde, gleich.
Wenn nun in der Geistesbeschäftigung der imitatio der Heilige eine Gestalt ist, in der die Tugend meßbar, greifbar, faßbar wird, die uns zum Bewußtsein bringt, was wir auf dem Wege der Tugend tun, erfahren und sein möchten, und die uns sachlich als Maßstab die Möglichkeit gibt, ihr zu folgen, so muß es andererseits in derselben Form Gestalten geben, in denen das Verbrechen meßbar, greifbar, faßbar wird und in denen sich das Böse, das strafbare Unrecht, in derselben Weise vergegenständlicht. Dem Nachahmenswerten, Unnachahmbaren muß sich eine Figur gegenüberstellen lassen, der wir unter keiner Bedingung folgen sollen, die uns das konkrete Bewußtsein dessen gibt, was wir nicht nachahmen dürfen. Dem Heiligen muß ein Unheiliger, der Legende eine Antilegende gegenüber stehen.
| |
| |
Gibt es solche unheiligen Gegenfüßler? Es ist klar, daß der gewöhnliche Verbrecher hier nicht ausreicht, er ist ebensowenig ein Unheiliger, wie der im allgemeinen Sinne Tugendhafte ein Heiliger ist; wir müssen ihn vor uns sehen wie den heiligen Georg.
Man könnte zunächst, um mit dem Höchsten anzufangen, auf den Antichrist hinweisen, dieser Antichrist ist aber ursprünglich eine Gestalt, die einer anderen Form angehört; er vertritt das Böse nicht in der Weise, wie wir es hier betrachtet haben, nicht als strafbares Unrecht, nicht als das Nicht-Nachahmenswerte. Nur in der Zeit, da Christus zum höchsten Heiligen, zum endgültigen imitabile, wird, bekommt der Antichrist Züge des Unheiligen, allerdings werden sie wenig ausgeprägt.
Aber daneben stehen andere Figuren.
Christus trägt das Kreuz und will ermüdet vor der Tür eines Schusters ausruhen. Da stößt ihn der Schuster weg: ‘Geh!’ Der Heiland erwidert: ‘Von nun an sollst du rastlos gehen.’ Und es geschieht. Von nun an wandert der Schuster von Land zu Land, ohne Aufhören, ohne Ruhe, auch die Ruhe des Todes, die requies aeterna, um die man Gott bittet, ist ihm versagt. Wo er kommt, verkündet er Unheil.
Wir haben hier in jeder Hinsicht ein Gegenstück zur Legende.
Der Lebensvorgang, daß viele die neue Lehre annehmen konnten und sie dennoch abwiesen, verdichtet sich zu einer sprachlichen Gebärde. Sie heißt: der vom Kreuze ermüdete Heiland will ruhen, der Jude spricht: Geh! Daß hier das strafbare Unrecht tätig wird, daß es sich in diesem jüdischen Schuster vergegenständlicht, wird durch ein Wunder - quid a deo fit praeter causas nobis notas - bestätigt. Kein Wunder wäre es gewesen, wenn dieser Mann wie andere Sünder, wie sogar Judas selbst, für sein Unrecht in der Hölle hätte büßen müssen; Wunder ist, daß er nicht stirbt, daß er ewig lebend, allen sichtbar umherwandelt. Wie im Kanonisationsprozeß wird dieses Wunder durch Zeugen erhärtet: hier hat man ihn gesehen, dort ist er gewesen, dieser hat ihn gesprochen, jener von ihm gehört. Wie in dem Heiligen
| |
| |
die tätige Tugend heilbringende Macht wird, so wird in dem ewigen Juden das strafbare Unrecht unheilbringende Macht; natürlich keine Macht, um die man ihn anruft, oder auch keine Macht, die er wie der Heilige gewährt, aber doch eine Macht: wo er erscheint, da kommen Pest, Krieg und Unheil.
Die Haltung jener Gelehrten, jener Humanisten, die in gierigem Wissensdurst und überheblichem Wissensstolz alles zu ergründen suchen, auch das Unergründliche, und die man in Verdacht hat, von der christlichen Demut und der Unterwürfigkeit unter Gottes Ratschlüsse abgewichen zu sein, verdichtet sich zur Gestalt des Doktor Faust und aktualisiert sich mit der sprachlichen Gebärde: Bündnis, Pakt mit dem Teufel. Dieser Teufel ist zwar der Vertreter des Bösen, das Böse selbst, aber nicht er gibt uns die Vergegenständlichung des strafbaren Unrechts, nicht er ist die Verwirklichung des nicht Nachzuahmenden; im Gegenteil, wir geben ihm in gewissem Sinne recht. Dafür ist er eben der Versucher. der Teufel. Aber Faust ist der Anti-Heilige, der Unheilbringer, dessen Zaubergeld sich in Dreck verwandelt, der weitere umgekehrte Wunder verrichtet, den Dutzende von Menschen gesehen und gesprochen haben, und der schließlich nicht stirbt wie andere, sondern den der Teufel eigenhändig holt.
Und so könnten wir einen Kalender der großen Unheiligen, zu denen in früherer Zeit Simon Magus, später Robert der Teufel, Ahasver, Faust, der fliegende Holländer, Don Juan, der Graf von Luxemburg usw. gehören, zusammenstellen. Auch sie sind da, auch sie stehen vor uns wie der heilige Georg vor den Kreuzfahrern, nur daß die imitatio hier in ihr Gegenteil umgewandelt ist; alle sind sie bezeugt, bei allen sind die Gegenwunder örtlich festgelegt.
Und neben den Großen stehen die Kleinen. Wie der Heilige erst in einem kleinen Kreise auftritt, so kann auch der Unheilige in einem kleinen Kreise auftreten und bleiben. In einem Verbrecher kann das Verbrechen von einem gewissen Punkte an als tätiges Unrecht vergegenständlicht, von ihm losgelöst und doch wieder mit ihm verbunden werden. Dann verdichtet sich seine Gestalt, dann ergreift ihn die sprachliche Gebärde, dann bleibt, auch nachdem er als Individuum seine
| |
| |
Strafe verbüßt, nachdem er hingerichtet worden ist, das in ihm tätig gewordene Unrecht, das Verbrechen, in seiner Person lebendig. Er ist nicht mehr da, und er ist doch da: er geht um, er spukt; er bringt Unheil, er ist örtlich gebunden an die Stelle seines Verbrechens. Man vermeidet diese Orte - eine regelrechte Umkehrung der Pilgerfahrt. Er bekommt seine Reliquien, den Stein, wo er gemordet hat, das Rad, mit dem er gerädert, die Werkzeuge überhaupt, mit denen er hingerichtet worden ist. Sein Gefängnis, seine Zelle wird nach ihm genannt, wie die Kirche nach dem Heiligen.
Strafe selbst ist in der Geistesbeschäftigung der umgekehrten imitatio in vieler Hinsicht ein umgekehrtes Wunder. Galgen, Rad und Richtschwert sind Bestätigungen, daß Unrecht tätig geworden ist, daß es sich in einem Unheiligen vergegenständlicht hat. Deshalb wird bei einer Hinrichtung nicht an erster Stelle der Verbrecher getroffen, sondern das Verbrechen, das auch hier von dem Individuum, das es beging, losgelöst denkbar ist und gedacht wurde.
Wir müssen das im Auge behalten, wenn wir eine Reihe grausamer, immer mehr oder weniger sinnbildlicher Strafen oder Opferstrafen aus dem Mittelalter und auch die Menge, die bei ihrer Vollziehung zusah, verstehen wollen. Für unser heutiges Empfinden treffen sie eine Person und werden als Handlungen von Menschen einem Menschen gegenüber gewertet. Deswegen finden wir sie grausam. In der Welt der imitatio sind weder die Bestraften noch die Strafenden in diesem Sinne ‘Mensch’; in dem Bestraften hat sich Unrecht vergegenständlicht zu Verbrechen - daß dies geschehen ist, wird in der Strafe bestätigt, wie wir sagten: durch eine Umkehrung des Wunders. In einer Zeit, die sich mit dem Begriff Todesstrafe beschäftigt, ist es nicht überflüssig darauf hinzuweisen.
Es gibt nur wenige Stellen, wo wir nicht jetzt noch die Spuren solcher Ortsunheiligen finden können, und immer und überall gehören sie zur Legende, sind sie aus dieser Geistesbeschäftigung geboren, bringen sie uns von dieser Geistesbeschäftigung aus das zum Bewußtsein, was wir in einem bestimmten Lebensvorgang nicht tun sollen, nicht erfahren möchten.
| |
| |
Die katholische Kirche hat weder für die großen noch für die kleinen Unheiligen ein Verfahren angeordnet, das dem Kanonisationsprozeß entspräche. Die Unheiligsprechung vollzog sich unbehördlich in der Gemeinschaft durch die Sprache, die meist zu Legenden führte, sehr selten zu Viten. Und wo es doch eine Vita gab, da hat sie oft die Gestalten abgewandelt, so daß sie wohl noch innerhalb der Geistesbeschäftigung imitatio blieben, aber ein anderes Vorzeichen bekamen.
Auch die Heiligenvita kennt solche Abwandlungen. Es ist keine Seltenheit, daß ein Heiliger sein Leben als Unheiliger anfängt, ja es ist fast das deutlichste Zeichen, daß Tugend durch Gottes Gnade tätig wird, daß man erst Vater und Mutter ermorden oder in Blutschande leben und dennoch wie Gregorius seine Tage als Heiliger beschließen kann. Vielleicht stehen gerade solche Heilige dem gewöhnlichen Sterblichen am nächsten.
Wo die Vita eines Unheiligen auftritt, bringt sie in etwas anderem Sinne manchmal eine ähnliche Wandlung hervor - Rinaldo Rinaldini, Fra Diavolo, Schinderhannes verlieren ihren unheilvollen Charakter und vergegenständlichen keineswegs mehr ein Verbrechen.
Das Gleiche kann auch geschehen, wenn in einem Kunstwerk eine solche Figur noch einmal erfüllt wird: aus Faust wird Faust II.
Das zeigt uns, daß die Einfache Form dort, wo sie gegenwärtig wird, schon etwas von ihrer Wesenheit einbüßt. Methodisch, bei der Bestimmung litterarischer Formen, bedeutet das, sie möglichst dort zu fassen, wo sie nicht schon in der Fixierung eine Richtung bekommen haben, sondern wo sie ganz sie selbst, Einfache Formen sind.
| |
| |
| |
IX.
Leider ist das nun aber nicht immer möglich. Wir wissen, daß in unserer eigenen Zeit die Geistesbeschäftigung, aus der sich die Legende ergibt, sich ganz anders als im Mittelalter zeigt, daß sie keineswegs allgemein herrscht, daß die Welt der Legende nur einen sehr kleinen Teil unserer eigenen Welt bildet. Wir können sogar die Zeit angeben, da sie ihre allgemeine Gültigkeit verliert; dieser Zeitpunkt fällt mit dem Ende des Mittelalters zusammen. In allen jenen Erscheinungen, die wir Reformationen und Reformation nennen, hat die Legende ihre Kraft eingebüßt, eine andere Form ist mächtig geworden. In Luthers Schmalkaldischen Artikeln gehören die Heiligen zu den ‘antichristlichen Mißbräuchen’, der wahre Christ ist für Luther ein Heiliger, und einen Stand besonderer Heroen der Tugend gibt es für ihn nicht. Das bedeutet, daß er sich Tugend nicht mehr in dieser Weise in ihrer Tätigkeit vergegenständlicht vorstellt, nicht mehr im Wunder bestätigt sieht, sie nicht mehr als Macht einzelner himmlischer Persönlichkeiten anerkennt. Und in Luthers Meinung liegt die Meinung des ganzen Kreises, den er vertritt, beschlossen. Die alleinige Mittlerschaft Christi und die im Glauben an Christus gewonnene Heilsgewißheit bedeuten das Schwinden jener Welt, in der Heilige, Wunder, Reliquie ihren Platz hatten.
Es ist nicht gesagt, daß damit die Geistesbeschäftigung der imitatio vollkommen beseitigt ist, nur das Schwergewicht wird anderswohin verlegt. Was maßgebend war, wird untergeordnet. Daß dies auch für die Kreise gilt, die nicht zur Reformation gehören, beweist uns die Tatsache. daß auch die Haltung des Tridentiner Konzils den Heiligen gegenüber anders, zögernder, vorsichtiger ist; gerade deshalb aber wird - wie wir gesehen haben - das Verfahren der Canonisatio in dieser Zeit formelhaft festgelegt. Der Grund dafür ist nicht in einer
| |
| |
Angst vor der Kritik der Reformation zu suchen, sondern auch im Katholizismus ist die Geistesbeschäftigung der imitatio weniger wirksam, andere Formen werden herrschend. - Daß aber dennoch die imitatio und ihr Widerspiel ihre Tätigkeit nicht einstellen, sehen wir sowohl an der unentwegt fortdauernden Heiligenverehrung in anderen katholischen Kreisen, wie auch am Entstehen der vielen Antilegenden, die zum großen Teil aus reformatorischen Kreisen hervorgehen.
In Zeiten, wo die imitatio nicht mehr in der Weise herrscht wie im Mittelalter, müssen wir oft durch ein Kunstwerk, öfter auf dem Wege vieler und verdünnter Vergegenwärtigungen zu den Einfachen Formen durchzudringen suchen.
Die Zeit für eine vollständige Darstellung der Legende in allen Zeiten ist noch nicht gekommen. Das ist an dieser Stelle auch nicht meine Aufgabe.
Nur das, was in der Antike und in unserer eigenen Zeit Legende ist, soll noch an einigen Punkten untersucht werden.
Die Siegeslieder Pindars sind alle nach dem gleichen Schema gebaut. Sie setzen ein mit einem Hinweis auf den Anlaß, den errungenen Sieg, führen über in eine Götter- oder Heldenerzählung und kommen zuletzt wieder auf den Sieg zurück. In der Regel nennt man diese eingeschobene Erzählung den Mythus.
So beginnt, um das berühmteste Beispiel zu erwähnen, der 1. Olympische Siegesgesang, der in dem Kanon der Pindarischen Gedichte allen anderen gleichsam als Vorbild vorangesetzt ist, mit einem Lob der Olympischen Spiele überhaupt und geht dann über zu dem eigentlichen Anlaß, dem Sieg des Rosses Pherenikos, das Hieron, dem König von Syrakus, gehört, dem Sieg des Hieron. Aber dann fängt der Dichter plötzlich an, die Geschichte des Heroen Pelops zu erzählen, des Gründers von Olympia, den Poseidon liebte. Bevor diese Geschichte ausgeführt wird, unterbricht sich Pindar und spricht von Tantalus, dem Vater des Pelops, der die Götter nicht geehrt und der ihre Geschenke mißbraucht hat. Er erzählt, wie ihn die Götter bestraft haben. Danach kommt er auf Pelops zurück und berichtet, wie ihm Poseidon geholfen hat bei seiner Werbung um Hipodameia, wie er von dem Gott einen goldenen
| |
| |
Wagen und geflügelte Rosse erhielt und damit den Sieg und die Braut gewann. Das führt ihn wieder auf die Olympischen Siege und ihre Bedeutung, an die er die Würdigung des Wagensiegs Hierons anknüpft.
Dieser Aufbau gilt, wie wir gesagt haben, für alle Epinikien. Und darüber hinaus. Dornseiff hat in einem Vortrag: Litterarische Verwendungen des Beispiels (Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25), auf den wir noch zurückkommen werden, gesagt, daß alle ‘von Chören gesungenen Kultgedichte, mögen sie nun Paiane, Dithyramben, Epinikien, Hymnen, Parthenien, Proshodien heißen’, diesen Hauptteil mit Erzählung enthalten; er nennt diese Kultgedichte geradezu ‘eine Art Mischung von Kantate und Ballade’.
Was bedeuten nun dieser Tantalus, der den Göttern feind ist, und jener Pelops, dem die Götter helfen, in diesem Zusammenhang? Sind sie nicht auch Personen, die uns bei einem Lebensvorgang zum Bewußtsein bringen, was wir tun und unterlassen sollen, was wir erfahren und nicht erfahren möchten, denen wir also folgen und die uns aufnehmen können, oder umgekehrt? Vergegenständlicht sich in ihnen nicht etwas so, daß es zur Macht wird und daß sie es ihrerseits gewähren? Meint und bedeutet nicht zugleich der Wagensieg des Pelops den Wagensieg selber und jeden folgenden Wagensieg, und sind nicht δίφϱοϚ χϱύσεοϚ und πτεϱοῖσιν ἀχάμαντεϚ ἴπποι - der goldene Wagen und die geflügelten Pferde - die aus einer bestimmten Geistesbeschäftigung verdichteten sprachlichen Gebärden? Steht innerhalb des Kultfestes, das dem Sieg folgte, die Gestalt des Pelops nicht in derselben Weise, wie in dem täglichen Kult des Katholizismus der Heilige? Haben wir in Pelops und Tantalus nicht Heiligen und Antiheiligen und in diesem Hauptteil des Kultliedes nicht Legende und Antilegende? Wenn das alles der Fall ist, so wollen wir lieber nicht mehr diesen Teil ‘Mythus’ oder ‘mythische Erzählung’ nennen, wir wollen ihn hineinsetzen in die Welt, in die er gehört, in die Welt der imitatio.
Dornseiff hat erkannt, daß sich dieser ‘Hauptteil’ nicht auf griechische Kultgedichte beschränkt, daß sich weit darüber
| |
| |
hinaus in Kultgedichten der Ägypter, Babylonier, Inder, der Germanen und vieler Naturvölker ähnliche Teile finden.
Wenn wir im zweiten Merseburger Zauberspruch, der dazu dient, ein lahmes Pferd zu heilen, hören, wie zuerst Phol und Wodan in den Wald reiten, wie sich dann das Füllen des einen den Fuß verrenkt und danach verschiedene Göttinnen mit Wodan zusammen durch Zauberspruch das Pferd heilen, und wie nun damit - da liegt der Übergang - in derselben Weise das beliebige Pferd jedes beliebigen Mannes geheilt werden kann, so befinden wir uns zweifellos in der Welt der imitatio, so sind Phol und Wodan hier Heilige und so ist ihre Geschichte Legende. Das Gleiche gilt für den ägyptischen Arzt, der, wenn er einen Schlangenbiß zu heilen hat, damit anfängt, zu erzählen, wie der Gott Re von einer Schlange gebissen wurde. Mit Recht haben die Assyriologen solche Beschwörungsanfänge mit dem Namen Begründungslegende belegt.
Wenn Virgil sein Epos beginnt ‘arma virumque cano’, dann die Verbindung des trojanischen Helden mit römischem Geschehen dichtet und seine Einleitung mit ‘tantae molis erat romanam condere gentem’ abschließt, so können wir auch hier durch eine ausgesprochene Kunstform hindurch noch Legende sehen.
Aber - eine Geschichte der Legende muß noch geschrieben werden.
| |
| |
| |
X.
Und wie steht es mit der Legende in unserer eigenen Zeit?
Die Geistesbeschäftigung der imitatio ist bei uns gewiß nicht sehr tätig, nicht sehr lebendig; wo wir die Legende sehen, ist sie meist ein traditioneller Überrest aus anderen Zeiten. Und dennoch erinnern wir uns noch einmal an das griechische Siegesfest, und überlegen wir uns, wie wir die Sieger unserer Zeit sehen, ich meine die Sieger im Sport. Was bedeuten uns Rademacher und Peltzer, Nurmi, Suzanne Lenglen, Tilden, Tunney, Dempsey, Schmeling, Vierkötter, Ederle...?
Persönlich sind sie uns gleichgültig, aber sie vertreten etwas, was uns erreichenswert und nachahmenswert erscheint. Nicht Tugend vergegenständlicht sich in ihnen, aber eine Kraft wird in ihnen tätig, in die wir unsere eigene Kraft übertragen, die uns aufnimmt; sie sind imitabile. Und diese tätige Kraft wird wieder meßbar in einer Bestätigung, die wir Rekord nennen - ein merkwürdiges Wort, das sich erst seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu dieser Bedeutung entwickelt hat. Recordari bedeutet sich erinnern, und das englische record ist etwas, was uns an etwas erinnert oder woran wir uns erinnern. Records of the Past sind das, was uns aus der Vergangenheit bleibt und was uns die Vergangenheit zurückbringt. Unser Rekord aber ist nach dem Oxford-Wörterbuch ‘a performance or occurrence remarkable among, or going beyond, others of the same kind’ - eine Definition, die sich fast schon in der Richtung des Wunders bewegt.
Rekord im Sport ist kein Wunder im mittelalterlichen Sinne, aber er bedeutet ein Wunder im Sinne einer Leistung, die bisher noch nicht da war, die unerreichbar und unmöglich schien und die hier eine tätige Kraft bestätigt. Es ist natürlich möglich, daß einer, der vor einem tollen Stier wegläuft, sämtliche 100 m-Rekorde bricht, aber er wird das, selbst
| |
| |
wenn er bei der Gelegenheit zufällig nach der Uhr gesehen hat, nicht als Rekord betrachten, und die Zeitung wird es nicht erwähnen. Von Rekord reden wir erst dann, wenn im Sieger die tätige Kraft Tatsache geworden ist. Nur der Sieger ‘hält’ den Rekord. Wenn 100 m in x Sekunden gelaufen werden, so steht theoretisch der Möglichkeit nichts im Wege, daß sie einer in x minus n Sekunden läuft, aber im sportlichen Sinne wird diese Möglichkeit erst dann anerkannt, wenn sie ein Sieger in x minus n Sekunden gelaufen ist: wenn das Wunder geschehen ist.
Der Rekord kann sich in einen Gegenstand umwandeln, in einen Preis, der abgegeben wird, sobald ein anderer den letzten Rekord gebrochen hat. Dieser Gegenstand ist dem Verein, dem der Sieger angehört, Reliquie. Schließlich fehlt auch das Gewähren nicht, der Sieger schenkt seinem Vereine, seinem Lande den Sieg - es ist keineswegs gleichgültig, wo der Rekord liegt, und auch wer dem Sport fernsteht, empfindet etwas, wenn er hört, daß ein Engländer den Kanal schneller durchschwommen hat als ein Deutscher.
Eine eigentliche Vita besitzt der Sieger im Sport nicht, aber die Einfache Form der Legende liegt vor in jenem Teil der Zeitung, der ausschließlich der Sportberichterstattung gewidmet ist und der stets scharf von anderen Teilen det Zeitung getrennt wird. Die sprachliche Gebärde sieht oft aus wie eine saloppe Sondersprache und dennoch - knock out ist eine sprachliche Gebärde.
Wir haben am Anfang gesagt, daß es gefährlich ist, wenn wir uns mit einer Form in einer bestimmten Prägung allzusehr identifizieren. Und es ist auch, wenn wir die Heiligenlegende des katholischen Abendlandes so deutlich und so scharf umrissen vor uns sehen, nicht ganz leicht zu verstehen, daß die gleiche Geistesbeschäftigung unter dem Sportteil unserer Zeitung liegen kann. Aber auch dort Formen aufzusuchen, wo sie nicht mehr in voller Kraft, wo sie verschüttet sind, Formen zu bestimmen, die nicht mehr ganz ‘litterarisch’ aussehen, ist ein wesentlicher Teil unserer Aufgabe.
|
|